«Angstmacherei? Soll ich die negativen Folgen totschweigen?»

Justizminister Blocher über schlaflose Nächte, den Rüffel von Bundespräsident Deiss und die Folgen der Personenfreizügigkeit.

26.12.2004, Sonnntags Blick (Patrik Müller und Hubert Moser)

Herr Bundesrat, Joseph Deiss und der Gesamtbundesrat haben Sie gerügt, weil Sie das Personal schlecht gemacht haben. Was sagen Sie dazu?

Das Personal wurde nicht schlecht gemacht, aber Mängel in der Verwaltung genannt, die durch die Führung ausgemerzt werden müssen: fehlende Bürgernähe, mangelnder Realitätssinn, zu geringe Flexibilität und überdotierung. Es gilt auch Doppelspurigkeiten zu beseitigen. Eine Mentalitätsveränderung halte ich für unausweichlich.

Der Personalverband hat mitgeteilt, die Angestellten fühlten sich von Ihnen desavouiert.

Leider hat der Verband nicht zugehört. Es geht um Abläufe, Organisation, Führung. Darum werden in der nächsten Jahreshälfte alle Stabsfunktionen in meinem Departement genau unter die Lupe genommen. Ich will wissen, wo Kostensenkungen und Leistungssteigerungen möglich sind. Vor allem aber will ich das Bewusstsein für Eigenwirtschaftlichkeit und Kosten in jeder Einheit meines Departements stärken und erhöhen.

Bis jetzt hat die SVP vor allem mit Asylthemen Stimmung gemacht. Sind nun die Beamten die neue Zielscheibe?
Nicht die SVP, sondern ich als Bundesrat durchleuchte die Verwaltung. Weil es nötig ist.

Vor einem Jahr sagten Sie in der „Weltwoche“, in der Verwaltung könne man 30 Prozent der Kosten sparen. Glauben Sie noch immer, jeder dritte Beamte sei überflüssig?
Ich habe von Kosten gesprochen, nicht von Beamtenstellen. 30 Prozent Kostensenkung halte ich nach wie vor für realistisch. Ich arbeite in meinem Departement auf dieses Ziel hin und hoffe, dass ich es in vier Jahren erreiche. Allerdings muss dies durch die Bundesverwaltungsreform begleitet sein.

Hier spricht Unternehmer Blocher. Welcher Job gefällt Ihnen eigentlich besser, Unternehmer oder Bundesrat?
Unternehmer zu sein war natürlich faszinierender. Ich hatte mehr Bewegungsspielraum und konnte unmittelbar etwas bewirken. Aber die Tätigkeit war auch belastender. Heute habe ich während der Nacht nicht mehr so viele Angstträume.

Sie schlafen besser, seit Sie Bundesrat sind?
Ja. Früher hatte ich manche schlaflose Nacht, weil die Verantwortung drückte. Ich wusste: Ein falscher Entscheid, und 3000 Mitarbeiter verlieren ihre Stelle und das Unternehmen geht zugrunde.

Hat ein Bundesrat weniger Verantwortung als ein Unternehmer?
Nein. Aber ich spüre, dass nicht mehr die ganze Verantwortung auf meinen Schultern lastet. Im Staat sind die Entscheidungen breiter abgestützt. Der Entscheid eines Einzelnen hat nicht so weitreichende Folgen wie in einem Unternehmen. Macht einer eine Dummheit, gibt es meist mehrere Instanzen, die den Fehler wieder korrigieren können. Und Fehlentscheide bezahlen die Steuerzahler – leider. Aber es kommt auch heute vor, dass ich schlecht schlafe.

Wann?
Die grossen Probleme unseres Landes lassen mich manchmal nicht schlafen. Dann hinterfrage ich plötzlich alles – ganz grundsätzlich.

Wie stark beschäftigt Sie die Ems-Chemie heute? Führen Sie die Firma am Sonntag vom Familientisch aus?
Nein, ich habe das Unternehmen abgegeben. Fertig. Es gibt auch keinen Familientisch, an dem ich das besprechen könnte. Meine Tochter und mein Sohn wohnen nicht bei uns. Klar, wenn sie mit ihren Familien zu Besuch sind, höre ich gern zu, was sie so zu erzählen haben.

Wir nehmen Ihnen nicht ab, dass Sie bloss Grossvater spielen.
Aber es ist so. In der wenigen Zeit kümmere ich mich lieber um die Enkel. Wenn Sie die Firma abgeben, müssen Sie das ganz tun.

Im DOK-Film auf SF DRS traten Sie und Ihre Frau wie ein Königspaar auf und präsentierten Ihren Reichtum. Das ist unschweizerisch.
Der Film zeigt wie wir leben und sind. Ich habe nichts zu verstecken. Meine Waffe ist die Transparenz. Das wird gerade vom Publikum geschätzt, das zeigen die Reaktionen. Klar melden sich auch Neider. Es sind solche, die ebenfalls vermögend sind – deren Villa aber zwei Zimmer weniger hat.

