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20.01.2006
20.01.2006
Agenda 2006
Rede von Bundesrat Christoph Blocher, anlässlich der 18. Albisgüetli-Tagung der Zürcher SVP am 20. Januar 2006 im Schützenhaus Albisgüetli, Zürich 20.01.2006, Zürich Zürich, 20.01.2006. An der diesjährigen Albisgüetli-Tagung sprach Bundesrat Christoph Blocher über drei Vorlagen, die das Innerste unseres Staatsverständnisses beträfen: das revidierte Ausländergesetz, das Asylgesetz und die Swisscom. Er rief die Zuhörer auf, für alle drei Vorlagen die Ja-Parole im Interesse von Land und Volk und im Interesse einer verantwortungsvollen Politik zu vertreten. Statement von Bundesrat Christoph Blocher vom 29. März 2006 zur Aufregung um die Abligsgüetlirede 2006 (s. unten schriftliche Fassung): "Es geht um eine kurze Passage in meiner Albisgüetlirede 2006. In der schriftlichen Fassung wurden zwei Albaner korrekterweise als schwerer Verbrechen Angeklagte bezeichnet. In der mündlichen Fasssung habe ich an einer einzigen Stelle statt von mutmasslichen Kriminellen von Kriminellen gesprochen. Das war ein Fehler, der mir leid tut. Es war ein sprachliches Versehen. Nie war es meine Absicht, die Albaner als verurteilte Kriminelle hinzustellen." I. Die Albisgüetli Tagung Als vor bald zwanzig Jahren die Albisgüetli-Tagung geschaffen wurde, dachten die Gründer nie daran, dass diese politische Veranstaltung in der Schweiz eine solche Bedeutung bekommen würde. Der Skeptiker waren viele: Man dachte schaudernd an Wahlveranstaltungen mit Politikern, an denen manchmal mehr Podiumsteilnehmer als Zuhörer zugegen waren. Doch alles kam anders: Die Albisgüetli-Tagung ist heute eine landesweit bekannte, politische Institution im besten Sinne des Wortes. Sie darf sich auch dieses Jahr wieder rühmen, wie mir die Organisatoren mitteilten, bereits am ersten Tag sämtliche 1’400 Sitzplätze ausverkauft zu haben. Trotz eines stolzen Eintrittspreises von siebzig Franken. II. Die Anliegen von Volk und Land im Mittelpunkt Was dient dem Land und Volk? Was beschäftigt die Bürgerinnen und Bürger? Was erwarten die Menschen zu Recht von der Politik? Diesen Fragen haben wir uns stets neu zu stellen. Wir wissen heute aus dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, dass die sozialistische Politik Wohlstand und Beschäftigung zerstört. Wir wissen aber auch, dass der Sozialismus ein süsses Gift ist und sich schleichend wieder breit macht. Auch in den westlichen Industriestaaten. Auch in der Schweiz. Der Sozialismus ist das Gegenteil von Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Er behindert die Wirtschaft und zerstört damit Arbeitsplätze. Darum ist die Ordnungspolitik so wichtig: Weniger Regulierungen, weniger Steuern, weniger Abgaben und Gebühren! Das muss im Mittelpunkt stehen. Kämpfen Sie standhaft gegen den überbordenden Staatshaushalt und dessen Folgen. Staatseingriffe führen immer zu höheren Steuern und Abgaben, und darin liegt der Hauptgrund, wenn Arbeitsplätze vernichtet werden. Was wünschen sich die Schweizerinnen und Schweizer von der Politik? Zum Beispiel Sicherheit. Auf der Strasse. In der Schule. Sie fordern auch ein Ende der illegalen Einwanderung und der allgegenwärtigen Missstände in unserer verbürokratisierten Asylpolitik. Sie wollen Schutz vor der daraus resultierenden Kriminalität. Die Unternehmen, die Klein- und Mittelbetriebe, ächzen unter den staatlichen Auflagen, unter den Regulierungen, unter den Gebühren und Steuern. All diese Sorgen und Probleme haben wir in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen. Seien es wir Bundesräte, seien es andere Politiker, oder seien es Sie als Partei. Jeder ist an seinem Ort und auf seine Weise verpflichtet, Volk und Land zu dienen. Da das Albisgüetli immer eine Veranstaltung zum Jahresauftakt ist, sind wir jeweils aufgefordert, in die Zukunft zu schauen. So will ich denn, meine Damen und Herren, auch heute wieder fragen: Was wird uns in diesem neuen Jahr vor allem beschäftigen? Im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung dürften im Wesentlichen zwei grosse Themen stehen: Zum einen das neue Ausländergesetz und das revidierte Asylgesetz, zum andern die Verselbständigung der Swisscom. Für alle Vorlagen sind Referenden angekündigt. Alle Vorhaben werden grosse, grundsätzliche Auseinandersetzungen auslösen. III. Das neue Ausländergesetz Die Ausländer- und Asylpolitik beschäftigt die Schweizerinnen und Schweizer seit Jahren. Nicht die zahlreichen ausländischen Arbeitskräfte, welche in der Schweiz ordnungsgemäss eine Aufenthaltsbewilligung erhalten haben, nicht die Aufnahme von echten Flüchtlingen sind Stein des Anstosses: Nein, all jene, die sich ungerechtfertigt oder gar illegal in unserem Land aufhalten, mit schlimmen Belastungen