Die Zürcher Freiheitsrede: Ein Versuch, sich Winston Churchills Charakter zu nähern

Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Churchill-Symposiums vom 16. September 2004 in Zürich

16.09.2004, Zürich

Es gilt das gesprochene Wort

Herr Staatspräsident Kwasniewski
Liebe Gäste aus Polen
Meine Damen und Herren

Es ist ein symbolträchtiges Zusammentreffen, wenn sich heute Polens Staatspräsident und ein Vertreter der Schweizer Regierung hier in Zürich begegnen, um an den grossen Engländer Churchill zu erinnern.
Die historischen Verflechtungen lassen niemanden ungerührt: Unmittelbar nach dem Warschauer Aufstand, am 5. Oktober 1944, sprach Churchill die Bedeutung dieses heroischen Kampfes aus: „Es wird eine unvergängliche Erinnerung der Polen und der Freunde der Freiheit in aller Welt sein.“ In den 80er Jahren war es wiederum Polen, das den entscheidenden Freiheitskampf führte und damit der Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten in Osteuropa Auftrieb verlieh.

Churchill begegnete auch der Schweiz mit grösster Sympathie, besonders wegen ihrer aussenpolitischen Zurückhaltung. Er anerkannte, dass unser Land gerade dank der dauernd bewaffneten Neutralität vom Krieg verschont blieb und mit ihm mehr als 10’000 polnische Soldaten, die hier ab 1940 Zuflucht gefunden hatten.

Churchills Widersprüchlichkeit und sein historisches Denken

Churchills Wirken für ein freies Europa ist allgemein anerkannt – weit weniger aber seine Person und sein Charakter. Als ob sich Taten von einer Persönlichkeit trennen liessen, machen viele einen vorsichtigen Bogen um die komplexe Gestalt Churchills.

Winston Churchill ist der einzige Politiker von Weltrang, der je den Nobelpreis erhalten hat – nicht etwa für Friedensbemühungen, was bei Staatsmännern üblich ist – sondern für Literatur. Und zwar für seine mehrbändige Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die 1953 – im Todesjahr Stalins – erschienen ist.

Seine Autobiographie, 30 Bände stark – identisch mit der Weltgeschichte des halben Jahrhunderts und zweier erdballbewegender Kriege – runden dieses literarische Schaffen ab. Und all dies schrieb der gleiche Churchill, der Jahre zuvor noch erklärte: „Ich bin kein Journalist, der über Ereignisse schreibt, ich mache Ereignisse, über die Journalisten berichten.“

Hier zeigt sich eines: Die kantige Widersprüchlichkeit Churchills. Genau diese fasziniert. Denn widersprüchliche Menschen entwickeln ein positives Verhältnis zur Kritik. In ihrer Brust führen mindestens zwei Seelen eine dauernde Auseinandersetzung, was ihre Entscheide und ihre Sicherheit nach aussen stärkt.

Diese Widersprüchlichkeit paarte sich bei Churchill mit einem ausgesprochen konservativen Temperament, das im historischen Denken selbst gründete. Dieses Denken immunisierte ihn gegen alle totalitären oder utopischen Versuchungen der Zeit. Ohne seine innere Kritikfähigkeit, ohne sein geschichtliches Verständnis wäre Churchills Leistung kaum denkbar.

Vorbild

Churchill war ein Politiker mit der Fähigkeit zur schonungslosen Analyse und einer fast beängstigenden Weitsicht: Schon 1933, kurz nach dem Machtantritt Hitlers, redete er illusionslos über die aufziehende Gefahr des Nationalsozialismus. Er nannte diese Bedrohung zu einer Zeit beim Namen, als sie kaum jemand wahr haben mochte.

Mit seinen Kassandra-Reden schreckte er regelmässig und unbeirrbar Englands Politiker auf, predigte den Widerstand, warnte vor der nazistischen Expansionslust. Mit wenig Erfolg. Noch schlimmer: mit gegenteiligem Erfolg. Er gilt damals als anachronistischer Querulant. Das Parlament lässt seine Reden stoisch über sich ergehen, sofern die Abgeordneten überhaupt im Saal verbleiben. Man wirft ihm schliesslich Populismus vor, um so alle Mahnungen in den Wind zu schlagen.

Der gefeierte Mann der Stunde ist Chamberlain und dessen Appeasement-Politik. Nach dem Münchner Abkommen lässt sich der Rückkehrer Chamberlain von allen als Friedensretter bejubeln (Peace for our time), während Churchill einsam von einer „vollständigen Niederlage“ (total and unmitigated defeat) spricht und anfügt, dass es besser sei, genau zu sagen, „was wir über öffentliche Angelegenheiten denken“, und dass jetzt sicherlich nicht die Zeit sei, „in der es irgend jemandem anstünde, um politische Popularität zu werben“. Davon mochte freilich niemand etwas hören. Der Zeitgeist scheute sich, der hässlichen Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. So wie sich der Zeitgeist immer scheut, die unangenehmen Dinge zu sehen, geschweige denn zu benennen.

