Politkultur im Alpenland
Kolumne für die Zürichsee-Zeitung vom 16. September 2000
von Christoph Blocher, Herrliberg
An einem kalten Wintertag des letzten Jahres fragte mich ein SVP-Kantonalpräsident, ob ich bereit wäre, am 1. September anlässlich des Appenzellerfestes einen öffentlichen Vortrag zu halten. Am liebsten hätte man ein Referat über die politische Kultur. „Politische Kultur? Nein, davon verstehe ich nichts!“. Der Einladende liess jedoch nicht locker. Da der 1. September noch in weiter Ferne lag und ich für die Appenzeller zudem besondere Hochachtung empfinde, sagte ich zu. Das Thema würden wir später bestimmen.
Im Frühling sprach mich einer der Verantwortlichen wieder an: „Wäsch, s’get e chli Chretz wäg ösere Veraschtaltig. Di Obere vom Appezöllerfescht wönd nüd, dass Du chonsch. Sie hönd Schess, dass Du ene d’Lüüt wegnensch.“ Die Zeitungen – so vernahm ich – hätten das Thema bereits aufgenommen, es sei ein grosses Kesseltreiben im Gange. „Dann komme ich nicht“, meinte ich. Das gehe auch wieder nicht, liess man mich wissen, besonders nachdem die Zeitungen bereits ein Politikum daraus gemacht hätten.
Man sei mit dem Festkomitee so verblieben, dass ich zwar willkommen wäre, mein Referat und meine Anwesenheit aber nicht öffentlich ausgeschrieben werden dürfe. Aber schön wäre es, wenn ich ein Grusswort an die Anwesenden richten würde. „Ond“ – so führte mein Kontrapart maliziös bei – „rede chasch denn, solang dass wetsch“.
Der Abend war schön. Drei Politiker dreier verschiedener Parteien sprachen – aufgelockert durch melancholisch-ergreifenden Appenzellerjodel – über politische Kultur. Zum Schluss – als ob eine heimliche Sünde begangen werden müsste – forderte mich dann einer unschuldig auf, doch noch ein „Grusswort“ an die versammelte Gemeinde zu richten. Ich gab mir Mühe, vor allem „Grüssgott“ und „Guten Abend“ zu sagen, erzählte, wie ich eingeladen und halb wieder ausgeladen worden war, weil die „Oberen“ meine Anwesenheit anscheinend als gefährlich betrachteten. Ich führte aus, wie schön es doch sei, in einer direkten Demokratie, einem Land der Freiheit ein offenes Grusswort an die Versammelten richten zu dürfen und vergass nicht, zwischendurch immer wieder „Grüssgott“ zu sagen. Als ich merkte, dass fast ein Vortrag über politische Kultur daraus werden könnte, bekräftigte ich nochmals meinen Gruss und verliess die Bühne – nicht ohne zu erwähnen, dass es sich lediglich um ein Grusswort gehandelt habe.
Ich wunderte mich über den heftigen Applaus. Hatten die Leute verstanden? Sagte ich zwischen den Zeilen mehr über die heutige Politkultur, als der Obrigkeit lieb war?
Erst nachträglich erfuhr ich, dass die SVP-Vertreter das Organisationskomitee nachdrücklich auf die Folgen der Nichtausschreibung hingewiesen hatten: Dann kämen zu wenig Leute, um das Festzelt zu füllen. Sofort erklärte sich das Komitee bereit, Fr. 5’000.- ans Defizit zu bezahlen. Defizitdeckung oder Schweigegeld?
Am Montag berichteten die Zeitungen über das Appenzellerfest. Sie vergassen nicht zu erwähnen, dass Idee und Durchführung des Festes einem honorablen Alt-Ständerat zu verdanken seien. Dieser „liberale“ Politiker hätte gewiss keinen Augenblick gezögert, einen Vortrag über die politische Kultur zu halten und dann dem freien Wort, der Offenheit, der Toleranz und der Achtung vor dem Gegner das Wort zu reden…
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