1. August-Rede 2011 auf dem St. Gotthard-Pass
Ansprache von a. Bundesrat Christoph Blocher, gehalten am 1. August 2011
– Liebe Mit-Landsleute
– Cari amici del Cantone Ticino
– Liebe Urner, Walliser und Bündner Freunde
– Verehrte Geburtstagsgäste
Geburtstag auf dem St. Gotthard
Heute am 1. August 2011 – sind wir hier auf diesem geschichtsträchtigen Punkt – zusammengekommen, um den 720. Geburtstag unseres Landes – unseres Heimatlandes zu feiern.
In Dankbarkeit feiern wir unseren Geburtstag. Dankbar, dass unser Land ein weiteres Jahr in guter Verfassung bestehen konnte.
Heute dürfen wir – und das ist auch für mich ausserordentlich – diesen Geburtstag an einem besonderen Ort feiern:
– auf 2018 Meter über jedem Meeresspiegel, wo sich gegenwärtig wohl
viele Schweizerinnen und Schweizer am Strand erholen.
– auf der Passhöhe des St. Gotthard, des San Gottardo
– mitten im Alpenmassiv,
– mitten in der Schweiz,
– mitten in Europa:
(Sie haben recht gehört: nicht mitten in der EU, sondern mitten in Europa)
Ja dieser Gotthard! Dieser Gotthardpass! Jedes Mal, wenn ich über diesen Pass fahre, habe ich Herzklopfen angesichts dieses Gebirges. Was wäre wohl die Schweiz, was wäre wohl Europa ohne diesen Nord-Süd-Übergang?
Zentralalpiner Kreuzpunkt
Heute also feiern wir unseren Nationalfeiertag am zentralalpinen Kreuzpunkt der nordsüdlichen und der ostwestlichen Alpenfurche, am Kreuzpunkt von Reusstal-Leventina einerseits und Vorderrhein und Rhonetal anderseits.
– Hier entspringen vier wichtige Flüsse Europas
– der Rhein fliesst nach Norden und ergiesst sich in die Nordsee
– die Reuss, die sich mit der Aare und dem Rhein verbindet,
– die Rhone, fliesst nach Südwesten, verbindet uns mit dem Mittelmeer und Marseille,
– der Ticino wendet sich schnurstracks nach Süden zum Po und in die Adria.
– Es ist schön, dass wir auf dem neugeschaffenen 4-Quellen-Weg die vier
Quellen des Wasserschlosses Europa durchwandern können.
Gotthard: Nomen est Omen
Wir benennen dieses Gebirgsmassiv und den Alpenpass als Sankt Gotthard, lateinisch Monte Sancti Gottardi, nach dem 1131 heilig gesprochenen Benediktiner Gotthard, dem einstigen Bischof von Hildesheim – eine Stadt, die heute in der EU liegt. (Doch dafür kann der gute Bischof St. Gotthard nun wirklich nichts!)
Der Name Gotthard stammt aus dem Althochdeutschen. Wenn wir heute abend hier oben stehen, sehen und spüren wir, wie sehr dieser Name passt. In Schillers „Wilhelm Tell“ lesen wir:
„So immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen
Des Gotthards, wo die Ew’gen Seen sind
Die von des Himmels Strömen selbst sich füllen.“
Man ist hier nahe den Wolken, nahe dem Himmel, nahe bei Gott. Doch die Felsen vermitteln Härte, Unerbittlichkeit und Unbezwingbarkeit.
Manche haben den Gotthard als „Dach Europas“ bezeichnet, denn lange glaubte man, der Gotthard sei der höchste aller Alpengipfel.
Der St. Gotthard als Symbol und Mahnmal
Sie mögen sich fragen, was wohl der Gotthard mit dem Geburtstag der Schweiz zu tun hat. Mehr als vielen in Bundesbern lieb ist! Der Gotthard steht in höchstem Masse für die schweizerische Unabhängigkeit und Freiheit. Er ist Symbol und Mahnmal zugleich.
Es ist kein Zufall, dass die Geburtsstunde unseres Landes – der Bundesbrief von 1291 – hier in der Nähe, auf dem Rütli – einer kleinen abgelegenen Wiese – beschlossen und beglaubigt wurde.
