Zum Stellenwert der schweizerischen Unabhängigkeit

Referat von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich der Delegiertenversammlung der SVP Schweiz vom 3. Dezember 2005

03.12.2005

An der Delegiertenversammlung der SVP sprach Bundesrat Christoph Blocher über den Stellenwert der schweizerischen Unabhängigkeit, deren Wert man am Besten mit einem Vergleich der Schweiz und der EU ermessen könne. Während die Eidgenossenschaft zum Ziel habe, die Unabhängigkeit der Kantone zu wahren, strebe die EU die Harmonisierung an.

Herr Parteipräsident
Herr Bundespräsident
Meine Damen und Herren

Sie haben mich gebeten, an der heutigen SVP-Versammlung ein Referat zum Stellenwert der schweizerischen Unabhängigkeit zu halten. Das will ich gerne tun. Schliesslich ist es mein Auftrag als Bundesrat, Massnahmen zur Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz zu treffen. So steht es in der Bundesverfassung.

Den Wert der schweizerischen Unabhängigkeit kann man am besten ermessen, wenn man die Schweiz und die EU miteinander vergleicht. Wo sind die Unterschiede zwischen der Schweiz und der EU? Was machen wir anders als die EU? Dazu muss man sich fragen: Was ist das Ziel der EU? Was ist das Ziel der Schweiz? Wozu sind diese Bündnisse geschaffen worden?
Das Bündnis der Kantone in der Eidgenossenschaft hat zum Ziel, die Unabhängigkeit und die Unterschiedlichkeit der einzelnen Kantone zu wahren. Es war nie das Ziel der Eidgenossenschaft, dass alle Kantone gleich werden sollen. In einem Land mit vier Kulturen würde so etwas ohnehin völlig an der Realität der Menschen vorbeigehen. Die Eidgenossenschaft entstand, weil man die eigene Identität nach aussen, gegen Grossmächte und grosse Reiche, verteidigen wollte.

Ganz anders in der EU: Ziel der EU ist die Harmonisierung, die Gleichheit. Die Verbindung der verschiedenen Länder soll immer enger werden. So steht es in der Präambel der neuen EU-Verfassung. Immer mehr Unterschiede sollen ausgeglichen werden. Die EU hat letztlich zum Ziel, dass in ganz Europa das Gleiche gelten soll.

Die Verbindung der Kantone zur schweizerischen Eidgenossenschaft und die Verbindung der europäischen Länder zur EU verfolgen also zwei völlig unterschiedliche Ziele.

Die Unabhängigkeit der Schweiz äussert sich darin, dass sie die Freiheit hat, eigene Wege zu gehen, d.h. auch aus der Vereinheitlichung der Europäischen Union auszubrechen. Im Gegensatz zu unseren Nachbarländern haben wir die Freiheit, Gesetze zu erlassen und beizubehalten, die nicht den Einheitsregeln der EU entsprechen. In welchen Bereichen ist das heute von Bedeutung? Ich kann Ihnen dazu einige Beispiele nennen:

1. Direkte Demokratie

Die Schweiz ist eine direkte Demokratie. Die schweizerische Bundesverfassung kann nicht geändert werden, ohne dass in einer Volksabstimmung eine Mehrheit des Volkes und der Kantone zustimmt. Auch bei Gesetzesänderungen oder beim Abschluss internationaler Verträge kann das Volk mitreden. Ganz anders in der EU: Das Volk ist grundsätzlich von solchen Entscheiden – und seien sie noch so wichtig – ausgeschlossen. Die Deutschen durften sich nicht dazu äussern, ob sie ihre Währung behalten wollen. Die Engländer hatten kein Recht zu sagen, ob sie mit der Osterweiterung einverstanden sind. Zur EU-Verfassung wurde nicht in allen Staaten eine Abstimmung durchgeführt. Aus Schweizer Sicht tönt dies so: Die Politiker hatten gnädigerweise entschieden, dass das Volk zu diesem grossen Projekt der Verfassung seine Meinung abgeben darf. Das Resultat der Abstimmung ist bekannt.
Die direkte Demokratie hat den grossen Vorteil, dass im Sinne des Volkes und nicht nur im Sinne der Politiker entschieden wird. Warum ist die Mehrwertsteuer in der Schweiz viel tiefer als in der EU? Weil bei uns der Steuersatz in der Verfassung verankert ist. Bei jeder Steuererhöhung muss das Volk gefragt werden, ob es einverstanden ist. Oftmals ist es nicht einverstanden. Wenn die Politiker das Volk nicht fragen müssen, steigen die Steuern viel stärker an. Die EU schreibt den Ländern vor, dass der Mindestsatz 15% betragen müsse. Da können sie abstimmen, solange sie wollen. Es gilt das, was die EU bestimmt.

