Was die Kirche macht, ist heuchlerischer Moralismus
Christoph Blocher (64) erklärt im SonntagsBlick-lnterview, warum er wegen des scharfen Asylgesetzes kein schlechtes Gewissen hat, was seine Mutter besser als die Kirche machte und weshalb der Bundesrat der EU einen Brief schreiben soll.
02.10.2005, SonntagsBlick (Christian Dorer und Patrik Müller)
Herr Bundesrat, wie viele Menschen leben in Afrika?
Viele hundert Millionen.
900 Millionen. Halb Afrika komme in die Schweiz, wenn wir unser Gesetz nicht verschärfen, sagten Sie im Nationalrat.
Das sagte ich nicht. Sondern: Wenn jeder, dem es in seinem Land schlechter geht, bei uns als Flüchtling aufgenommen wird, dann haben Sie morgen halb Afrika bei uns.
Sie übertreiben doch gewaltig! Die Zahl der Asylgesuche ist so tief wie seit 1987 nicht mehr.
Erfreulich ist: Wir nehmen nicht weniger tatsächlich Verfolgte auf, aber es werden Missstände reduziert — nicht zuletzt dank Sozialhilfeentzug, schnelleren Verfahren und konsequentem Vollzug der Wegweisungen. Doch die Probleme sind leider nach wie vor gross.
Ihr Vater war Pfarrer. Könnten Sie ihm die Asyl-Verschärfungen mit gutem Gewissen erklären?
Ja. In der Schweiz ist jeder Flüchtling willkommen, der wirklich verfolgt wird. Aber Missbräuche sind zu verhindern. Ein schlechtes Gewissen hätte ich, wenn ich meine Verantwortung nicht wahrnehmen würde.
Auch ein echter Flüchtling wird neu zurückgeschickt, wenn er keine ldentitätspapiere besitzt.
Nein. Das sicher nicht. Leute ohne Papiere, die tatsächlich verfolgt sind, werden auch künftig aufgenommen. Man muss aber verlangen, dass einer, der keine Papiere vorweist, sagt, wie er heisst, woher er kommt, warum er geflohen ist und weshalb er keine Papiere hat. Ist dies zu viel verlangt?
Ist es nicht schäbig, dass ausgerechnet die reiche Schweiz neu eines der strengsten Gesetze hat?
Das neue Gesetz ist nicht strenger als Gesetze in anderen Staaten, zum Beispiel in Deutschland oder Österreich. Schäbig wäre, wenn wir keine echten Flüchtlinge aufnähmen. Wir hätten Platz für mehr echte Flüchtlinge, wenn wir all diejenigen abhalten, die unrechtmässig kommen.
Können Sie garantieren, dass niemand in den Tod geschickt wird?
Ich kann garantieren. dass dieses Risiko mit dem neuen Gesetz nicht grösser wird. Natürlich kann man Fehler bei der Bearbeitung eines Gesuchs in ganz wenigen Einzelfällen nie vollständig ausschliessen.
Wie scharf Ihr Gesetz ist, zeigt die massive Kritik der katholischen Bischöfe und des reformierten Kirchenbundes.
Es ist gut, wenn diese kirchlichen Kreise den Armen helfen. Nur: Für eine menschenwürdige Asylpolitik tragen sie keine Verantwortung. Zwingli sagte: «Christ sein heisst nicht christlich schwätzen …» Es ist einfach, christlich zu reden, ohne selber Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung bedeutet: Für die echten Flüchtlinge zu sorgen
und die illegal Anwesenden in ihr Heimatland zurückzuschicken. Das ist keine schöne Aufgabe.
Haben denn nur Sie Recht und die Kirchen irren sich?
Im persönlichen Gespräch sagen mir auch diese Kreise: Wir sehen ja ein, dass die Nichtverfolgten weggewiesen werden. Vor der Fernsehkamera behaupten
sie jedoch, sie müssten Asylsuchende aufnehmen, da die sonst auf der Strasse verhungern würden. Seit einem Jahr bitten wir diese Leute, uns doch die Kantone, die Gemeinden und diese Fälle zu nennen, damit wir einschreiten können. Wir erhielten von den Kirchen keine einzige Antwort. Weil es diese Fälle konkret nicht gibt. Das ist heuchlerischer Moralismus und nicht Hilfe am Nächsten!
Es ist die Pflicht der Kirchen, sich für die Schwächsten einzusetzen.
Ich freue mich, wenn sie es tun und hoffe, sie nehmen es ernst. Aber ich habe gemerkt, vielfach geht es ihnen gar nicht darum! Oft wollen sie nur sagen. schaut, die Verantwortlichen geben den armen Menschen nichts zu essen. Aber wir aus der Kirche, wir haben eine weisse Weste. Verantwortung tragen sie keine. Ist das nicht heuchlerisch? Meine Mutter hat ihr Leben lang Bettler an der Tür versorgt. Vielleicht war es nicht immer klug und vielleicht oft allzu barmherzig. Aber nie hätte sie gesagt: Ich muss denen zu essen geben, weil böse andere Menschen ihnen nicht helfen.
Kennen Sie als Bundesrat eigentlich Asylsuchende persönlich?
Einzelne schon. Es kommt vor, dass mir abgewiesene Bewerber schreiben. Einzelne habe ich schon eingeladen, Ich erklärte ihnen, warum sie nicht bleiben dürfen. Es sind oft arme Kerle. Aber ich musste es ihnen zumuten, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren. Hie und da gehe ich an die Basis zu meinen Mitarbeitenden. So stellte ich mich zum Beispiel im Empfangszentrum Kreuzlingen — mit einem grossen Schlapphut — bis zur ersten Kontrolle unerkannt in die Reihe der anstehenden Asylbewerber. Anderswo platze ich bei Befragungen rein. Ich spreche mit den Leuten.
