Praxisferne Theorie als Grundlage für unsere Sicherheits-Politik?
Artikel vom 21. Juli 1998
Entgegnung auf den Artikel in der NZZ Nr. 162 vom 16. Juli 1998, Seite 15 „Altbekannte Rezepte mit wissenschaftlicher Begleitmusik – Kritische Anmerkungen zu Christoph Blochers Strategiebericht“
In der NZZ vom 16. Juli 1998, Seite 15, kritisieren Thomas Bernauer und Stefan Brem vom auch für die NATO tätigen Zentrum für Internationale Studien (CIS) an der ETH meine Erkenntnis, dass das Festhalten an der dauernd bewaffneten Neutralität auch in Zukunft ein wichtiger Teil schweizerischer Sicherheitspolitik darstellt. Die beiden Autoren anerkennen, dass sich meine Analyse auf die neueste wissenschaftliche Literatur abstützt, bemängeln aber deren Einseitigkeit und werfen mir vor, dass ich „altbekannte und vorgefasste politische Positionen“ vertrete und mich zu sehr vom „Realismus“ statt vom „Institutionalismus“ leiten lasse.
Institutionalismus: vom Wunschdenken geleitet
Tatsächlich lege ich im Gegensatz zu den erwähnten Hochschulpolitologen in meiner politischen und wirtschaftlichen Tätigkeit das Gewicht entschieden auf den Realismus. Der von Bernauer und Brem bewunderte neue „Institutionalismus“ ist in meiner Arbeit von untergeordneter Bedeutung. Ich meine, gerade in der Sicherheitspolitik seien der Institutionalismus – eine besondere Form des Idealismus – und die Realitätsfremdheit ausgesprochen gefährlich. Wenn es um den Schutz vor Gewalt, um die Abwendung des Bösen und der menschlichen Unberechenbarkeit geht, so sind nicht idealistisches Wunschdenken oder lebensfremder Krisentourismus gefragt. Es ist bekannt, dass in den theoretischen Konstruktionen des Zentrums für Internationale Studien der ETH die Bedeutung der Neutralität ständig herabgespielt wird. Hier darf die Neutralität als an der geschichtlichen Wirklichkeit bewährtes und gewachsenes Element der Sicherheitspolitik keinen Platz haben, da sie der akademisch geschlossenen Welt multinationaler Kooperation und des ewigen Friedens widerspricht. Doch nützt es nichts, das Wort Krieg einfach durch das Wort Frieden, das Wort Macht einfach durch das Wort Institution zu ersetzen. Nur eines war in der Geschichte jederzeit beständiger als die Ankündigung des Endes aller Kriege: der Krieg selber! Weil die Konfliktforscher ihre Erkenntnisse lieber auf Wunschdenken als auf die Realität abstellen, schaffen sie sich ihre eigenen Konflikte: linksliberale oder sozialistische Idealisten, böse Realisten und nun auch noch Institutionalisten liegen sich in den Haaren. Die Wirklichkeit jedoch zieht an solchen akademischen Streitereien vorbei. Die Welt geht ihren eigenen Weg.
Das Bild der Realität
Entgegen aller institutionalistischer Theorie zerschlugen Indien und neuerdings Pakistan eine jahrzehntelange Ordnung der nuklearen Nichtverbreitung. Im Bürgerkrieg des ehemaligen Jugoslawien, gegenwärtig speziell im Kosovo, werden Dörfer zerschossen und Menschen umgebracht. Die Vertreter aller möglicher multinationaler Institutionen reisen und tagen ohne Erfolg. Bisher riefen sie: „Nie wieder Krieg!“ Jetzt heisst es wesentlich kleinlauter: „Nie wieder Bosnien!“ In aller Stille wappnen sich US-Verbündete auf die mögliche nächste Runde zum Schlag gegen Saddam Hussein, dessen Terrorkapazität biologischer und chemischer Waffen sie kaum etwas entgegenzusetzen haben. Bewaffnete Konflikte im Nahen Osten, im Kaukasus, in Zentralasien, in Nordafrika, südlich der Sahara und in Lateinamerika entziehen sich leider allen blauäugigen Schreibtisch-Konstruktionen friedensstiftender Einmischung.
Wirklichkeit der Theorie anpassen?
Die Hochschulpolitologen handeln richtig, wenn sie nach einer idealen Welt suchen. Ihre Theorien mögen im Streit der Praktiker gelegentlich klärend sein. Wenn sie aber Wunsch und Wirklichkeit verwechseln, wenn sie versuchen, die Wirklichkeit der Theorie anzupassen, wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten, sobald man ihnen den Spiegel der eigenen Fachliteratur vorhält, dann sind sie auf dem Holzweg. Die Schweiz als neutraler Kleinstaat muss sich in der realen Welt zurechtfinden. Politologische Methoden und Ansichten kommen und gehen, die Menschen aber ändern sich nur an der Oberfläche. Gewalt im eigenen Land und Informationskrieg mit erpresserisch auftretenden Organisationen aus den USA sind die von unserer Verteidigungspolitik jetzt zu lösenden Probleme. Nicht Interventionismus im Sog anderer ist gefragt, sondern Anpassung an neue Bedrohungen.
Eindrückliche neutralitätspolitische Erfolgsbilanz
Die Gewährleistung der Sicherheit eines Landes ist eine äusserst anspruchsvolle Aufgabe. Sie wird besser erfüllt, wenn man sich an die Realitäten hält. Neben allen theoretischen Überlegungen ist eben auch die Erfahrung bisheriger Verteidigung eine wertvolle Hilfe. So wie der moderne Unternehmer nur Erfolg haben kann, wenn er sich auf die Lebenswirklichkeit und auf die Erfahrung abstützt, so werden wir in der Landesverteidigung erst recht nur Erfolg haben, wenn die Realität und die Lebenszusammenhänge richtig beurteilt werden. Die bewaffnete Neutralität hat zumindest den unbestrittenen Vorteil, dass die Schweiz dank ihr während nunmehr zweihundert Jahren vom Krieg verschont geblieben ist. Keine politologische oder soziologische Theorie kann auch nur im Entferntesten auf eine solche Erfolgsbilanz zurückblicken. Gerade in der auf uns zukommenden Zeit der Ungewissheit und der neuartigen Gefahren brauchen wir neben Weltoffenheit und Bewaffnung als Ausdruck von Selbstbehauptungswillen den Mut zur Selbstbeschränkung auf der weltpolitischen Bühne. Schweizerische Neutralität hat nicht nur Geschichte, sie hat Zukunft.
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