Hände weg von der AHV
Streitgespräch mit Werner Marti im „Blick“ vom 24. Mai 2003
BLICK: Pascal Couchepin will das AHV-Alter auf 67 erhöhen, ebenso die Mehrwertsteuer, und auch noch die Renten kürzen. Herr Blocher, ist das alles nötig?
Christoph Blocher: „Eine Erhöhung des Rentenalters über 65 ist nicht nötig, wenn endlich das überschüssige Gold der Nationalbank für die AHV genutzt wird. Zudem ist der Anteil der Mehrwertsteuer, der für die AHV bewilligt wurde, auch wirklich der AHV zurückzugeben, statt in die Bundeskasse abzuführen. Es braucht jetzt auch keine neuen Mehrwertsteuer-Prozente. Leistungen müssen nicht gekürzt werden, aber sie dürfen auch nicht ausgebaut werden.“
Werner Marti: „Ich gehe mit Christoph Blocher in einem Punkt einig: kein Leistungsabbau bei der AHV! Im Gegenteil, die heutigen Leistungen brauchen eine Ergänzung. Wir müssen etwas für den flexiblen Altersrücktritt tun.“
Blocher: „Die SP will die Leistung der AHV ausbauen und die Mehrwertsteuern massiv erhöhen. Das bezahlen Junge und Alte.“
Marti: „Halt, halt. Der Nationalrat hat das Mehrwertsteuer-Prozent, das wegen der zunehmenden Zahl älterer Leute nötig ist, schon beschlossen.“
Blocher: „Bevor das Volk nicht Ja gesagt hat, ist nichts beschlossen. Sie haben letzten Sonntag erfahren, wie das Volk reagiert auf höhere Steuern, Abgaben und Kostenexplosion. Die SP hat sieben Mal verloren. Die SVP lehnt die Frühpensionierung mit voller Rente über die AHV ab. Das würde derartige Löcher in die AHV-Rechnung reissen, dass die Leute, die noch schaffen, die Last nicht mehr tragen könnten.“
Marti: „Wir haben doch ein Riesenproblem: Die Leute werden massiv aus dem Arbeitsprozess rausgedrückt. Das Auffangbecken ist dann die IV. Was da abläuft, ist eine Entlastung der Wirtschaft auf Kosten der IV.“
Blocher: „Bei der Invalidität ist der Missbrauch riesig und trifft auch die Pensionskassen. Je höher die Dichte von Psychologen, Psychiatern und Ärzten, desto mehr Invalide gibt es. Es müsste ja gegenteilig sein. Wenn wir hier nicht eingreifen, bekommen wir Zustände wie in Deutschland.“
Marti: „Was sollen die Leute denn tun, die in der Wirtschaft nicht mehr gebraucht werden?“
Blocher: „Grundsätzlich arbeiten bis 65. Wer keine Arbeit findet, dem hilft die Arbeitslosenversicherung, wo nötig die Fürsorge.“
Marti: „Die Leute in die Fürsorge treiben – da demaskiert die SVP ihre Sozialpolitik, Herr Blocher. Wenn die Unternehmen die älteren Leute nicht mehr brauchen und ihnen der flexibilisierte Altersrücktritt verwehrt ist, landen sie bei den Gemeinden.“
Blocher: „Fürsorge ist nichts Unanständiges. Die SP will dauern mehr Staatsausgaben, versaut das Geld und zerstört Wirtschaft und Staat: Auf Kosten des Staates die Kinder erziehen, bis 35 studieren auf Kosten des Staates und dann mit 55 aufhören zu arbeiten auf Kosten derjenigen, die arbeiten.“
Marti: „Ich habe mein Studium mit 24 abgeschlossen. Jeder soll eine anständige Ausbildung erhalten können, unabhängig von seinem Einkommen.“
BLICK: Herr Marti, wie wollen Sie denn den frühzeitigen Altersrücktritt finanzieren? Die SVP hat die Idee mit dem Gold…
Marti: „Wir waren die ersten, die forderten, die überschüssigen Gold-Reserven sollten genutzt werden…“
Blocher: „… 7 Milliarden für die Solidaritätsstiftung verschenken wollten Sie. Stehen Sie dazu!“
Marti: „Wir sind auch der Meinung, dass ein Teil für die AHV verwendet werden sollte. Allerdings geben die Erträge nicht so viel her, wie Herr Blocher uns glauben machen will.“
Blocher: „Die Erträge machen ein halbes Mehrwertsteuer-Prozent aus. Ist das etwa nichts? Sagen Sie, wie Sie Ihre Ausbaupläne finanzieren wollen! Doch mit der Mehrwertsteuer?“
Marti: „Richtig, mit der Mehrwertsteuer.“
Blocher: „Sie haben für die AHV und IV eine Mehrwertsteuer-Erhöhung von über drei Prozent beschlossen. Das sind über sechs Milliarden. Wissen Sie, was die zusätzlichen Prozente für eine Familie mit einem Warenkorb von 50 000 Franken bedeuten? 1500 Franken im Jahr.“
Marti: „Ich habe das sehr genau ausgerechnet. Es macht 1200 Franken aus, weil nämlich nicht alles der Mehrwertsteuer unterliegt. Wenn Ihnen die unteren Einkommensschichten so sehr am Herzen liegen, sollten Sie nicht grosszügige Steuergeschenke an Top-Verdiener verteilen.“
Blocher: „Ist die Revision der Familienbesteuerung ein Geschenk?“
Marti: „Die Revision der Familienbesteuerung, die Sie befürworten, bringt unteren und mittleren Einkommenschichten praktisch keine Entlastung. Wer aber 300 000 Franken verdient, müsste in Zukunft 6500 Franken weniger Steuern bezahlen.“
Blocher: „Alle, die Steuern bezahlen, profitieren. Wer ohnehin keine bezahlt, nicht.“
BLICK: Kommen wir zur 2. Säule. Wer ist schuld am Schlamassel?