2. Wirtschafts- und Währungspolitik

Mit dem Vertrag von Maastricht 1993 hat die EU eine Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt. Die Mitgliedsländer haben damit ihre Unabhängigkeit insbesondere in der Währungspolitik aufgegeben. Die nationalen Währungen wurden durch den Euro als Einheitswährung abgelöst. Die Schweiz bleibt dagegen frei, ihre eigene Währung weiterzuführen. Der Schweizer Franken hat gegenüber dem Euro einen Zinsvorteil, der für unser Land und unsere Wirtschaft von grosser Bedeutung ist. Ohnehin sind wir frei, die Leitzinsen so auszugestalten, wie es den Bedürfnissen unserer Wirtschaft entspricht. Wenn die Wirtschaft gut läuft, kann die Schweizerische Nationalbank die Zinsen erhöhen. Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, kann sie die Zinsen senken. Die EU-Länder müssen sich demgegenüber den Beschlüssen der europäischen Zentralbank unterwerfen. Doch wie entscheidet diese Zentralbank, wenn ein Land in einer Rezession ist und ein anderes Land in der Hochkonjunktur? Wie sind die Zinsen dann festzulegen? Der Euro verunmöglicht eine Währungspolitik, welche den Bedürfnissen der nationalen Volkswirtschaften entspricht. Einheitsbrei statt Eingehen auf Unterschiede.
Die Unabhängigkeit der Schweiz heisst Handlungsfreiheit. Diese erlaubt uns, eine eigenständige Aussenwirtschaftspolitik zu führen. Möglicherweise wird die Schweiz schon bald mit den USA über ein Freihandelsabkommen verhandeln. Als EU-Mitglied könnte sie solches nicht eigenständig unternehmen. Die EU sagt, mit wem Freihandel betrieben wird. Ein anderes Beispiel: Der Bundesrat hat kürzlich das Freihandelsabkommen mit Südkorea genehmigt. Die Schweiz erhält damit freien Zugang zu einer der zehn grössten Volkswirtschaften der Welt. Bisher haben weder die EU noch die USA ein solches Abkommen abschliessen können. Jedes Jahr exportieren Schweizer Unternehmungen im Wert von über einer Milliarde Franken nach Korea. Hier wird der Vorteil der Unabhängigkeit ganz konkret spürbar.

3. Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Als weiteren Bereich, den die EU vereinheitlicht hat, ist die Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu nennen. Die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der EU betreffen. Dazu gehört auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Die EU wird so zu einem Verteidigungsbündnis. Doch nicht nur das. Die EU hat sich in der „Europäischen Sicherheitsstrategie“ vom Dezember 2003 auch die Stärkung der Sicherheit in ihrer Nachbarschaft zum Ziel gesetzt. Dabei werden die Länder im Osten der EU, der Balkan und der Mittelmeerraum genannt. Es ist aber auch davon die Rede, „Einfluss im Weltmassstab“ ausüben zu wollen. Die EU nimmt Züge eines Imperiums an, das sich nicht auf das eigene Territorium beschränkt, sondern auch ausserhalb Einfluss nehmen will. Ich will nicht beurteilen, ob das richtig ist oder nicht. Es war schon immer so, dass grosse Machtblöcke Einfluss auf andere Länder nahmen. Doch lässt sich die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nicht mit der schweizerischen Neutralität vereinbaren. Innerhalb der EU büsst die Schweiz ihre bewährte, jahrhundertealte und immerwährende Neutralität ein. Diese Politik hat uns als Kleinstaat immer wieder davor bewahrt, in die Kriege der Grossmächte hineingezogen zu werden.

Sie sehen in diesen drei Bereichen beispielhaft, welcher Stellenwert der schweizerischen Unabhängigkeit zukommt. Es wären noch viele weitere Gebiete zu erwähnen, etwa die Arbeitsmarktpolitik, das Bankkundengeheimnis, die Sozialpolitik, die Agrarpolitik oder die finanziellen Konsequenzen eines Verzichts auf die Unabhängigkeit. Es ist klar, dass der Bundesrat bei der Verabschiedung seines europapolitischen Berichtes, der für nächstes Jahr angekündigt ist, sich mit diesen Fragen auseinandersetzen muss. Es ist auf eine objektive Darstellung zu hoffen.

Die Handlungsfreiheit unseres Landes schafft wesentliche Voraussetzungen für die Gewährleistung und Stärkung von Wohlstand und Sicherheit. Leider wurde der Spielraum, welchen die Schweiz dank ihrer Unabhängigkeit hat, in den letzten Jahren viel zu wenig ausgenutzt. Zu gross war in Verwaltung und Politik das Verlangen, sich der EU anpassen zu wollen. Der Drang, gleich sein zu wollen wie die anderen, war zu stark. EU-kompatibel wollte man sein, gleich wie die EU. Es ist erfreulich, dass der Bundesrat beschlossen hat, die künftigen, bilateralen Verträge nur noch zuzulassen, wenn diese die Handlungsfreiheit der Schweiz nicht beeinträchtigen, d.h. im Klartext, nur bilaterale Verträge ohne institutionelle Bindung.

Es ist unser Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit der Schweiz wieder viel mehr genutzt wird, um von der EU abweichende Gesetze zu erlassen. Als Unternehmer hatte ich nie Erfolg, weil ich gleich war wie die Konkurrenz. Ich war dort erfolgreich, wo ich anders war, wo ich besser war. Genauso muss es mit unserem Staat sein. Die Staaten stehen in einem Wettbewerb darum, wer die besten Rahmenbedingungen für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung bietet. Die Schweiz hat dank ihrer Unabhängigkeit die Möglichkeit, sich diesem Wettbewerb zu stellen. Wir müssen nach Wegen suchen, wie wir uns von den anderen Ländern unterscheiden können. Das Ziel der Politik darf nicht darin bestehen, gleich zu werden wie die EU, sondern besser zu werden. Nur dann macht die Unabhängigkeit Sinn. Nur dann zieht die Schweiz einen echten Nutzen aus ihrer Unabhängigkeit. Oder wenn sie noch mehr Fremdwörter wollen! EU-Kompatibilität, d.h. gleich zu sein wie die EU ist kein Ziel. Ziel muss sein: EU-Kompetitivität –Wettbewerbsfähig gegenüber der EU müssen wir sein. Natürlich braucht diese Haltung Kraft und Mut. Ich treffe sie in der Schweizer Wirtschaft und bei vielen Leuten an. Damit dies auch in der Politik so geschieht, dafür haben wir beiden Bundesräte im Bundesrat, die Parlamentarier im Parlament und sie in der SVP-Partei zu sorgen. Im Interesse und zum Wohl unseres Landes!

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