Albert Anker nimmt den einzelnen Menschen ernst
Interview in der „NZZ am Sonntag“ vom 25. April 2010 mit Gerhard Mack
Das Kunstmuseum Bern feiert den 100. Todestag des Schweizer Malers mit einer grossen Retrospektive. Viele Bilder kommen aus der Sammlung von Christoph Blocher. Der Politiker und Unternehmer äussert sich zu seinem Lieblingskünstler
NZZ am Sonntag: Herr Blocher, Sie besitzen 130 Werke Albert Ankers. Wie ist es dazu gekommen?
Christoph Blocher: Ich habe zweimal angefangen zu sammeln. Beim ersten Mal konnte ich mir nur Zeichnungen, Aquarelle und kleinere Ölbilder leisten. Dann habe ich die Ems Chemie gekauft, und darum musste ich alles verkaufen, was ich hatte, also auch die Kunstsammlung. Ein paar Jahre später, als die Firma Erfolg hatte, konnte ich noch einmal anfangen, Anker zu sammeln. Zum Teil habe ich dieselben Bilder zurückgekauft, einfach teurer. Das war 1987. Seither sammle ich vor allem Albert Anker.
Wo sind Sie erstmals mit Ankers Werk in Berührung gekommen?
Wir hatten zu Hause Drucke von Anker-Bildern. Der Schweizerische Beobachter zeigte eine Zeit lang auf seinem Titelblatt Anker-Werke. Diese hat mein Vater – wie unzählige andere Schweizer – ausgeschnitten, rahmen lassen und aufgehängt.
Schwingt bei Ihnen Kindheits-Nostalgie mit? Viele sehen auf Ankers Bildern die gute alte Zeit dargestellt?
Wer in Ankers Bildern nur „die gute alte Zeit“ sieht, der hat Ankers Bilder nicht betrachtet. Natürlich nimmt Anker die Motive aus seiner Zeit, also dem 19. Jahrhundert, auf. Aber seine Botschaft ist zeitlos. Dass die Menschen aus seiner Umgebung und von damals stammen, ist doch selbstverständlich. So malte z.B. Brueghel holländische Szenen des 16. Jahrhunderts, weil er in Holland zu jener Zeit gelebt hat. Aber Brueghel zeigt auch das Allgemeingültige. Und Van Gogh malte die Landschaften des 19. Jahrhunderts – aber es zählt das Allgemeingültige. So ist es auch bei Anker.
Sie sprechen von Botschaft bei Albert Anker. Worin besteht diese?
In Ankers Atelier liegt auf dem Schreibtisch ein Massstab, auf dem er mit Tusche in gotischer Schrift gemalt hat: «Siehe, die Erde ist nicht verdammt.» Das wolle er zeigen, schrieb er seinen Freunden. Das ist Ankers Botschaft. Sie klingt biblisch, kommt in der Bibel aber so nicht vor. Es ist dennoch kein Zufall, dass am Todestag Ankers, neben ihm auf dem Tisch, das Buch Hiob aufgeschlagen lag. Hiob ist wohl der gequälteste Mensch überhaupt – aber nicht verdammt.
Worin zeigt sich für Sie diese Botschaft?
Anker malte vor allem Junge und Alte. Der tätige Mensch kommt auf seinen Bildern selten vor. Er wollte zeigen, was der Mensch ohne sein Zutun ist. Für das wichtigste Ereignis unseres Lebens, unsere Geburt, können wir nichts. Und die Alten haben nichts mehr zu verlieren. Anker zeigt, dass sie alle aufgehoben sind. Oft geben gerade diese Alten – manchmal schlafend – den Kindern Geborgenheit
Ihre Sammlung enthält Genrebilder wie den «Schulspaziergang». Das Schwergewicht liegt aber auf solchen Einzelporträts von Kindern und Alten. Wieso?
Das Besondere bei Anker besteht wohl darin, dass er in einer einzelnen Person die ganze Welt darstellt. Jeder Mensch steht fürs Ganze. Schon der kleine Säugling ist jemand. Vollwertig! Das Büebli, das Musik macht, das Mädchen, das einen grossen Brotlaib an sich presst und durch das tief verschneite Dorf trägt – sie enthalten immer beides, die Härten aber auch die Schönheit des Lebens. Das Porträt ist vielleicht eine einfache Gattung, aber ein einziges Porträt steht für Milliarden von Menschen. Anker zeigt im Kleinen den Kosmos, er sieht im Einzelnen die weite Welt. Darum lösen seine Werke beim Betrachter tiefe Betroffenheit aus.
Dafür kennt die Ästhetik des 19. Jahrhunderts den Begriff der «Verklärung». Ihm haftet etwas Beschönigendes an, Anker gilt vielen als Idylliker.
Anker malte keineswegs nur freudige Szenen, sondern gerade auch Krankheit, Armut, Tod, Waisenkinder und die Härten des Lebens. Er hat seinen zweijährigen Sohn verloren und konnte deshalb ein Jahr lang nicht mehr malen. Aber ihn hat er auf dem Totenbett gemalt. Nicht als Verlorener. Anker hat nichts beschönigt, er hat alles gemalt, und genau darin die Schönheit der Welt entdeckt. Viele Kinder auf seinen Bildern schauen ernst, und dieser Ernst des Lebens hat bei ihm etwas Erhabenes. Er zeigt z.B. dass ein Kind todkrank ist, aber er tut das nicht so, als wäre die ganze Welt ein Jammertal. Auch ein mongoloides Kind kann schön sein, weil es Zufriedenheit ausstrahlt. Anker wollte zeigen, dass der Mensch immer ein Teil der Schöpfung ist, ganz gleich, was aus ihm wird oder was er in seinem Leben leisten kann. Niemand ist bei ihm verloren, alle sind im Licht. Und wie Anker das Licht in seinen Bildern einfängt, darin ist er ein Meister.