für Bund, Kantone und Gemeinden. Zeit, Kraft, Geld werden verbraucht. Behörden, Gerichte, soziale Dienste unnötig stark belastet. Das soll sich ändern. Es ist das Anliegen jedes Staates, für seine Bürger zu sorgen. Darum bestimmt heute auch jede Regierung auf dieser Welt, wann Ausländer eine Aufenthaltsbewilligung erhalten – und wann eben nicht. Die Schweiz hat mit einem Ausländeranteil von 21,7 Prozent (Ende 2004) einen der höchsten Ausländeranteile unter den westeuropäischen Staaten! Trotzdem kennt unser Land keine gettoähnlichen Vorstädte mit schwerwiegenden Ausschreitungen und fremdenfeindlichen Übergriffen. Das verdanken wir vor allem einer funktionierenden Wirtschaft, welche es fertig bringt, überhaupt so viele Menschen zu beschäftigen und damit auch zu integrieren. Trotz des hohen Ausländeranteils blieb die Arbeitslosigkeit in der Schweiz in den letzten Jahren eine der niedrigsten in Europa. Daneben gehören das Lohnniveau und die Kaufkraft zu den höchsten weltweit. Zu dieser hervorragenden Bilanz beigetragen hat die seit den 70er Jahren bewährte restriktive Ausländerbestimmung, die einerseits den Inländern Vorrang zugestand und – namentlich in Zeiten wirtschaftlicher Überhitzung – die Höchstzahl neuer ausländischer Arbeitskräfte beschränkte. Nach dem Ja zum freien Personenverkehr mit den EU-Staaten werden nach Ablauf einer besonderen Schutzklausel die EU-Bürger bezüglich des Arbeitsmarktes weitgehend den Schweizer gleichgestellt. Die Folgen dieser Personenfreizügigkeit sind noch ungewiss. Die Chancen und Risiken wurden im Abstimmungskampf dargelegt. Dieses Jahr stimmen wir nun über ein neues Ausländergesetz ab. Dieses regelt im Wesentlichen, unter welchen Voraussetzungen die nichteuropäischen Bürger eine Arbeitsbewilligung beantragen und unter welchen Voraussetzungen sie den Familiennachzug geltend machen können. Ebenso soll mit neuen Regelungen die illegale Einreise wie auch der illegale Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern bekämpft werden. Eigentlich ist es doch für jedermann verständlich, dass die Schweiz ihre Grenzen nicht für alle Menschen aus der ganzen Welt offen halten kann. Nach der sehr grosszügigen Lösung gegenüber den EU-Bürgern (450 Mio. haben theoretisch die Möglichkeit hier zu wohnen und zu arbeiten) versteht es sich doch von selbst, dass völlig offene Grenzen gegenüber allen Staaten der Welt nicht in Frage kommen können, wie dies die SP und die grünen Parteien wollen. Sie bekämpfen deshalb das neue Ausländergesetz. Sie plädieren somit für eine totale Personenfreizügigkeit. Eine solche globale Öffnung würde unser ganzes Sozialsystem kollabieren lassen. Die SVP hat zusammen mit einer Mehrheit von FDP und CVP hier eine verantwortungsvolle Lösung gefunden: Die Bewilligung soll sich bei den aussereuropäischen Ländern vor allem auf Hochqualifizierte und Spezialisten beschränken und äusserst restriktiv gehandhabt werden. IV. Zum revidierten Asylgesetz Einen anderen Bereich regelt das ebenfalls zur Abstimmung kommende revidierte Asylgesetz. Die Schweiz hat nie nur jenen Menschen eine Aufenthaltsbewilligung erteilt, nach denen unser Arbeitsmarkt verlangte. Wir haben stets auch Leute aufgenommen, die in ihrem eigenen Land an Leib und Leben verfolgt waren. Natürlich gab es früher für diese Menschen keine Sozialleistungen oder andere Unterstützungen durch den Staat. Aber man liess sie einreisen und sie wurden von Privaten beherbergt und haben sich dann schnell selbst zu helfen gewusst. Denken Sie an alle die Glaubensflüchtlinge in der Reformationszeit, etwa die Hugenotten. Es waren tüchtige Leute. Auf sie gehen ganze Industriezweige der Schweiz zurück. Ein weiteres Beispiel: 1871 fanden 87'000 Soldaten der geschlagenen Bourbaki-Armee Zuflucht in der Schweiz, womit die Einwohnerzahl unseres Landes innerhalb von drei Tagen um drei Prozent anstieg! Auch im Zweiten Weltkrieg gewährte die Schweiz Verfolgten Schutz. Trotz Unzulänglichkeit der Behörden hat kein Staat der Welt im Krieg mehr Flüchtlinge pro Kopf aufgenommen als unser Land. Später kamen Menschen aus den kommunistischen Staaten. Ich verweise auf die Ungarn, die vor 50 Jahren in der Schweiz Zuflucht fanden. Auch heute nimmt die Schweiz jährlich etwa 1'500 an Leib und Leben verfolgte Flüchtlinge aus der ganzen Welt auf und gewährt rund 4'000 konkret gefährdeten Personen eine vorläufige Aufnahme. Unsere humanitäre Tradition gegenüber Flüchtlingen bestreitet keiner. Und das soll und wird auch so bleiben. Aber, meine Damen und Herren, was wir nicht gelöst haben, sind die enormen Missbräuche, die im Bereich Asylwesen wuchern. Über 85 Prozent aller Asylsuchenden sind keine politischen Flüchtlinge. Viele davon möchten vom hohen Lebensstandard in der Schweiz profitieren. Sie