Führen die bilateralen Verträge in die EU?

Müntschemier. Referat von Bundesrat Christoph Blocher an der SVP-Informationsveranstaltung, 21. September 2007, in Müntschemier.

Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.

21.09.2007, Müntschemier


Meine Damen und Herren

Führen die bilateralen Verträge in die EU? In der seit dem 2. Weltkrieg wichtigsten Volksabstimmung, in welcher über die Frage, ob die Schweiz dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beitreten sollte oder nicht, zu entscheiden war (6. Dezember 1992), betonten die EU-Befürworter, einen bilateralen Weg gebe es nicht mehr. Wir EU-Gegner bestritten diese Behauptung und forderten, gegenseitige Probleme seien bilateral zu regeln, wie dies die Schweiz seit 700 Jahren getan habe!

Nichtsdestotrotz hielten die Regierung, das Parlament, die offizielle Wirtschaft, Universitätsprofessoren und Medienleute – kurz alles, was so genannten Rang und Namen hatte – daran fest: der bilaterale Weg sei vorbei. Künftig werde nur noch multilateral verhandelt und darum müsste man eben in ein multinationales Gebilde gehen, wie die EU eines ist.

„Doch nach Tisch liest man es anders.“ Plötzlich wird von den gleichen Leuten, die den bilateralen Weg für unmöglich erklärt hatten, dieser Weg gelobt und als gleichsam neuen Weg gepriesen.

1. Die Handlungsfreiheit bewahren

Warum dann aber die besorgte Frage: Führen die bilateralen Verträge in die EU? Denn bilateral heisst doch: Zwei souveräne Staaten regeln in einem Vertrag einen bestimmten Sachverhalt und basta. So wie beispielsweise der Vermieter einer Wohnung mit dem künftigen Mieter einen Vertrag abschliesst.

Das Beispiel mit dem Vermieter/Mieter trifft die entscheidende Frage: Haben wir es mit zwei gleichwertigen Vertragspartnern zu tun, die zum Vorteil beider eine Vereinbarung treffen?

Es ist nicht zu verhehlen: EU-Befürworter wollen mit bilateralen Verträgen nicht die Unabhängigkeit der Schweiz wahren. Ihre versteckte Absicht ist, die Schweiz schrittweise der EU anzupassen. Darum, meine Damen und Herren, gilt es misstrauisch zu sein.

Darum sind wir verpflichtet, jeden Vertrag auf diesen alles entscheidenden Punkt zu unter-suchen: Verlieren wir durch dieses Abkommen unsere politische Handlungsfreiheit? Lassen wir uns institutionell einbinden? Wird mit dem bilateralen Vertrag allenfalls erreicht, dass wir morgen in Dingen, die wir heute noch gar nicht sehen, das freie Handeln ausgeschlossen wird.

Die positive Kultur des Misstrauens ist angesagt. Ich halte das Misstrauen für eine bürgerliche Tugend. Misstrauen Sie der Politik – auch gegenüber dem Bundesrat und mir gegenüber. Vertrauen muss man in der Politik erkämpfen, bezeugen und beweisen. Vertrauen soll nicht leichtfertig geschenkt werden.

Wenn ich einem Ausländer die schweizerische Staatsform schildere, dann sage ich oft – zwar etwas pointiert, aber durchaus ernst gemeint: „Die Schweiz ist die Staatsform des Misstrauens!“ Die Bürger trauen dem Staat, der Regierung, den Politikern wenig über den Weg.

Darum wählen sie zwar, aber achten gleichzeitig darauf, dass sie dem Gewählten ja nicht zu viel Macht und zu viele Kompetenzen geben. Die Bürger schränken umgehend die Befugnisse der Politik wieder ein. Über mehr oder weniger wichtige Dinge wollen sie selbst entscheiden – an der Urne – auf jeder Ebene, in der Gemeinde, den Kantonen und im Bund.

Etwas vereinfacht gesagt: In der Schweiz ist das Volk auch die Opposition. Die Demokratie beinhaltet nicht nur die Möglichkeit zu wählen, sondern auch Nein zu sagen!