Im Film haben Sie gesagt, der Schweiz gehe es schlechter als vor zehn Jahren. Wie haben Sie das gemeint?
Die Staatsschulden sind explodiert, die Wettbewerbsfähigkeit hat sich verschlechtert, und die Wirtschaft, die unsere Lebensgrundlage ist, wächst nicht mehr. Diese Entwicklung ist beunruhigend, auch wenn die Bürger davon nichts direkt spüren. Noch nicht. Die Schweiz verliert nach und nach ihre Stärken. Ich bin pessimistisch für den Standort Schweiz. Wenn die Politik sich nicht ändert.

Vor zwölf Jahren hat das Stimmvolk den EWR-Vertrag abgelehnt. Sie versprachen damals, die Schweiz werde im Alleingang wirtschaftlich erfolgreich sein. Da haben Sie sich geirrt.
Dank der Ablehnung des EWR gehört die Schweiz immer noch zur Spitzengruppe. Die schlechte Entwicklung in den letzten zehn Jahren hat mit dem EWR-Nein nichts zu tun. Sondern mit der Politik: Wir haben Steuern und Abgaben erhöht, mehr als jedes andere Industrieland. Und die Regulierung hat noch zugenommen.

Das tönt wie die übliche neoliberale Leier. Tatsache ist doch: In der EU wächst der Wohlstand, bei uns herrscht Stagnation.
Die meisten EU-Länder haben ein wesentlich tieferes Wohlstandsniveau. Da ist Wachstum einfacher. Gerade die neuen EU-Länder machen vieles richtig: tiefe Steuern, wenig Regulierung. österreich wiederum wächst vor allem dank des Ostmarktes. Glauben Sie, die Schweizer Wirtschaft würde wachsen, wenn wir in der EU wären? Das Gegenteil wäre der Fall. Wir müssten Milliarden nach Brüssel zahlen, den Schweizer Franken aufgeben, das Bankgeheimnis abschaffen, die Mehrwertsteuer verdoppeln.

Der Bundesrat will die Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder ausdehnen. Sie haben vor dem Nationalrat erklärt, die Arbeitslosigkeit in der Schweiz werde „tendenziell auf europäisches Niveau“ steigen. War das ein Versprecher?
Nein, warum?

Europäisches Niveau heisst zehn Prozent Arbeitslose! Wir haben heute vier Prozent.
Es ist doch logisch, dass wir mehr Arbeitslose haben werden, wenn man das Arbeitskräfteangebot vergrössert und nicht gleichzeitig mehr Stellen schaffen kann. Das muss man im Auge behalten. Schon heute haben wir gewisse Probleme wegen der Personenfreizügigkeitist mit den alten 15 EU-Ländern: Die Arbeitslosigkeit nicht sinkt, trotz konjunktureller Erholung.

Wenn Sie mit zehn Prozent Arbeitslosigkeit drohen, torpedieren Sie die bundesrätliche Vorlage. Mit dieser Angstmacherei fallen Sie Ihren Kollegen in den Rücken.
Die zehn Prozent haben Sie genannt. Aber: Was heisst Angstmacherei? Soll ich die negativen Folgen, die auf der Hand liegen, totschweigen? Als Bundesrat will ich die Vor- und Nachteile einer Vorlage aufzeigen. Dass die Unternehmen und die Volkswirtschaft gewichtige Vorteile haben, wenn wir die Personenfreizügigkeit ausweiten, ist doch unbestritten. Mehr Arbeitnehmer bedeutet: grössere Auswahl, höhere Qualität, günstigere Saläre. Das sind Vorteile für die Wirtschaft.

Die Nachteile werden doch verhindert, indem die Schweiz den Arbeitsmarkt schrittweise öffnet und flankierende Massnahmen gegen Lohndumping erlässt.
Die übergangsregelung dämpft den Zustrom, aber nur bis 2011. Die flankierenden Massnahmen helfen auch – aber sie regulieren dafür den Arbeitsmarkt zum Nachteil der Wirtschaft.

Nochmals: Sie gefährden mit Ihrer Argumentation die Freizügigkeitsvorlage. Ein Nein wäre verheerend, dann könnte die EU die Bilateralen I kündigen.
Eine ehrliche, nüchterne Betrachtung kann eine gute Vorlage nicht gefährden. Bei einem Nein wäre tatsächlich eine schwierige Situation zu überwinden. Die EU und die Schweiz können die Verträge schon jetzt jederzeit kündigen. Aber weder die EU noch die Schweiz haben ein Interesse daran. Lassen Sie die Stimmbürger abwägen.

Werden Sie sich im neuen Jahr wieder so stark in andere Departemente einmischen?
Ich mische mich nicht ein. Im Bundesrat trage ich Gesamtverantwortung und dafür setze ich 50 Prozent meiner Zeit ein.

Sind Sie mit dem Justizdepartement unterbeschäftigt?
Ich habe zwei Aufträge: Die Gesamtverantwortung in der Regierung wahrnehmen und mein Departement führen. Ich mache das zu je 50 Prozent. Für die Bundesratssitzung vom letzten Mittwoch habe ich sechs Mitberichte verfasst. Keiner ist länger als eine Seite. In diesem Sinne werde ich auch im kommenden Jahr weiterarbeiten.

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