leben von der Sozialhilfe und sind nicht selten in einträgliche Schleppergeschäfte und die organisierte Kriminalität, namentlich in den Drogenhandel, verwickelt. Das ist Asylrechtsmissbrauch. Nichts anderes. Bis vor zwei Jahren wurden diese Missbräuche von vielen Politikern rundweg bestritten – und noch heute gibt es Kreise, die diese unschöne Wirklichkeit leugnen oder verdrängen. Doch diese Probleme müssen ernsthaft angegangen werden, wenn man die Flüchtlingstradition wahrnehmen will. Erste Erfolge konnten bereits durch eine konsequente Praxis erzielt werden. So ist die Zahl der neuen Asylgesuche im vergangenen Jahr um mehr als 29 Prozent zurückgegangen; ein stärkerer Rückgang als in vergleichbaren Staaten der EU. Viel zu hoch ist der Bestand allerdings im Vollzugsprozess. Die bereits erreichte Reduktion um ebenfalls rund 29 Prozent reicht nicht. Das Hauptproblem ist nach wie vor: Der Grossteil der Asylsuchenden kommt ohne gültige Reisepapiere. Es sind nicht in erster Linie die echten Flüchtlinge, die an Leib und Leben bedroht sind, die keine Papiere auf sich tragen, sondern vor allem diejenigen, die keine echten Asylgründe haben. Sie haben ihre Pässe oft versteckt, weggeworfen oder vernichtet. Warum? Weil im heutigen Asylverfahren derjenige, der seine Papiere versteckt oder vernichtet, gegenüber demjenigen, der sich korrekt verhält und seine Papiere vorweist, im Vorteil ist. Wird auf das Gesuch nämlich nicht eingetreten oder nach einer materiellen Prüfung abgelehnt, bleibt die Person häufig doch im Land, da sie in der Regel nicht freiwillig zurückreist und die Behörden sie wegen der fehlenden Dokumente nicht in ihr Heimatland zurückführen können. Dumm sind nicht diejenigen, die dieses System ausnützen, sondern diejenigen, die dieses System zur Verfügung stellen! Meine Damen und Herren, ohne Gesetzesänderung kann der politischen Forderung „Schutz den Flüchtlingen – Verminderung von Missbräuchen“ nicht Nachachtung verschaffen werden. Darum müssen wir die gesetzlichen Grundlagen ändern. Darum sagt das neue Gesetz: Art. 32 Abs. 2 Bst. a sowie Abs. 3 AsylG 2 Auf Asylgesuche wird nicht eingetreten, wenn Asylsuchende: 1. den Behörden nicht innerhalb von 48 Stunden nach Einreichung des Gesuchs Reise- oder Identitätspapiere abgeben; 3 Absatz 2 Buchstabe a findet keine Anwendung, wenn: 1. Asylsuchende glaubhaft machen können, dass sie aus entschuldbaren Gründen nicht in der Lage sind, innerhalb von 48 Stunden nach Einreichung des Gesuchs Reise- oder Identitätspapiere abzugeben; 2. auf Grund der Anhörung sowie gestützt auf die Artikel 3 und 7 die Flüchtlingseigenschaft festgestellt wird; oder 3. sich auf Grund der Anhörung erweist, dass zusätzliche Abklärungen zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft oder eines Wegweisungsvollzugshindernisses nötig sind. Sie sehen: Auch Asylsuchende, die keine Papiere auf sich tragen, können in Zukunft als Flüchtlinge angenommen werden. Aber Papiervernichtung darf nicht mehr zur Belohnung führen! Ist es denn zu viel verlangt, dass jemand – sei er Flüchtling oder nicht – sagt, wie er heisst und woher er kommt? Was soll da gegen die „humanitäre Tradition“ verstossen? Es geht nicht gegen echte Flüchtlinge, aber gegen Asylsuchende, die keine Asylgründe in unser Land führen, vielmehr unter Anleitung von Schleppern ihre Papiere vernichten, verstecken oder absichtlich nicht vorweisen. Um Leute, die ihren Namen, ihren Wohnort, ihr Heimatland und ihr Alter fälschen oder verheimlichen. Meine Damen und Herren, auch das geänderte Asylgesetz gewährleistet und garantiert selbstverständlich den Schutz für echte Flüchtlinge in unserem Land, aber ebenso entschieden sollen damit die eklatanten Missstände im Asylwesen beseitigt werden. Nur diese Kombination verschafft uns eine glaubwürdige und vertretbare Flüchtlingspolitik. Sie alle kennen aus den Medien Berichte von besonders krassen Beispielen. Etwa der Fall der Roma-Familie aus Rüschlikon. Mehrfache schwere Gewalttaten, Kosten in Millionenhöhe, negativer Asylentscheid – und trotzdem lebt die Familie noch immer hier. Warum? Dieser Fall lag jahrelang bei der Asylrekurskommission. Sie haben es gehört, diese Woche wurde endlich entschieden. Der Vater und der volljährige Sohn müssen gehen, die anderen dürfen einstweilen bleiben. Die Asylrekurskommission ist eine so genannt „selbständige“ Kommission. Das heisst, sie entscheidet „unabhängig“ und lässt sich dabei nicht in die Karten blicken. Es ist gut, dass jetzt ein Urteil vorliegt, aber es ist natürlich schlecht, dass dies so lange gedauert hat. Die Asylrekurskommission gehört ab 2007 zum Bundesverwaltungsgericht. Hoffen wir, dass dieses neue Gericht neben der rechtlichen Verantwortung auch an die Folgen denkt, welche immer wieder hinausgeschobene