Mann der Stunde und seine Abwahl

Erst als buchstäblich jedes Wort eintraf, das Churchill über München und seine Folgen vorausgesagt hatte, wurde er – dieser gescholtene Querulant und Einzelgänger – 1940 in der grössten Not zum Kriegspremier gemacht. Erst jetzt – unter dem Druck der Not und leider sehr spät – war man bereit, die Wirklichkeit zu hören.

Angesichts des entfesselten Hitlers sprach der mutige Realist wiederum nur die Wirklichkeit ungeschminkt aus! Er versprach bei seiner Antrittsrede seinem Volk Blut, Schweiss, Tränen und Mühsal. Doch diesmal fand er dank seiner Glaubwürdigkeit und trotz der bitteren Worte sogar Zustimmung. Glaubwürdigkeit hat eben viel mit Realitätssinn zu tun.

Aber 1945 – der Krieg war gewonnen – wählte das britische Volk seinen Helden ab. Die Sehnsucht nach endgültigem Frieden war im Volk nach dem Krieg begreiflicherweise stark und Churchills Opposition nährte diese Friedenssehnsucht nach Kräften und verhiess Ruhe und Versöhnung. Hätte es Churchill auch getan – er wäre spielend wiedergewählt worden.
Doch er handelte anders: Trotz heftiger Bedenken seiner eigenen Partei weigerte er sich, in diese Schalmeienklänge einzustimmen. Er warnte kurz nach der Kapitulation Deutschlands prophetisch vor einer neuen Tyrannei, nämlich dem drohenden Polizeistaat im Osten. „They would have to fall back on some form of Gestapo.“ (BBC, 4. Juni 1945), prophezeite er nicht einmal einen Monat nach dem Kriegsende.

Heute, bald 60 Jahre nach diesen Worten, wissen wir, wie berechtigt auch hier seine Weitsicht war.
Churchills Charaktergrösse und seine Verpflichtung zur Sache wird noch sichtbarer durch diese Abwahl.

Die Nachkriegsjahre

Doch der 71jährige, abgewählte Energiemensch wollte nichts von Ruhestand wissen. Kaum abgewählt, arbeitete er von der ersten Stunde an auf seine Rückkehr ins höchste Amt hin, was ihm 1951 auch gelang. Daneben tat er, was er immer getan hatte: er schrieb und hielt Reden.

Wie er vor seinem Rücktritt 1944 für ein unabhängiges Polen kämpfte, prägte er nach seinem Rücktritt 1946 in Fulton das berühmte Wort vom „Eisernen Vorhang“. Er sprach auch hier aus, was wohl viele dachten, aber nicht zu sagen wagten: „Das sind die betrübenden Tatsachen am Morgen nach einem Sieg, der in so herrlicher Waffenbrüderschaft und im Dienste von Freiheit und Demokratie errungen wurde.“ (Fulton, 5. März 1946) Ein grosser Teil Europas sollte erneut einem totalitären Regime zufallen.

Churchill in der Schweiz

Im gleichen Jahr nahm Churchill die Einladung einer Gruppe schweizerischer Unternehmer an und verbrachte einen Monat in unserem Land. Domizil bot das malerische Bursinel oberhalb des Lac Léman.

Erst gegen Ende seines Aufenthalts folgte ein offizielles Besuchs-programm, das ihn auch nach Bern führte. Tausende Schweizer bereiteten ihm – dem abgewählten Premier – auf seiner Fahrt begeisterte Empfänge.

Auf der Freitreppe des Berner Rathauses hielt er eine kurze Ansprache an das Volk. In spontanen Worten erklärte Churchill den Zuhörern, dass er nicht als Feind irgendeines Landes in den Krieg gezogen sei, auch nicht als Feind Deutschlands, sondern einzig und allein gegen die Tyrannei. Oder eben für die Freiheit aller.

Das offizielle London beobachtete zunehmend nervös Churchills Redetour und liess über das Foreign Office knapp verlauten, seine Reden nicht kommentieren zu wollen. Die Erklärungen des ehemaligen Premiers seien jedenfalls streng privater Natur und für die britische Regierung in keiner Weise verbindlich. (Solche Distanzierungen kommen uns ja nicht unbekannt vor.)

Zürcher Rede

Am 19. September 1946 sprach Churchill dann in Zürich. Seine Rede wurde seither oft zitiert und noch öfter missverstanden. Unbestritten dürfte sein, dass Churchill darin Freiheit, Demokratie und Sicherheit für Europa forderte. Also Volksherrschaft im Innern und Selbstbestimmung nach aussen.