Der Kaiser hatte den Waldstättern im 13. Jahrhundert hohe Freiheitsrechte eingeräumt. Nicht weil er diese Urschweizer besonders geliebt hätte, sondern vielmehr, weil er sich den Gotthard-Pass – diesen wichtigen Nord-Süd-Durchgang sichern wollte. Mit diesen besonderen Freiheitsrechten band er die Waldstätten an sich, und sie hielten ihm dafür denGotthardpass frei. Doch 1291 – nach dem Tod des Habsburger Königs Rudolf – waren die Machtverhältnisse im Kaiserreich unsicher geworden. Die Freiheitsrechte waren bedroht. Darum war die Zeit gekommen, zusammenzustehen und den Schwur auf den Bundesbrief zu leisten.
Der Bundesbrief
Und dieser Bundesbrief ist kein Mythos, sondern eine gesiegelte Pergamenturkunde, täglich von uns allen zu besichtigen im Bundesbriefarchiv in Schwyz.
Führen wir uns vor Augen, was in diesem Bundesbrief, was in dieser Geburtsukunde der Schweizerischen Eidgenossenschaft geschrieben steht. Auf einer einzigen Seite haben schlichte Innerschweizer Landleute das niedergelegt, was ihrer Ansicht nach wegen der „Arglist der Zeit“ nötig war.
Aus einem gemeinsamen Schwur und aus dieser einen Seite Protokoll erwuchs die Idee der Eidgenossenschaft, welcher sich im Laufe der Jahrhunderte immer neue Talschaften und wichtige Städte des Mittelandes anschlossen.Über 700 Jahre hat diese eine Seite ihren Wert und ihre Gültigkeit behalten. Warum?
Weil die Väter des Bundesbriefes mit beiden Beinen im wirklichen Leben standen, weil sie spürten, was wesentlich war, was Substanz hatte, was – wie sie ausdrücklich forderten – Wert hatte, ewig zu bestehen.
Diese Gründerväter der schweizerischen Eidgenossenschaft waren keine hoch gebildeten Juristen und Staatsrechtler, sie wussten nichts von meterweise erlassenen Gesetzen oder komplizierten Verfassungen mit unzähligen Paragraphen. Die Gründer der Eidgenossenschaft konnten nicht einmal lesen und schreiben. Ein Mönch, ein Geistlicher, kam ihnen zu Hilfe und schrieb ihre Ideen in Latein nieder, einer Sprache, die sie nicht einmal kannten. Der Geistliche setzte die Anfangsworte: „In Gottes Namen, Amen“ Selbstverständlich für den Kirchenmann, selbstverständlich für die damaligen Landleute. Und auch heute steht in unserer Bundesverfassung „Im Namen Gottes, des Allmächtigen“.
Hier am Gotthard entstand unser schweizerischer Staatsmythos, der sogar ein doppelter ist: Die Geschichte vom Einzelgänger Wilhelm Tell, der zum Tyrannenmörder wurde. Und die Geschichte vom Rütlischwur als Zeichen des Zusammenstehens, der Gemeinschaft – einer echten, der Solidarität. Man kann viel Abschätziges hören und lesen über die Gründungsgeschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. Das seien ja alles nur Mythen. Ja und?
Nur eingebildete Leute und Wissenschafter haben nicht gemerkt, dass gerade solche Mythen jedes Land kennt und braucht. In Märchen, Sagen, Legenden oder biblischen Gleichnissen liegt oftmals mehr Wahrheit als im trockenen Sachartikel heutiger Schreiberlinge.
So wollen wir es mit der weisen Aussage Gottfried Kellers halten, der über die Gründungsgeschichte sagte:
„Ob sie geschehn? Das ist hier nicht zu fragen,
Die Perle jeder Sage ist der Sinn,
Das Mark der Wahrheit ruht hier frisch darin,
Der reife Kern von allen Völker Sagen.“
Tatsache ist – meine lieben Geburtstagsgäste – in dieser wilden, unwirtlichen Natur des Sankt Gotthard sind und waren die Menschen mit sich, den Bergen, den Felsen, dem Himmel und Gott alleine – ohne Theoretiker und Staatsrechtler. Hier wurde und wird der Blick frei fürs Wesentliche.
Geschichtliche Rolle des Gotthards
Immer wieder hat der Gotthard eine wichtige Rolle in der Geschichte gespielt. Nicht nur als Pass für den wichtigen Warenverkehr zwischen Nord und Süd. Auch strategisch hat er seine Bedeutung!
– Die Urner haben diesen Übergang nach Süden geschätzt, um dann die Leventina zu erobern.