Was planen Sie im Asylbereich als Nächstes?
Wir müssen die zu grossen Strukturen reduzieren, ohne die Leistung abzubauen. Jeder Flüchtling kostet Bund und Kantone heute insgesamt eine Million Franken im Durchschnitt. Das ist Unsinn. Wir erarbeiten ein Programm, um jährlich Kosten von 200 Millionen Franken einzusparen. Andererseits sind die aufgenommenen Flüchtlinge besser zu integrieren. Für die Kinder gehört dazu nicht zuletzt die Schule — für die Erwerbsfähigen die Arbeit.
Die Flüchtlinge sollen arbeiten?
Ja. Gegenwärtig tun das bloss etwa 23 Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge, die arbeiten könnten und müssten, weil sie ja für immer aufgenommen sind. Alle anderen leben von der Sozialhilfe und sind entsprechend schlecht integriert. Und dies trotz viel Gerede und vielen Theorien über Integration, trotz teuren Programmen. Das muss sich ändern. Mir schwebt so etwas wie eine «Flüchtlingsschulung» vor, die den Einstieg ins normale Arbeitsleben ermöglicht.
Sie wollen eine «Flüchtlings- Lehre» einführen? Wie sieht die aus?
Das Konzept wird zurzeit erarbeitet. Ich könnte mir vorstellen, dass diese sogenannte Flüchtlings-Lehre zwischen wenigen Monaten und maximal einem Jahr dauert. Sie soll den Einstieg in einen den Fähigkeiten der Flüchtlinge angepassten Beruf ermöglichen. Haben die Flüchtlinge einmal einen Job und sind sie tüchtig, werden sie aufsteigen. Das habe ich in meinem damaligen Unternehmen zum Beispiel mit Tamilen selber erlebt.
Wie soll das funktionieren?
Nehmen Sie einen Flüchtling aus der Ukraine. Er hat dort vielleicht auf dem Bau gearbeitet. Wir müssen ihm — zumindest rudimentär — unsere Sprache beibringen, ebenso Kenntnisse für die Arbeit, vielleicht auch nur die eines Hilfsarbeiters. Er wird bei guter Arbeit rasch gefragt sein. Oder nehmen wir den Literaturprofessor aus Südamerika. Er könnte dort arbeiten, wo man ihn braucht: Vielleicht als Übersetzer. Braucht es ihn dort nicht, müsste man ihn umschulen. Zum Beispiel fürs Gastgewerbe oder andere Tätigkeiten, je nach Fähigkeit.
Soll die Wirtschaft diese Ausbildung anbieten?
Nein, der Staat. Aber in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Das kommt günstiger, als wenn jemand jahrelang von der Sozialhilfe lebt, obwohl er arbeiten könnte.
Reden wir über Europa. Ihre Kollegen Schmid, Deiss und Calmy-Rey feierten am Sonntag das Ja zur Personenfreizügigkeit mit Champagner. Sie fehlten. Warum?
Feiern käme mir nicht in den Sinn. Das Schweizer Volk hat einen schwierigen Entscheid getroffen. Da gibt es nichts zu triumphieren. Mein erster Gedanke war: «Hoffentlich kommt es gut raus. Hoffentlich können wir das richtig Umsetzen.»
Viele Ihrer SVP-Freunde ärgerten sich über Ihren Einsatz für ein Ja — manche sagen gar, der sei entscheidend gewesen für die klare Zustimmung des Volkes.
Möglich. Offenbar waren meine Ausführungen glaubwürdig. Mir wurde übel, als ich die Schönfärberei gewisser Befürworter hörte. Ich habe meine Überlegungen preisgegeben, auch Nachteile aufgezeigt. Für mich war die Annahme ein kleineres Risiko als die Ablehnung.
Wie weiter? Soll die Schweiz das EU-Beitrittsgesuch zurückziehen?
Das verlange ich, seit es eingereicht ist. Aber viel wichtiger ist: Wir sollten der EU endlich offen mitteilen, dass wir nicht Mitglied werden, sondern in gutem Verhältnis mit der EU als selbständiges Land leben möchten.
Der Bundesrat soll einen Brief nach Brüssel schicken?
Zum Beispiel. Wie auch immer — wir sollten der EU einfach klar und deutlich mitteilen, dass wir keine institutionelle Bindung wollen. Danach besteht auch für die EU Klarheit.
Das ist Ihre Meinung— doch der Bundesrat ist in der EU-Frage gespalten.
Alle Spatzen pfeifen es von den Dächern: Drei wollen in die EU, drei sind gegen einen Beitritt und einer schwankt.
Sie meinen Pascal Couchepin.
Ich nenne keine Namen.
Der Bundesrat will erst mal in einem Bericht aufzeigen, was die Vor- und was die Nachteile sind.
Ja, ein Bericht mehr. Was darin stehen wird, wissen schon alle. Je nachdem, wer ihn schreibt, werden die Nachteile etwas mehr unterdrückt und die Vorteile in glänzenderem Licht geschildert. Letztlich ist es eine politische Frage.
Werden Sie eine EU-Abstimmung erleben, solange Sie im Amt sind?
Sicher keinen Beitritt, da ich bekanntlich schon im Jahre 2026 zurücktrete! (lacht)
Am 11. Oktober werden Sie 65. Was machen Sie mit Ihrer AHV-Rente?
Ich habe der AHV-Stelle schon mitgeteilt, dass ich jetzt keine Rente beziehe. Und zur Beruhigung aller: Ich habe sicher ein Vielfaches dessen einbezahlt, was ich je beziehen könnte.