Entscheide für unser Land bedeuten. V. Am Ort des Nichtgeschehens Ich bin es mir als Unternehmer gewohnt, den Sachen im Alltag nachzugehen. So besuche ich ab und zu auch Aussenstellen und Empfangszentren; jene Orte also, wo die Asylsuchenden eintreffen und erste Abklärungen getroffen werden. Ich pflege dort jeweils unangemeldet aufzutauchen. So begab ich mich vor einem Jahr zur Asylunterkunft am Flughafen Zürich. Die dort anwesende Leiterin schaute mich mit ziemlich grossen Augen an, weil der Besuch eines Bundesrates doch eher ungewöhnlich ist. Normalerweise erscheint dort kein Justizminister. Ich fragte die Frau, wie es so gehe. Sie gab mir zunächst ausweichend Antwort, und ich hakte nach, ob sie sehr viel zu tun hätte. Die Frau meinte, eben nicht: „Wir verzeichneten in den letzten Tagen eigentlich wenig Neueingänge.“ – „Sie brauchen gar nicht so betrübt zu schauen“, antwortete ich, „das sind keine schlechten Nachrichten.“ Aber, schob sie dann nach, gerade heute morgen seien sieben Tamilen angekommen und die hätten gleich sechs weitere für den kommenden Montag angekündigt. „Ja, kommen denn jetzt wieder Tamilen? Aber warum denn?“ So weit ich wisse, gäbe es zurzeit in Sri Lanka keine politischen Verfolgungen mehr. Sie kenne die genauen Gründe auch nicht, meinte die Dame. Jedenfalls befänden sich die sieben Gesuchsteller gleich im ersten Stock in einer Befragung. Es war kurz vor Mittag, ich stieg die Treppe empor und ging unangemeldet in das betreffende Zimmer. Die sieben Männer hatten den Raum bereits verlassen, doch die Sachbearbeiter waren noch da. Ich sprach mit ihnen und fragte, woher die sieben Männer denn genau herkämen. „Sie sind von Colombo nach Warschau geflogen und heute mit der Swiss in der Schweiz gelandet. Alle ohne Papiere.“ – „Keine Papiere? Wie konnten sie dann fliegen? In Polen werden sie wohl noch mit Dokumenten umgestiegen sein.“ Da trat ein Herr vom Nebenraum hinzu und zeigte eine Schale voller verschnitzelter, zerfetzter Pässe. Ich fragte: „Woher haben Sie denn diese Papiere?“ – „Die hat uns eben eine Putzfrau aus den Toiletten des Flughafens gebracht.“ Sie denken vernünftigerweise, die jungen Männer müssten folglich unverzüglich wieder nach Colombo zurückfliegen. Der neben mir stehende Polizeiverantwortliche sagte, das wäre an sich keine Sache, auch würden die Behörden die Personen ohne Weiteres zurücknehmen, selbst ohne Pässe, nur würde das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge einer sofortigen Rückführung wohl nicht zustimmen. Jeder Gesuchsteller müsse zuerst in ein Empfangszentrum überführt und dort das ordentliche Asylverfahren durchlaufen. Jemand der Anwesenden fügte noch hinzu, dieses Prozedere führe dazu, dass diese sieben Männer wohl monatelang hier bleiben würden, auch wenn sie keine Flüchtlinge sind. Ich fragte, wo sich die Tamilen jetzt aufhalten würden. Sie seien eben in die Schlafräume gegangen. „Kann ich sie mal sehen?“ Man bejahte und ich stieg in den Schlafraum hinauf mitsamt meinem Weibel in seiner ordnungsgemässen grünen Uniform. Kaum öffneten wir die Türe, sprangen alle sieben unverzüglich von ihren Pritschen auf und stellten sich wie eine Gruppe junger Soldaten in Reih und Glied auf, da sie im Weibel wohl einen Polizisten vermuteten. Prächtige Burschen, wahrscheinlich fleissige Kerle. Ich fragte, ob sie etwas Englisch verstünden. Der erste bejahte. Ich fragte, woher sie kämen? Aus Colombo. Dann wollte ich wissen, warum sie in die Schweiz geflohen seien. Da riefen alle sieben gemeinsam: "Tsunami, Tsunami, Tsunami". Interessant, fand ich, nur der Tsunami wütete doch an der Ostküste Sri Lankas. Colombo befindet sich genau auf der gegenüber liegenden Seite. Wenn Leute aus Colombo aufgrund des Tsunami um Asyl fragen, ist das etwa ähnlich absurd, wie wenn nach einer Überschwemmung im Tessin plötzlich die Zürcher Oberländer bei ihrer Versicherung Schadensfälle anmelden. Als ich die Gruppe auf diese Absurdität ansprach, verstand keiner mehr Englisch… Ich bin diesem Asylgesuch im Verlaufe des Jahres systematisch nachgegangen, weil mich interessierte, wie ein solch offensichtlicher Missbrauch konkret abläuft: Bei sechs von diesen sieben Asylsuchenden sind die Verfahren abgeschlossen worden. Das Asylgesuch ist abgelehnt, bei der siebten Person ist noch ein Rekurs bei der ARK hängig. An sich wäre das speditive Verfahren als Erfolg zu werten. Die Gesuchsteller, die den negativen Entscheid erhalten haben, sind in der Zwischenzeit untergetaucht, so dass wir keine geordnete Rückführung nach Sri Lanka vornehmen konnten. Meine Damen und Herren, solche und ähnliche Dinge passieren täglich. Tausende im Jahr. Wir haben heute rund 50'000 Personen im Asylprozess. Letztes Jahr haben rund 10'000 Personen ein neues