Genug gerechnet, Blocher wählen
Für Sie gelesen: Artikel in der Weltwoche vom 2. Dezember 1999
Der SVP-Volkstribun muss in die Regierung. Nicht nur zwecks Domestizierung. Erproben wir seine Politik. Sie passt zu einer Generation in der Zwickmühle der Modernisierung.
Von Ludwig Hasler
Wohnen wir einem politischen Akt bei, oder sitzen wir in der Arithmetikstunde? Dauernd klimpert der Zählrahmen: SP 51 Nationalratssitze, CVP 35, SVP 44. Reimt sich das zum Verhältnis 2-2-1 im Bundesrat? Nein. Doch die Ständeräte hinzuaddiert, sieht es schon besser aus: 57-50-51. Das bricht zwar der genialste Parteimathematiker nicht auf die Formel 2-2-1, macht aber nichts, er wechselt den Rahmen und zählt die Jahre, die seine Partei auf ihre zwei Regierungssitze hat warten müssen. Überhaupt: Wählt denn das Volk den Bundesrat? Alles korrekt – und daneben. Zählrahmen plus Formelkram machen noch keine Politik. Der springende Punkt ist doch: Christoph Blochers SVP ist zur ersten politischen Kraft avanciert. Soll dieser Erfolg jetzt unter jahrzehntealte Usanzen geraten? Es geht nicht um Regelkonformität. Es geht um Legitimierung der Regierung im Lichte der Wahlen. Und diese Legitimation gelingt, nach Blochers Kandidatur, nur mit Blochers Wahl. Ob er unseren Geschmack trifft, ist nicht die Frage.
Ebenso wenig, ob uns eine Mitte-Rechts-Regierung gefällt. Entscheidend ist einzig die Funktionstauglichkeit unserer Demokratie. Die aber würde mit einem in die Opposition verbannten Blocher arg strapaziert. Ein Blocher, der „draussen“ agiert, wird das Plebiszit radikalisieren, bis die Abstimmungs- demokratie zur Stimmungsdiktatur verkommt. Einen Vorgeschmack gibt die Initiative „Einbürgerungen vors Volk“. Der Volksabsolutismus, der ihm vorschwebt, lebt vom Ressentiment gegen die parlamentarische Demokratie, insgeheim von der Verachtung eines zivilisierten Ausgleichs der Interessen. Der Mythos der kollektiven Volksidentität dient dabei nur als Chimäre einer autoritären Politik, die den Staat privaten Kapitalinteressen gefügig machen will.
Wer nicht riskieren will, dass dieser begabte Populist seine eigene Volksherrschaft organisiert und finanziert, muss ihn in die Verantwortung nehmen. Nur mit Blocher „drinnen“ entschiede sich endlich, was an seinen Parolen mehrheitsfähiges Programm ist – und was landjunkerhaft-absolutistische Überheblichkeit. Zumal seine Parolen im Zeitgeist fruchtbaren Humus finden.
Mit seiner Trilogie der Negation – Ausländer raus, Europa nein, Steuerstaat ade – mobilisiert Blocher nicht nur das letzte Aufgebot der Aktivdienst-Generation. Er dirigiert die grösste Jugendpartei. 27 Prozent der 18- bis 39-jährigen Wähler. Christoph Blocher, die Galionsfigur der Dreissigjährigen? Das ist kein Witz. Die Jüngeren sitzen in der Zwickmühle. In der „Weltwoche“-Umfrage nennen sie als höchsten Wert die Familie; die Realität macht sie zu Einzelkämpfern, die mit Babys am Bein den Flexibilitätserwartungen kaum genügen.
Sie finden Solidarität ganz gut, in der Praxis haben sie mit sich selber genug zu tun. Sie sehen sich politisch in der Mitte, doch mit Ausländern haben sie ein Problem. Sie wollen den Weltfrieden und Eier aus artgerechter Hühnerhaltung, aber bitte ohne Engagement, sie wollen das nur für sich. Wir 55-Jährigen hatten es auch nicht leicht.
Aber die Perspektive war eindeutig: vorwärts, aufwärts. Diese Perspektive ist weg. Die Hochschulen stehen allen offen, doch die Abschlüsse sind zu nichts und allem zu gebrauchen. Die ganze Welt steht herrlich offen, doch was heute zählt, ist morgen vielleicht schon Schrott. Das Leben, ein Flickwerk. Bastelbiografien. Und bei dem Tempo weht ein ziemlicher kühler Wind. Angesichts solcher Modernisierungsstrapazen empfiehlt sich die simple Doppelstrategie: abhärten und aufwärmen. Blochers Rezept! Wirtschaftlicher Neoliberalismus plus gesellschaftlicher Wertekonservativismus. Dazwischen schrumpft der Staat auf ein Minimalpensum: Kriminelle verhaften, Ausländer ausschaffen, Lonza subventionieren. Simpel, doch nicht unlogisch. Wer permanent im Überlebenstraining steckt, kann sich nicht noch um andere kümmern. Wer der Globalisierungsfalle ins Auge sehen muss, mag nicht noch ideologische Restbestände (Political Correctness, Solidarität mit Minderheiten, Toleranz für Graffitisprayer) mitschleppen. Also abhärten, abschotten, Besitzstand wahren, Gewinn maximieren.
Und für die Kälte der Globalkonkurrenz Entschädigung suchen. Am besten bei konservativen Ersatzwärmespendern. Die alten Werte. Die Familie. Die gute alte Schweiz. Das wärmt zwar nicht wirklich, erwärmt schon gar nicht für andere, Fremde. Mehr als der Schein humaner Werteordnung darf es nicht sein. Sonst müsste man sie ja noch in der Praxis befolgen.
Blochers Politik als Offerte für Modernisierungsgeplagte in der Zwickmühle. Es geht nicht allein darum, Christoph Blocher zu domestizieren. Seine Politik muss in der Regierung ihre Chance erhalten. Damit ihre Tauglichkeit, ihre Risiken und Nebenwirkungen offenbar werden.
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