Marti: „Wir waren immer für eine starke AHV. Die Bürgerlichen drückten die 2. Säule durch und verdonnerten damit die Leute zu einem übermässigen Zwangssparen. Das Sparkapital ist im Börsencrash zu einem guten Teil pulverisiert worden.“
Blocher: „Die 2. Säule ist etwas Gutes, sie müsste nicht obligatorisch sein. Obligatorien will die SP, nicht die SVP. Die Idee der SVP ist: Alle Pensionskassen sollten zu voller Transparenz verpflichtet werden. Zweitens sollte volle Freizügigkeit herrschen. Das heisst, jedermann kann die Pensionskasse wählen, die er will. Dann ginge man zu jener Pensionskasse mit der besten Rendite. Mindestzinse braucht es dann nicht mehr.“
Marti: „Die Bürokratie, die bereits heute grassiert, würde noch vollends ausufern. Zudem sehen wir heute bei den Krankenkassen, wohin das ständige Wechseln führt: zu nichts. Wenn eine Kasse günstig ist, wird sie überschwemmt und muss die Prämien erhöhen.“
BLICK: Couchepin will zur Sanierung defizitärer Kassen auch laufende Renten kürzen. Einverstanden?
Blocher: „Wenn es bei einer Pensionskasse in den guten Jahren Überschüsse gab, die Rentner davon aber nichts hatten, bin ich dagegen. Wo auch die Rentner begünstigt wurden, muss es geschehen, sonst kommen die Mitarbeiter zu kurz.“
Marti: „Die Kürzung bei den Renten kommt nur dort in Frage, wo die Betroffenen vorher von den guten Ergebnissen profitiert haben.“
BLICK: Die Schweizer Wirtschaft steckt in der Krise. Wir haben eine Rezession und Arbeitslosigkeit. Was können wir dagegen machen?
Marti: „Wir haben faktisch ein Nullwachstum…“
Blocher: „Schon lange. Weil wir in den letzten 10 Jahren die Zwangsabgaben an den Staat erhöhten wie kein anderes Land.“
Marti: „Hören Sie auf damit. Reden wir von den wirklichen Problemen. Der Dollar wird schwächer und schwächer. Europa hockt auf einem relativ starken Euro. Wenn das so weitergeht, muss die Nationalbank den Franken gegenüber dem Dollar und dem Euro abschwächen. Sonst wird der Export noch viel schlimmer leiden.“
BLICK: Kann die Nationalbank den Franken gegenüber dem Dollar abwerten?
Marti: „Das kann sie.“
Blocher: „Mit enorm grossen Risiken.“
Marti: „Da haben Sie Ihre Meinung geändert. Früher propagierten Sie ja immer einen möglichst starken Franken, der uns massiv geschwächt hat. Glücklicherweise hat bei der Nationalbank ein gewisses Umdenken stattgefunden.“
Blocher:“Ich bin auch heute noch für einen starken Franken. Nur ein Dummkopf kann eine schwache Landeswährung wollen. Die Inflationsgefahr ist gering. Die Nationalbank kann die Geldmenge etwas erhöhen, aber der Zinssatz ist schon bald bei Null. Doch mit dem rettet man die Wirtschaft nicht.“
BLICK: Ist die Währung das Einzige,was Ihnen einfällt?
Marti: „Nein. Wenn es bis im Herbst nicht besser wird, braucht es staatliche Investitionsprogramme. Sonst wird es brutal für den Binnenmarkt, zumal auch Kantone und Gemeinden als wichtige Investoren ihre Budgets kürzen.“
Blocher: „Geld ausgeben sind stets die Rezepte der SP.“
BLICK: Wie wollen Sie denn der Wirtschaft helfen?