Asylgesuch gestellt. Von ihnen haben 1'497 Personen oder 13,6 Prozent den Flüchtlingsstatus erhalten, während weitere 4'436 Personen eine vorläufige Aufnahme erhalten haben. Die anderen müssen unser Land wieder verlassen. Und zwar möglichst rasch. Es gibt heute nicht genügend gesetzliche Grundlagen, um solche Leerläufe zu beseitigen und in Zukunft wirkungsvoll zu handeln. Aber unsere Rechtsordnung darf keine Plattform bieten für systematische Missbräuche und Missstände. Neben einer unsinnigen Bürokratie bedeutet die bestehende Gesetzgebung auch eine enorme finanzielle Belastung für den Bund, die Kantone und die Gemeinden und damit für die Bevölkerung. Wenn wir die Gesamtkosten im Asylwesen auf die tatsächliche Zahl der anerkannten Flüchtlinge herunterrechnen, kostet ein rechtmässiger Flüchtling eine Million Franken. Ist das „humanitär“? Ist das intelligent? Ist das der Bevölkerung noch weiter zuzumuten? Auch die letztlich in der Presse eingehend dargestellten Fälle müssen zu anderen Lösungen führen. Hier ein letztes Beispiel: Zwei international gesuchte Albaner stellten 2004 ein Gesuch um Asyl. Der eine wird beschuldigt, fünfzehn Überfälle begangen, zwei Menschen ermordet und ein Kind entführt zu haben. Ausserdem soll er an mehreren tödlichen Attentaten beteiligt gewesen sein. Sein Asylkumpane wird der Beteiligung an immerhin fünf Raubüberfällen verdächtigt. Das Bundesamt für Flüchtlinge entschied umgehend: Die Asylanträge wurden abgelehnt. Das Bundesamt für Justiz verfügte – nach einer ordentlichen Überprüfung der Anschuldigungen – die Auslieferung der beiden Albaner. Ein klarer Fall? Ja. Aber nicht für die Asylrekurskommission: Sie heisst eine Beschwerde der Albaner gut. Beide erhalten Asyl. So wurden aus zwei schwerer Verbrechen Angeklagten zwei Flüchtlinge. Um die Geschichte noch zu vervollständigen: Der Entscheid war letztinstanzlich, auch das Bundesgericht verfügte die Freilassung und liess die Kosten für Anwalt, Dolmetscher, Übersetzung erstatten und sprach zudem eine Haftentschädigung zu. Auch wenn das neue revidierte Asylgesetz durch das Volk bestätigt wird, geht unsere Arbeit weiter. Denn es bleiben noch einige Mängel im Asylrecht, wie dieses Beispiel eindringlich zeigt. VI. Gebt dem Staat nur, was dem Staat gehört Neben dem Asyl- und Ausländergesetz werden wir uns 2006 noch mit einer Vorlage ganz anderer Art zu befassen haben. Es geht um die Frage, wie viel Staat ein Unternehmen im freien Wettbewerb erträgt oder ob der Staat seine Verantwortung als Unternehmer im freien Wettbewerb wahrnehmen kann. Ich rede von der Swisscom und damit von einem scheinbar privatisierten Betrieb, der aber noch immer zu zwei Dritteln dem Bund gehört. Im November stand die Swisscom kurz vor der Übernahme einer irischen Telekomgesellschaft, was den Bundesrat zu einigen grundsätzlichen Entscheiden veranlasste. Der Bundesrat war der Meinung, dass dieses Auslandengagement zu risikoreich sei und darüber hinaus Folge einer falschen Strategie. Zudem forderte der Bundesrat die Swisscom auf, das überschüssige Kapital an die Aktionäre abzuführen. Damit würde künftig das Geld für solche Abenteuer fehlen. Drittens will der Bundesrat dem Parlament möglichst bald eine Vorlage unterbreiten, die die Entflechtung von Staat und Swisscom vorantreibt. Als privatisiertes oder privates Unternehmen kann die Swisscom frei handeln. Die Grundversorgung ist durch das Gesetz gewährleistet. Die Parallelen zur ehemaligen SWISSIAR sind eklatant. Auch die Swisscom kommt wie die frühere SWISSAIR aus einem mehr oder weniger regulierten Markt heraus. Dieser vormals geschützte Heimmarkt beginnt zu bröckeln und wächst nicht mehr. Noch stimmen die Erträge. Noch scheint der Erfolg gesichert. Doch die Firma stagniert auf ihrem gesättigten Heimterrain. Nun kommt die Versuchung, im Ausland Unternehmen hinzuzukaufen. So wird die Firma zwar grösser, doch die Probleme bleiben die gleichen. Im Gegenteil: Die Risiken nehmen zu. Denn die Telekommunikationsunternehmen im Ausland kranken alle am gleichen Problem: Auch sie können nicht wachsen. Auch sie werden bedrängt von neuen Kommunikationstechnologien und anderen Wettbewerbern. Wenn Sie ein Unternehmen mit den gleichen Problemen kaufen, an denen auch Ihr eigenes leidet und meinen, damit die Lösung gefunden zu haben, hat das mit der Hoffnung auf ein Wunder zu tun. Minus mal minus gibt nur in der abstrakten Welt der Mathematik plus. In der Geschäftswelt gehen Sie unter. Die Swisscom versuchte schon vor zehn Jahren sich im Ausland zu etablieren – und scheiterte jedes Mal: In Indien, Malaysia, Tschechien, Ungarn und Österreich. Bei der deutschen Debitel setzte die Unternehmensleitung sogar 3,3 Milliarden Franken in den Sand. Statt die Strategie zu ändern wurde als Nächstes