Er verweist in seiner Ansprache ausdrücklich auf die vier Freiheiten Roosevelts aus dem Jahre 1941 und die Atlantik-Charta, worin der amerikanische Präsident und er selber ihre Grundsätze für die Nachkriegspolitik festhielten:

– Freiheit der Rede, das heisst freie Meinungsäusserung
– Religionsfreiheit
– freie Weltwirtschaft, freie Meere
– und das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Weitblickend führt er einen Satz an, der typischerweise selten zitiert wird: „Ich will nicht versuchen, ein detailliertes Programm für Hunderte von Millionen Menschen zu entwerfen, die jene vier Freiheiten [.] geniessen wollen“.

Spüren Sie wieder seinen Weitblick? Er warnt bereits davor, Politiker könnten einst versucht sein, unter Anrufung der Freiheit und eines „visionären“ Europas diese Freiheit zu programmieren, zu legiferieren und so einzuschränken. Auch hier müssen wir heute anerkennen, wie klar der Brite die Zukunft erfasste.

Europa

Was meinte Churchill mit Europa? Es gilt zu bedenken, dass dieser Aristokrat und Politiker in seinem Denken immer ein Mann des 19. Jahrhunderts und insofern auch Anhänger des britischen Imperiums geblieben ist. Was er auch nach 1945 anstrebte, war ein von Grossbritannien tariertes Gleichgewicht zwischen den europäischen Kontinentalmächten.

Folglich will er auch keine französische Dominanz, fordert schon 1946 einen „Akt des Vergessens“ und Versöhnung mit Deutschland: „Ohne ein geistig grosses Frankreich und ein geistig grosses Deutschland kann Europa nicht wieder aufleben.“ Vor allem wäre es zu wenig robust gegen die „fünften Kolonnen“ Moskaus. Mit Europa meinte er den Kontinent: Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten, Italien, wen auch immer – nur nicht Grossbritannien.

Sein Land, aber auch das „mächtige Amerika“, sah er in der Rolle eines „Freundes und Förderers dieses neuen Europa“. Die immer noch lebendigen imperialen Sehnsüchte stillte er woanders: „Wir Briten haben unser eigenes Commonwealth.“

Churchill wünschte sich hier in Zürich, dass Europa „so frei und glücklich“ werde wie die Schweiz. Diese „freie und glückliche“ Schweiz hat für sich entschieden, einen anderen, eigenständigen Weg in Europa zu gehen, anders als die meisten anderen Staaten. Das gilt es zu respektieren. Vor allem von denen, die an die gemeinsamen Ideale Churchills appellieren, für die er sich mit seiner ganzen Schaffenskraft politisch und schriftstellerisch eingesetzt hat. Sein Verhältnis zu Europa fasst er in seinen letzten Lebensjahren wie folgt zusammen:

„But we have our own dream
and our own task.
We are with Europe, but not of it.
We are linked, but not combined.
We are interested and associated,
But not absorbed.“
(Winston Churchill)

England hat also seinen eigenen Traum, seine eigene Aufgabe: Es fühlt sich Europa zugetan. Nur vereinnahmen, aufsaugen lassen, muss es sich deswegen nicht.

Auf diese Worte Churchills verweise ich als Schweizer gerne, besonders in Erinnerung an die Zürcher Freiheitsrede. Ihnen, Herr Staatspräsident, mag dieses Churchill-Wort am Ende Ihres zweitägigen Staatsbesuches die Schweiz besser erklären helfen.

Londoner Times

Mit heute selten gewordener Klarsicht kommentierte damals die Londoner Times Churchills Zürcher-Rede: „Die Schweiz war ein besonders geeigneter Ort, um die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa zu erheben […] Jedoch hat sich die Schweiz, indem sie sich an ihre Neutralität als ihren besten Schutz klammert, bisher von allen Staaten Europas am wenigsten bereit erwiesen – und die Geschichte rechtfertigt ihre Weisheit – zu einer Einigung mit ihren Nachbarn in einem gemeinsamen Unternehmen. Das lehrt uns, dass, wenn die Vereinigten Staaten von Europa Churchills jemals Wirklichkeit werden sollten, die Schweiz kaum eine Mitgründerin dieser Union sein wird.“ In der Tat: Sie war weder Mitgründerin, noch ist sie heute Mitglied der Union.

Kein einfacher Charakter

Churchill war mit Sicherheit kein einfacher Charakter, oft auch kein angenehmer. Aber Leute, die Wohlanständigkeit als wichtigste Charaktereigenschaft vor sich hertragen, haben die Welt noch nie weiter gebracht. Sein Handeln und Denken wird nur auf dem Hintergrund dieses komplexen Charakters sichtbar. Seine innere Widersprüchlichkeit, der ungeschminkte Realitätssinn, seine positive Kraft der Sturheit und die manchmal fast kindliche Provokationslust waren dazu Voraussetzung.

Die „Guten“ wollten damals alle den Frieden mit Hitler und bekamen den totalen Krieg. Die Freiheit für Europa rettete das „Monster“, wie ihn seine Gegner schimpften: Der von den Wohlanständigen geächtete Winston Churchill. Zum Wohle aller hat er es getan, nicht zuletzt auch zum Wohle der Wohlanständigen.

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