– Auch die Eidgenossen benützten den St Gotthard, um sich weit im Süden bis nach Mailand zu wagen und sich in fremde Händel zu mischen, was dann aber zu einer bitteren Niederlage in der Schlacht von Marignago 1515 führte.
Diese Niederlage führte zu einem Rückzug der noch wenigen, nicht gefallenen Schweizer, zurück in die vertrauten Gefilde der Eidgenossen. Diese Schlacht wurde zum Ausgangspunkt der ewig dauernden Neutralität der Schweiz.
– Im dreissigjährigen Krieg (1618-1648) benutzten die spanischen Truppen den Pass als Verbindung zwischen Mailand und den Niederlanden.
– 1799 zog der russische General Alexander Suworow mit seinem Heer von Italien her über den Gotthard.
– Als im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland grosse Nationalstaaten entstanden, richteten sie ihre begehrlichen Blicke wiederum auf den Gotthard. Die Schweiz erbaute darum seit 1886 verschiedene Festungsanlagen.
Das Reduit!
Die Idee der Alpenfestung fand ihren Höhepunkt im Zweiten Weltkrieg mit dem Konzept des Reduit, welches das Gotthardmassiv ins Zentrum des schweizerischen Abwehrdispositivs rückte.
Damit wurde der Gotthard in fast aussichtsloser Situation Bollwerk der Eidgenossenschaft. Fast die ganze Armee wurde hier in diesem Massiv in Festungen unter Boden konzentriert, um diesen Nord-Süddurchgang auf jeden Fall zu sperren.
Unzählige Sprengladungen an Strassen, Eisenbahnnetzen und Tunnels bezeugten den unbedingten Willen zur militärischen Verteidigung im Falle eines Angriffs. Als General Henri Guisan in schwerer Zeit, am 12. Juli 1940, dem Bundesrat seinen Entschluss für die Aufträge der Armee mitteilte, beschrieb er den Auftrag der Armeeeinheiten im Reduit wie folgt:
„die Truppen halten die Alpen- oder Zentralraumstellung, mit grösstmöglichen Vorräten versehen, ohne jeden Gedanken an Rückzug“
Und da spricht sie wieder die Standhaftigkeit: Freiheit – ohne jeden Gedanken an Rückzug! Der Gotthard symbolisiert das Unbezwingbare der Schweiz, das Rückgrat, den Mut. Hier oben gibt es keinen Rückzug, kein Lavieren, kein Wischiwaschi, kein Einlenken, kein Nachgeben. Die Berge machen die Menschen klein und bescheiden. Hier ist kein Platz für menschliche Allmachtsfantasien.
Der Gotthard, dieses zentrale Massiv im Herzen der Schweiz, im Herzen Europas, steht für die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortlichkeit. Wie ein Klotz liegt dieser Granit mitten in Europa, ein Bollwerk, eine ewige Provokation gegenüber der Umtriebigkeit von Regierungen und Verwal-tungen. Das Symbol der freien Schweiz inmitten Europas!
Wenn Europa heute wieder – und einmal mehr! – vor einem etatistischen Scherbenhaufen steht, so gibt uns der Gotthard die Antwort, so offeriert er die Alternative, auf die seit jeher Verlass ist: Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstverantwortung!
Gotthard als Symbol der freien Schweiz
Meine Damen und Herren,
Der Gotthard ist auch heute von grösster Bedeutung. Wir bauen jetzt den längsten Tunnel Europas. Und wo? Natürlich am Gotthard! Täglich hören wir von kilometerlangen Autoschlangen, die durch den Gotthard nach Süden kommen. Wer dieses Nadelöhr in den Händen hat, hat auch heute den strategischen Nord-Süd-Uebergang in seiner Macht.
Wer weiss: Vielleicht kommt schon bald die Zeit, wo wir von diesen Bergeshöhen, von dieser Innerschweiz aus unseren alten Bund erneuern und den wichtigen Grundsatz auf der Grundlage unseres Bundesbriefes – „Wir wollen keine fremden Richter haben“ neu beschwören müssen!
Schlusswort
Meine Damen und Herren,
Öffnen Sie die Augen und Ohren! Schauen Sie hinaus in die Welt! Sie werden sehen, dass Jakob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ recht hat:
„Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind… Denn der Kleinstaat hat überhaupt nichts, als die wirkliche tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Grossstaates, selbst dieses Machtideal, völlig aufwiegt.“
Möge unser Wille zur Freiheit und Unabhängigkeit im Vertrauen auf Gott so fest und unbezwingbar bleiben wie der Granit des Gotthards!
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