eine Fusion mit der österreichischen Tele Austria angestrebt. Was zum Glück schon vor der Unterschrift scheiterte. Und nun sollte es plötzlich die hoch verschuldete Eircom sein, beziehungsweise die dänische Gesellschaft TDC. Der Bundesrat hat deshalb am 23. November 2005 einen wichtigen Entscheid gefällt und diesen Weg unterbunden. Eine Swisscom kann – so lange der Staat Mehrheitseigentümer ist – solche Risiken nicht eingehen. Das lässt die Verantwortung gegenüber unserem Volk nicht zu! Fehlentscheide, Misserfolge im Ausland würden nicht nur zu einer Krise des Unternehmens selbst führen, sondern eine Staatskrise auslösen. Denn die Schweiz müsste nicht nur wie gewöhnliche Aktionäre haften, sondern wäre als Mehrheitsaktionär und Staat zu einer Haftung weit darüber hinaus verpflichtet. VII. Unternehmen in freiem Wettbewerb gehören nicht dem Staatsbesitz In einem freien Wettbewerb darf der Staat nicht als Unternehmer auftreten. Er ist grundsätzlich der falsche Eigentümer. Erst recht, wenn damit eine internationale und damit zwangsläufig risikoreiche Tätigkeit verbunden ist. Es kann doch nicht Aufgabe des Staates Schweiz sein, in Tschechien, Ungarn, Österreich, Malaysia, Indien und nun neuerdings auch in Irland und Dänemark den Service Public zu garantieren. Oder stellen Sie sich vor, das Schweizer Fernsehen würde plötzlich ins Ausland expandieren und den „Samschtig Jass“ in Irland und Malaysia programmieren. Und Sie würden diesen Flop durch ihre Gebühren finanziell mittragen. Der Bundesrat ist eine politische Behörde und nicht dafür gewählt, Unternehmen zu führen. Trotzdem trägt er die Verantwortung für die dem Staat gehörenden Unternehmen. Diese Verantwortung nicht wahrzunehmen – sei es aus Unfähigkeit, Furcht oder Schlamperei – das geht nicht. Darum hat der Bundesrat entschieden. Spät zwar, aber gerade noch rechtzeitig und richtig. Es gibt keinen Grund mehr, warum die Schweiz Eigentümerin der Swisscom sein soll. Das war zur Zeit der PTT noch sinnvoll und richtig, als diese den ganzen Fernmeldebereich abdeckte. Das ist heute nicht mehr so. Die Grundversorgung ist auf jeden Fall durch das Gesetz gewährleistet, auch wenn die Swisscom verselbstständigt würde. Telekommunikationsunternehmen reissen sich in der Schweiz um die Erlaubnis, diese Grundversorgung übernehmen zu dürfen. Bis 2007 ist dieses Privileg der Swisscom zugesprochen. Dann muss dieser „Grundversorgungsauftrag“ – so heisst die letzte Meile fälschlicherweise noch immer – neu ausgeschrieben werden. Was lehrt uns diese Swisscom-Geschichte? Anders als Philosophen müssen Politiker nicht schöne Theorien verkünden und Visionen verfolgen, sondern konkrete Probleme lösen. Der Bundesrat hat die Gefahren erkannt, schnell und wirksam gehandelt. VIII. Schlusswort Meine Damen und Herren, Wir stehen am Anfang des politischen Jahres 2006. Die drei genannten Vorlagen – das revidierte Ausländergesetz, das Asylgesetz und die Swisscom – gehen weit über simple rechtliche Fragen heraus. Alle drei Vorlagen betreffen das Innerste unseres Staatsverständnisses. An der Albisgüetli-Tagung 2006 rufe ich Sie auf, für alle drei Vorlagen die Ja-Parole im Interesse von Land und Volk und im Interesse einer verantwortungsvollen Politik zu vertreten. Sie haben richtig gehört. Ich habe drei Mal Ja gesagt. In den vergangenen Jahren musste die SVP oft NEIN sagen im Interesse von Land und Volk, weil Lösungen angeboten wurden, welche die SVP nicht mitragen konnte. Man hat uns lange als „Nein-Sager-Partei“ tituliert. Ich habe darauf immer entgegnet: Man stellt uns halt die falschen Fragen. 2006 werden die Fragen richtig gestellt: Wollen Sie ein wirksames Asylgesetz gegen den kostspieligen und ärgerlichen Asylrechtsmissbrauch? Wollen Sie ein Ausländergesetz, das die Zuwanderung auf sinnvolle Weise regelt, damit wir die Zahl der Illegalen eindämmen können? Wollen Sie die Swisscom in die unternehmerische Freiheit entlassen, ohne dass deswegen irgendjemand auf seine Telefonleitung verzichten muss und ohne, dass das Schweizer Volk Milliarden verliert? Heute kann ich Sie als Bundesrat aufrufen, bei drei wichtigen Regierungsvorlagen JA zu sagen und für dieses gemeinsame Ja zu kämpfen! Weil die Vorlagen gute Lösungen beinhalten! Das heisst aber nicht, dass Sie bis in alle Zukunft zu jeder Bundesratsvorlage nur noch Ja und Amen sagen müssen…
12.01.2006
Eine gefährliche Situation