Anker hat Theologie studiert. Ist er für Sie ein theologischer Maler?
Eindeutig – im guten Sinne. Die göttliche Gnade ist seine alles überragende Botschaft. Das ist die Realität der Welt! Das ist doch die zentrale Botschaft des Christentums. Mein Vater, ein reformierter Pfarrer, lehrte uns Kinder: Jesus ist gestorben, er hat die Sünden der Welt auf sich genommen und ist auferstanden. Seither ist der Mensch nicht mehr verloren. Anker stellt das nicht direkt dar, es gibt von ihm praktisch keine religiösen Bilder, da ist weder Frömmelei noch Heuchelei. Er zeigt die reale Welt, in die die Botschaft der Gnade eingeflossen ist.
Ist es nicht so, dass Erlösung bei Anker nur noch in der Kunst liegen kann, wie es der Moderne entsprechen würde?
Nein, Anker malt die Lebenswirklichkeit. Das sehen wir heute natürlich kaum, weil wir glauben, dass alles falsch ist, was nicht unseren Intentionen entspricht, und weil wir uns gerne zum Mass aller Dinge machen.
Sehen Sie darin auch eine Kulturkritik an der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts?
Anker stand der Veränderung nicht feindlich gegenüber. Er machte aber auf Probleme aufmerksam. Dafür ist für mich das Gemälde «Der Gemeindeschreiber» exemplarisch. Anker zeigt ihn als Paradox zwischen Anarchie und Ordnung. Er setzt ihm die Brille verkehrt herum auf und gibt ihm alle Utensilien der Bürokratie. Es braucht eine Symbiose von beidem. Das ist ein wunderschönes Bild zur modernen staatlichen Verwaltung, die im 19. Jahrhundert beginnt. Heute setzen wir zu viel auf den rationalen Teil. Man sollte dieses Bild jedem Nationalrat ins Büro hängen.
Spendet Anker mit seinen Bildern Trost?
Sicher. Seine Kinder-Bildnisse z.B. sagen oft aus: Ein leichtes Leben wirst du nicht haben, das musst du wissen, aber du gehst daran auch nicht zugrunde. Das kleine Mädchen mit dem grossen Brotlaib erinnert mich an das Bibelwort «Im Schweisse Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen», aber nicht als Fluch, sondern als Verheissung: Es wird etwas zu essen geben.
Anker ist dem grossen Publikum als Maler bekannt. Ihre Sammlung enthält viele Aquarelle. Warum?
Anker hatte zehn Jahre vor seinem Tod einen Hirnschlag, seine rechte Hand war gelähmt. Zunächst konnte er überhaupt nicht mehr malen, später ging es wieder, aber der Ölpinsel war für ihn zu schwer, er fing mit Wasserfarbe an und brachte es zu einem Meister des Aquarells. Wenn ich an das «Mädchen mit dem Brotlaib» denke, so sind diese späten Werke noch aussagekräftiger als die Ölbilder.
Eine andere grosse Passion des Sammlers Christoph Blocher ist Ferdinand Hodler. Wo berührt er sich mit Anker?
Sie kannten sich, und Anker setzte sich sehr für Hodler ein, als er wegen seines Gemäldes im Landesmuseum «Der Rückzug von Marignano» – also eine Illustration der grössten militärischen Niederlage der Schweiz – angegriffen wurde. Anker legte Hodler auch nahe, Landschaften zu malen. Er hielt ihn für Menschen-Darstellungen zu mächtig und sagte ihm: Du gehst nicht mit der nötigen Ehrfurcht an die Menschen. Anker malte die Menschen so, wie sie gewachsen sind, Hodler machte aus ihnen Helden. Ich sammle von Hodler vor allem Landschaften.
Wieso konzentrieren Sie sich auf Anker und Hodler?
Ich will mich konzentrieren. Das sind wohl die beiden grossen Schweizer Maler am Ende des 19. Jahrhunderts. Um sie herum sammle ich Künstler derselben Zeit: Giovanni Giacometti, Giovanni Segantini, Cuno Amiet, Adolf Dietrich, Robert Zünd, Rudolf Koller, Edouard Castres und andere.
Wieso bleiben Sie im 19. Jahrhundert?
Ich habe mit Albert Anker angefangen und bin von ihm aus weitergegangen. Dabei habe ich schnell gemerkt, dass ich ein Konzept brauche, sonst wird es uferlos. Ich habe mich auf diesen Zeitraum beschränkt. Vor kurzem habe ich die Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich besucht. Sie ist wunderbar. Jedes Werk ist etwas Besonderes. Bührle hat die besten Stücke gekauft, aber es lässt sich keine Botschaft oder Linie daraus ablesen.
Herr Blocher, was soll mit Ihrer Sammlung einmal passieren?
Ich habe verschiedene Vorstellungen, ich spreche aber erst darüber, wenn ich sie auch umsetze.
Gibt es einmal ein Museum Blocher?
Vielleicht, ich weiss es noch nicht. Ich weiss auch nicht, wie viel Interesse die Kinder an den Bildern haben. Eine Sammlung ist etwas sehr Schönes, sie braucht aber Pflege, Hingabe und kostet Zeit und Arbeit.
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