2. Die EWR-Abstimmung war das Nein zum EU-Beitritt

Die hohe Politik wollte 1992 den EWR als eine Art wirtschaftlicher Mietvertrag schmackhaft machen. Dabei wäre er die Vorstufe gewesen für einen EU-Vollbeitritt. Darum war diese Abstimmung vom 6. Dezember 1992 eine Schicksalsabstimmung. Die Befürworter machten vor allem ökonomische Gründe geltend. Die Wirtschaftsverbände warnten vereint mit der Politik, den Massenmedien, Gewerkschaften und Hochschullehrern eindringlich vor einem Nein zum EWR-Vertrag.

Unser Land würde nicht mehr konkurrenzfähig sein, war der Grundtenor der offiziellen Schweiz.
„Ohne EWR kann die Schweiz nicht überleben“, tönte es beispielsweise aus Luzern. Wie die meisten Propheten wurde auch dieser Prophet durch die Zukunft widerlegt. Wenn die Schweiz Nein sage zum EWR, werde später eine völlig verarmte Schweiz die EU auf den Knien bitten, ihr beitreten zu dürfen – war eine anders massgebende Stimme. Vierzehn Jahre Abstand ermöglichen eine nüchterne Bestandesaufnahme der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung: Die apokalyptischen Voraussagen über eine Schweiz ohne EWR haben sich als gigantische Fehlprognosen erwiesen. Die Schweiz hat ohne EWR mehr als überlebt. Sogar sehr gut überlebt! Die Schweiz konnte ihren Wohlstand gerade ausserhalb von EWR und EU behaupten. Die Schweiz ist gerade von EU-Bürgern zum bevorzugten Wohn- und Arbeitsplatz geworden. Offenbar sehnen sie sich nach der freien, neutralen und unabhängigen Schweiz.

Kürzlich hat eine Studie des WEF ergeben: Die Schweiz ist das wettbewerbsfähigste Land der Welt. Dank EWR-Nein. Jedes Jahr verlegen Hunderte Firmen ihren Sitz in die Schweiz. Weil wir nicht Mitglied der EU sind.

3. Salami und Rosinen

Es ist schon so: Die EU-Befürworter instrumentalisierten die bilateralen Verträge, um den späteren EU-Beitritt vorzubereiten. Ich erinnere an den früheren FDP-Parteipräsidenten Franz Steinegger. Im Zusammenhang mit den ersten bilateralen Verträgen 1998 fragte ihn eine Zeitung: „Sie bleiben bei der Salamitaktik: Rädchen um Rädchen, Schritt für Schritt in die EU?“ Steineggers Antwort: „Ganz klar. In der direkten Demokratie sind konkrete Schritte der einzige Weg, um weiter zu kommen.“ (SonntagsZeitung, 25.10.1998)

Es ist für jeden nachvollziehbar, dass unter solchen Voraussetzungen keine optimalen Verhandlungsergebnisse erzielt werden können.
Wenn wir die Verkehrsabkommen anschauen (ich nenne nur Lastwagenverkehr und Verlagerung auf die Schiene), sind die Resultate tatsächlich keineswegs berauschend. Jetzt bauen wir eine Neat für gut 24 Milliarden Franken. Nicht für uns. Für die EU. Für die EU-Lastwagen. Der Bundesrat verkündete damals stolz: „Jetzt haben wir den Ruf einer Nation von Rosinenpickern und Abschottern abgelegt.“ Ein Ruf, den viele Schweizer Politiker vorher gefördert haben.

Es ist schon interessant, wenn wir die Wortwahl der Regierung von damals genauer betrachten: Die eigene Regierung bezeichnete damals die Wahrung von Landesinteressen als „Rosinenpickerei“. Und die eigene Regierung bezeichnete damals den Willen zur Selbstbestimmung als „Abschottung“.

Sie sehen, man machte damals die EU-Debatte plötzlich zur moralischen Frage: Bin ich für den EU-Beitritt, dann bin ich ein guter, weltoffener, solidarischer Mensch. Wenn nicht, lautete das Verdikt: Ewiggestriger, Isolationist, Egoist.
Aber Moralismus hat in der Politik nichts verloren. Was zählt, sind die Fakten, die Ergebnisse, die Wirklichkeit. Und die Fakten zeigen: Es wird für die Schweiz noch wichtiger werden, dass sie nicht der EU angehört, je mehr sich die EU in Richtung Bürokratie und Zentralismus bewegt.
Die Unabhängigkeit, die Eigenschaft, dass die Bürger über die Zukunft ihres Landes selbst bestimmen, ist der entscheidende Wert eines Landes!