«Christoph Blocher glaubt, dass der jetzige Bundesrat besser entscheidet als der vorherige. Der Justizminister über Freundschaft in der Regierung, praxisferne Konzernchefs, Fehler der Linken und den Fluch, wieder Unternehmer sein zu müssen.» 12.01.2006, Facts, Othmar von Matt Herr Blocher ... nein. Entschuldigung. Herr Bundesrat... (Lacht) Danke vielmals, ich hatte es ganz vergessen. Hört sich für Sie «Bundesrat Blocher» noch aussergewöhnlich an? Nein. Ich bin Bundesrat, und in diesem Amt fest zuhause. Ein wenig aussergewöhnlich war es die ersten Tage. Mussten Sie auch selbst einmal über den «Bundesrat Blocher» lachen? Nein, ich hatte nie eine andere Vorstellung von einem Bundesrat. Ich wusste: Ich habe ein neues Amt. Jetzt heisst es halt «Herr Bundesrat», zuvor hiess es «Herr Nationalrat». Welche Phasen haben Sie erlebt in Ihren zwei Jahren als Bundesrat? In der ersten Phase schloss ich mich für drei Monate ein. Die Leute fanden es komisch, dass ich nicht kommunizierte, aber ich musste sehen, was mich erwartet. Ich arbeitete zwanzig Stunden pro Tag, vertiefte mich in alle Probleme. Dann wusste ich, was ich mache. Ich musste viele Vorlagen ändern. Welche Phasen kamen dann? Ich musste den Weg suchen, mich durchsetzen. Das war nicht einfach. Vorallem auch gegen die Verwaltung. Jetzt kenne ich die Leute, die Mitarbeiter. Seit einem Jahr bin ich gut installiert. Dann wurde die Arbeit auch im Bundesrat intensiver. Zu Beginn hatte ich dafür nicht so viel Zeit und Kraft. Sie mischen sich stark ein. Ich rede nicht in andere Departemente hinein. Aber ich sehe mir alles sehr genau an, was wir im Bundesrat beschliessen. Und ich beurteile es. Das betrachte ich als meine Aufgabe. Ich trage Mitverantwortung. Wie charakterisieren Sie Ihre Stellung im Bundesrat heute? Ich bin einer von sieben. Es ist nicht so, dass ich eine dominante Stellung einnehme. Aber ich trage, wie jeder, ein besonderes Spektrum in diesen Rat - vielleicht das Unternehmerische, Wirtschaftliche, Finanzielle. Und man merkt, dass heute zwei SVP-Leute im Bundesrat sitzen. Die SVP-Politik wird stärker vertreten als früher. Mit Ihnen in der Leaderrolle? Nein. Ich muss alles über die Überzeugung schaffen, nicht, weil ich ein Leader bin. Nach aussen hin rumpelt das ein bisschen, das spürt man. Es gibt natürlich Erschütterungen, wenn jemand, der zuvor in der Opposition war, seine Ideen stark in der Regierung einbringt. Aber wir haben eine gute, sehr zielgerichtete Diskussion im Bundesrat. Sie loben die SVP-Vertretung. Das heisst: Samuel Schmid ist für Sie inzwischen kein «halber Bundesrat» mehr? In der Grundausrichtung decken wir uns. Obwohl natürlich nicht jeder in jedem Geschäft dieselbe Auffassung hat. Wie hat sich der Bundesrat verändert, seit Sie dabei sind? Bundesräte, die schon vor 2003 dabei waren, sagen mir, man diskutiere viel intensiver. Zudem haben wir keine schwerwiegenden Fehlentscheide getroffen. Wir gründeten keine Swiss, schafften keinen Solidaritätsfonds und keine Expo mit Milliardenverlusten. Das ist schon viel. Prästieren das die Bundesräte gut? Ich habe das Gefühl, ja. Auch Moritz Leuenberger? Das müssen Sie ihn fragen. Wir haben verschiedene Auffassungen, er ist ein Sozialdemokrat, ich bin ein Bürgerlicher. Ich entscheide nicht im Bundesrat. Es wird abgestimmt. Zwischen Ihnen und Leuenberger herrscht auch persönlich nicht gerade tiefe Freundschaft. Freunde waren wir nie. Das müssen wir aber auch nicht, um im Bundesrat zu sitzen. Auch mit den anderen war ich nie befreundet. Es wäre auch nicht gut, wenn dies sieben Freunde wären. Ich halte nichts von Kameraderie. Hass und Verachtung ist aber nicht vorhanden. Was hat Sie in diesen zwei Jahren im Bundesrat am meisten überrascht? Dass ich Anträge einbringen konnte - und mit vielen durchdrang. Das hätten Sie nicht erwartet? Ich kam von aussen, hatte den Bundesrat oft kritisiert. Es hätte sein können, dass sich die Bundesräte sagen: Jetzt zeigen wir es ihm, hören ihn nicht an, diskutieren nicht mit ihm, lehnen jeden Antrag von ihm ab, jede Vorlage. Phasenweise geschah das. Es gab einzelne Entscheide, bei denen ich das spürte. Gesamthaft gesehen war das aber nicht der Fall. Einzelne Bundesräte machten das vielleicht, die Mehrheit aber nicht. Ich kann keinen wesentlichen Antrag aus dem eigenen Departement nennen, mit dem ich deswegen gescheitert wäre. Dieser Bundesrat entscheidet besser als der vorangegangene. Warum? Geheimes, Hinterrückiges, Hinterhältiges ist viel grausamer als es offene Diskussionen sind. Ich habe mit früheren Bundesräten über Interna gesprochen. Wer sagt, damals sei alles wunderbar gewesen, täuscht sich. Es gab Zeiten, in denen es im Bundesrat Tränen absetzte. Das gab es in den letzten zwei Jahren nie. Hier ist etwas geschehen. Oft erfährt man heute das Abstimmungsresultat im Bundesrat. Das ist unkorrekt, aber mehr Transparenz könnte nützen. Natürlich muss man aufpassen, dass das System nicht zu sehr belastet wird. Hat der Bundesrat entschieden, darf man nicht mehr gegen diesen Beschluss antreten. Daran halte ich mich. Ganz am Anfang war es ein wenig schwierig, weil ich Vorlagen meiner Vorgängerin