Blocher: „Erstens, indem der Staat den Leuten nicht immer mehr wegnimmt. Dann können sie mehr kaufen und dann wird mehr investiert und produziert. Darum stehen Steuersenkungen im Vordergrund – und nicht Mehrwertsteuer- und Abgabenerhöhungen an allen Ecken und Enden. Zweitens müssen die bürokratischen Behinderungen aufhören, die in Bern unter Führung der SP von der Rot-Grün-Mitte-Koalition ständig beschlossen werden.“
Marti: Sie wollen mit Steuersenkungen den Konsum ankurbeln. Wo wollen Sie die Steuern senken? Bei den Reichen und Grossverdienern. Wer ein halbe Million und mehr verdient, konsumiert schon jetzt, was er konsumieren kann. Wenn man effektiv mehr Kaufkraft schaffen will, muss man die Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen entlasten. Die werden permanent mehr belastet. Allein die steigenden Krankenkassenprämien fressen die Lohnerhöhungen weg, wenn sie überhaupt noch eine bekommen.“
Blocher:“Wer hat uns die steigenden Krankenkassenprämien eingebrockt? Die Rot-Grüne-Mitte-Koalition gegen die SVP. Sie haben das Krankenversicherungsgesetz durchgeboxt und den Katalog ausgebaut, dass man die Prämien nicht mehr zahlen kann.“
Marti: „Hören Sie auf damit. Wenn wir mit Ihnen den Leistungskatalog durchgehen, bleibt am Schluss immer nur die Heroinabgabe übrig. Das sind im 40-Milliarden-Markt des Gesundheitswesens Peanuts. Die grossen Kostenverursacher sind die Medikamente, die Spitäler und die Ärzte.“
BLICK: Alle sagen, die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sind das Rückgrat unserer Wirtschaft. Wie kann man den KMUs bei der Finanzierung helfen?
Blocher: „Die brauchen keine aktive Hilfe. Aber der Staat darf sie nicht dauernd schröpfen.“
Marti: „Die Banken lassen die KMUs doch hängen.“
Blocher: „Das ist ein ernsthaftes Problem. In den letzten Jahren haben die beiden Grossbanken weniger Kredit gewährt. Sie haben auch enorm viel Geld verloren, weil sie zu lange Kredite gaben. Aber die Kreditversorgung ist im Moment nicht so prekär, dass der Staat eingreifen muss.“
Marti: „Die Grossbanken haben die KMUs systematisch nach Branchen und Regionen ausgesiebt. Das hat zu den grossen Kreditproblemen geführt. Die Kantonalbanken, das heisst die Staatsbanken, mussten einspringen. Die sitzen jetzt vor allem in den Randregionen auf Klumpenrisiken. Darum braucht es zusätzliche Player wie die Postbank.“
Blocher: „Wenn die Postbank in die KMU-Finanzierung einsteigt, was sie nicht kann, geht sie Pleite. Und wer zahlt das? Wieder die Bürger mit höheren Posttaxen und der Steuerzahler als Eigentümer.“
BLICK: Herr Blocher, Sie propagiern unter dem Titel „Mitenand gahts schlächter“ eine neue Politik. Wieso sagen Sie das?
Blocher: „Die Verfilzung von Politik und Wirtschaft – Sauhäfeli, Saudeckeli – ist ein Skandal. Zuerst macht man Pleite mit der Swissair, wo die Freisinnigen den Ton angaben. Nachher macht man die Swiss. Die Wortführer waren die Sozialdemokraten. Jetzt ist der Bund mit 20 Prozent grösster Aktionär. Die Steuerzahler verlieren 2,7 Milliarden. Die Verantwortung trägt niemand – weder die Privatwirtschaft noch der Staat. Verantwortung ist aber unteilbar.“
Marti: „Ihr Problem ist, dass Sie nicht bereit sind, Lösungen zu finden. Darum machen Sie ständig den Konsens schlecht. Er ist nicht partout schlecht, er muss aber transparent sein. Wir sollten im Parlament wie in der Formel 1 in farbigen Overalls mit entsprechenden Aufschriften auftreten. Bei mir würde drauf stehen: Sozialdemokrat; vertritt gewerkschaftliche Anliegen; ist Preisüberwacher. Bei Ihnen müsste draufstehen: SVP; Pharmainteressen; Grosskapital.“
Blocher: „Soll ich mit 3000 Mitarbeitern ein armer Schlucker sein? Die SVP will andere Lösungen: Wer ist angetreten bei der Swissair-Pleite, wer ist angetreten gegen das Grosskapital bei der Swiss? Die SP wollte eine Fluggesellschaft machen. Sie Herr Marti zuvorderst.“
Marti: „Bei der Swissair hätten wird es uns auch leicht machen und auf die Freisinnigen einprügeln können. Die haben ja das Ganze zu Boden gefahren. Aber wir konnten nicht, weil damit in der Region Zürich bis 40 000 Arbeitsplätze zerstört worden wären. Sie hätten den Verlust der Arbeitsplätze in Kauf genommen. Dafür sind wir das Risiko der Swiss-Lancierung eingegangen.“
Blocher: „Die Bürger verlieren 2,7 Milliarden, nicht die SP, und die Mitarbeiter der Swiss werden jetzt trotzdem entlassen. Das ist Ihre Wirtschaftspolitik.“
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