Stets vollumfänglich informiert
Der ehemalige Justizminister Christoph Blocher nimmt Stellung zur Kritik an der Aktenvernichtung im Fall Tinner.
Interview in der „Weltwoche“ vom 28. Januar 2009
von Urs Gehriger
Gehriger: Die Delegation der Geschäftsprüfungskommission (GPDel) wirft Ihnen vor, Sie hätten den Bundesrat nur schrittweise über die Probleme des brisanten Falles informiert. Warum haben Sie nicht rascher Transparenz geschaffen?
Blocher: Der Bundesrat war stets vollumfänglich und von Anfang an informiert. Ich kenne auch keinen Bundesrat, der etwas bemängelt hätte. Die anfängliche Strategie war: Akten in der Schweiz in Sicherheit bringen. Nur die Bundesanwaltschaft hat Zugang. Über das Vorhandensein der Akten und ihre Bewirtschaftung besteht «Geheimhaltung». Die Geheimhaltung war absolut sichergestellt bis Anfang 2008.
Von höchster Brisanz im Fall Tinner sind Baupläne für Nuklearwaffen. Laut GPDel hatte die Bundesanwaltschaft im Frühjahr 2006 mit Hilfe von Experten der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) diese Pläne identifiziert. Wann wurden Sie darüber informiert?
Im Sommer 2006 – jedenfalls nach dem Ausscheiden von Bundesanwalt Roschacher (5. Juli 2006) wurde das EJPD orientiert, und zwar durch dessen Stellvertreter.
Gemäss GPDel haben Sie den Bundesrat erst im November 2006 über die Bombenbaupläne benachrichtigt. Wieso hielten Sie die hochbrisante Nachricht vier Monate vor Ihren Kollegen zurück?
Der Bundesrat wurde mündlich orientiert. Die Delegation hat einfach die Protokolle des Bundesrates angeschaut. Bei geheimen Angelegenheiten sind Protokolle möglichst zu unterlassen. Viele Gespräche sind nicht an den Bundesratssitzungen geführt worden, sondern zwischen den einzelnen Bundesräten. In erster Linie involviert waren das EDA, Frau Calmy-Rey, und das VBS, Herr Schmid, aber auch immer der jeweilige Bundespräsident. Zwischen Sommer 2006 und November 2006 wurde bereits ein Antrag über das weitere Vorgehen vorbereitet. Die Akten waren ja vorläufig in Sicherheit, und das sind sie auch bis zur Vernichtung geblieben. Das war die Hauptsache.
Seinen Beschluss zur Aktenvernichtung fasste der Bundesrat erst im November 2007. Der Vorwurf lautet, Sie hätten die Akten 16 Monate lang liegenlassen.
Einerseits wirft man mir vor, es sei zu spät und anderseits zu früh gehandelt worden. Die Tendenz der GPDel zur üblichen Verunglimpfung wird sichtbar. Die Vorbereitung auf allen Stufen dauerte so lange. Der Forderung der USA, die Akten auszuhändigen, konnten wir aus eigentumspolitischen, souveränitätsmässigen und neutralitätsrechtlichen Überzeugungen nicht entgegenkommen. Es dauerte lange, bis alle involvierten massgeblichen Kreise im In- und Ausland mit der Vernichtung einverstanden waren! Schliesslich sicherten wir ihnen zu, dass wir die Zerstörung unter Aufsicht der IAEA vollziehen werden. So erreichten wir eine Einigung. Früher konnte und musste nicht gehandelt werden.
Für Unverständnis sorgt der Bundesratsentscheid, gleich alle Akten zu vernichten. Wäre nicht genügend Zeit vorhanden gewesen für eine Triage des Materials?
Dies ist eingehend geprüft worden. Dafür hätten wir sehr viele Personen involvieren müssen, Fachleute, aber auch Juristen, die Anwälte der Tinners und die Bundesanwaltschaft. Wir kamen zum Schluss, dass eine Geheimhaltung der brisanten Angelegenheit durch zusätzliche Mitwisser unmöglich geworden wäre. Auch die Tinner-Anwälte lehnten eine Triage ab. Eine Trennung war viel zu risikoreich! Und hätte kaum einen Vorteil gebracht.
Ein Hauptvorwurf der GPDel lautet: Der Bundesrat habe «unverhältnismässig» in die Gewaltentrennung eingegriffen. Durch die Vernichtung aller Akten sei ein Verfahren gegen die Tinners praktisch unmöglich geworden. Warum nahm man dies in Kauf?
Der Bundesrat hatte abzuwägen. Die Sicherheit des Landes und der Welt ging vor. Das Risiko, dass allenfalls ein Strafverfahren erschwert werden könnte, musste in Kauf genommen werden. Die Rücksichtnahme auf völkerrechtliche Verpflichtungen, auf die Sicherung des Weltfriedens und die Sicherheit des Landes hatte Vorrang. «Fiat justitia et pereat mundus» hatte zurückzutreten. Die Nichtverbreitung von Kernwaffen liegt auch im Interesse der Schweiz. Die Schweiz hat den Atomsperrvertrag unterschrieben.
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