4. Jahrelanges Verunglimpfen der Schweiz und ihrer Werte

Die Bevölkerung kann nicht genug aufgeklärt und gewarnt werden:
Dass die Regierung das eigene Volk als „Rosinenpicker“ hinstellte, passte in die allgemeine Verunglimpfungsstimmung der 90er Jahre. Gerade die so genannten „Eliten“ liessen keine Gelegenheit aus, die Schweiz schlecht zu machen.

Anpasserische Historiker negierten die Leistungen der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und stellten die Schweiz quasi als Verbrecherstaat hin.
Dabei bewahrte unser Bundesrat in der Kriegszeit das Land und die Menschen vor dem Krieg. Das war die grosse historische Tat unserer Vorfahren. Wir müssen die Ergebnisse betrachten. Dass in einer Situation auch Fehler gemacht werden, ist jedem rechtschaffenen Menschen klar. Der Moralist ist zwar fehlerfrei, aber für andere etwas Gutes erreichen, dadurch zeichnet er sich nicht aus. Nur der Moralist lebt – und nur er – fehlerfrei.

In einer Extremsituation wie der Krieg eine ist, können Fehler nicht überraschen. Trotzdem nahm die Schweiz im Verhältnis mehr Flüchtlinge auf als jedes andere Land und die Schweiz blieb trotz aller totalitärer Versuchungen demokratisch und freiheitlich. Ich kann abschliessend nur eines festhalten: Glücklicherweise hat sich die Bevölkerung von diesen Historiker-Kommissionen und Berichten nicht allzu sehr beeindrucken lassen.

5. Aktive statt immerwährende Neutralität?

Andere erklärten die schweizerische Neutralitätspolitik auf einmal für fragwürdig und überholt. Ich kann mich gut an die vorherrschende Naivität erinnern, mit der das Ende des Kommunismus gedeutet wurde: Nun sei das Zeitalter des Friedens angebrochen. Kein Krieg mehr in Europa. Doch die Wirklichkeit kehrte brutal zurück: Ex-Jugoslawien brach unter Gewalt auseinander und der Terrorismus zeigte, dass die Neutralität für einen Kleinstaat immer noch die beste aussenpolitische Maxime darstellt. Grundwerte des Staates gelten zu allen Zeiten. – Nicht umsonst hat die Schweiz eine immerwährende Neutralität.
Ist es ein Zufall, dass das Adjektiv immerwährend von den EU-Befürwortern durch „aktiv“ ersetzt wird?

6. „Kantönligeist“ oder Föderalismus?

Im Weiteren wurde der Föderalismus zum „Kantönligeist“ hinuntergeredet. Es wurden nationale Lösungen propagiert. Einheitliche Gesetze sollten es bringen. Harmonisierung hiess die hübsche Wortverpackung. Aber Harmonisierung heisst doch in erster Linie Einheitsbrei, heisst Nivellierung – für den Tüchtigen heisst dies stets zum Schlechteren.

Wenn die Linke eine Steuerharmonisierung fordert, dann dürfen wir uns schon auf harmonisierte, also auf einheitliche Steuern freuen. Konkret bedeutet das aber: Einheitlich höhere Steuern für alle.

7. Neuer Stolz auf die Schweiz

Doch es bessert im Land. Die ständigen moralistischen Selbstanklagen verfangen nicht mehr. Man darf heute wieder stolz sein auf die Schweiz. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst der SVP.
Die SVP steht zur Schweiz, auch wenn es nicht gerade in Mode ist. Das zeichnet die SVP aus: Dass sie sich zu ihren Grundsätzen bekennt. Vor allem zum Grundsatz einer souveränen, freien, demokratischen Schweiz.

8. Was bringt die verstärkte Regierungsbeteiligung?

Heute können wir unsere Politik verstärkt in der Regierung selbst einbringen. Und es zeigen sich erste Resultate:

Der Bundesrat hat sich vom EU-Beitritt als „strategischem Ziel“ verabschiedet. Der Bundesrat sagt noch nicht, der EU-Beitritt ist vom Tisch. Aber das Ziel ist gewichen. Wenigstens ein halber Erfolg.

Was die bilateralen Verträge anbelangt, hat der Bundesrat beschlossen, dass diese die künftige Handlungsfreiheit des Landes nicht einschränken dürfen! Das ist ausserordentlich bedeutsam!

Es bessert sich. Aber wir stehen erst am Anfang.

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