vertreten musste. Das waren Übergangsschwierigkeiten, die es bei einem Politiker mit einer starken Meinung geben darf. Sie sind mit dem Bundesrat zufrieden - und sogar SVP-Präsident Ueli Maurer ist es. Das heisst: Die Politik läuft nach Ihrem Gusto. Wenn man so tut, als ob dieser Bundesrat nicht funktionsfähig sei, dann kennt man die Fakten nicht. FDP-Präsident Fulvio Pelli sagt aber, der Zufall regiere die Schweiz. Das ist halt in der direkten Demokratie so. Das ist das Resultat eines Kräfteverhältnisses. Und das ist gar nicht so schlecht - und ist nicht neu, war immer so. Viele ausländische Politiker können es fast nicht verstehen, dass die Schweiz so funktioniert. Der Beweis ist, dass es funktioniert. Sie steht sogar besser da als die meisten Länder mit sauber strukturierter Regierung und Opposition und einem starken Präsidentensystem. Die Bürger haben zudem mehr Freiheiten als in anderen Staaten. Ist das jetzt ein klares Bekenntnis zur Konkordanz? Wir haben sie. Sie hat Vor- und Nachteile. Hätten wir die direkte Demokratie nicht, wäre ich aber nie für die Konkordanz. Dann fehlte uns die Opposition. Unsere Opposition ist eigentlich das Volk, es ist der Richter. Deshalb funktioniert die Konkordanz. Und dafür bin ich. Ein Plädoyer für zwei Sozialdemokraten in der Regierung? Solange es die Konkordanz gibt, zählt die Grösse der Partei. Die SP-Bundesräte bleiben in der Regierung. Dagegen habe ich nie etwas eingewendet. Die «SonntagsZeitung» schrieb aber, Sie arbeiteten an einem Hinauswurf der SP-Bundesräte. Warum sie dies schreiben, ist mir schleierhaft. Ich wüsste nicht, wo ich das gesagt haben sollte. Ich arbeite nicht darauf hin. Komischerweise sagt niemand, dass die Sozialdemokraten dies tun. Sie wollen Blocher und die SVP aus der Regierung haben, und erklären dies. Suchen Sie die bürgerliche Vorherrschaft? Nein. Aber jeder, der eine Meinung und eine Überzeugung hat, will diese durchsetzen. Natürlich will ich etwas durchsetzen, wenn ich überzeugt bin davon. Welche längerfristigen Ziele haben Sie mit der Schweiz? Es ist nicht so, dass wir schon sehr viel erreicht haben. Wir haben zwar Projekte, die das Aufgabenwachstum bremsen sollen. Aber im Moment stecken wir in einer gefährlichen Situation. Der Wirtschaft geht es viel besser. Dies gibt höhere Einnahmen. Trotzdem haben wir eine grosse Überschuldung. Und sehen wir uns die finanzielle Situation ausserhalb des Bundeshaushaltes mit den grossen Pensionskassen an, wird klar: Wir haben noch vieles vor uns. Damit die Schweizer Wirtschaft konkurrenzfähig bleibt, wir Vollbeschäftigung und Arbeitsplätze halten können, müssen wir sehen, dass der Staat weniger reguliert. Da stehen wir noch am Anfang. Was muss geschehen und wie lange dauert es? Das kann ich nicht sagen. Ich spüre, dass die Einsicht wächst. Immer mehr Leute sind von der Selbstverantwortung überzeugt. Ein Wandel hat vor allem bei den Jungen eingesetzt. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass wir Boden fassen. Wie wichtig das ist, zeigt das Beispiel Deutschland: Man kann ein Schiff kaum mehr wenden, ist es zu lange in die falsche Richtung gefahren. Früher haben Sie selbst einen deutschen Kanzler als Vorbild erwähnt: Konrad Adenauer, der 14 Jahre im Amt blieb. Ihnen verbleiben also noch zwölf Jahre - bis 2017. Was liegt da noch drin? Ich sagte, mein Rücktritt sei aufs Jahr 2026 vorgesehen. (Lacht) So alt war Adenauer, als er zurücktrat. Damit hätten Sie eine deutlich längere Regierungszeit als Adenauer. Ja, aber Adenauer war Kanzler. Das zählt doppelt. Sie benötigen länger? Ja, weil ich nur Bundesrat bin. Wichtig ist, dass man sein Gedankengut einbringt. Man muss gar nicht immer ein klares Projekt haben. Gedanken sorgen für ein Umdenken, hin zu den Eigenschaften, die die Schweiz stark gemacht haben. Sie war ein ökonomisch armes Land, das reich wurde. Die Schweiz hat mit ihrer direkten Demokratie einen hohen Freiheitsgrad. Und es gibt Kreise, die die direkte Demokratie zerstören wollen. Sie finden, Demokratie sei nicht zeitgemäss. Diese Ideen kommen nicht nur von den Linken, die in die EU und damit alles aufgeben wollen. Diese Ideen kommen vor allem aus der Wirtschaft und von Avenir Suisse. Ja. Die Kreise, die das denken, sind weit weg von der Praxis. Dahinter stecken auch Topmanager von globalen Konzernen. Ja, das stimmt. Ich sage nicht, dass wir auf die Knie sinken sollen, sobald Manager aus globalen Konzernen einen Gedanken äussern. Natürlich höre ich in wirtschaftlichen Dingen stark auf sie, doch in Sachen direkter Demokratie liegen sie falsch. Sie glauben, ohne direkte Demokratie werde ein Staat liberal, habe eine kleinere Ausdehnung. Direkte Demokratie aber bremst den Staat tendenziell. Wie soll die Schweiz aussehen, wenn Sie zurücktreten - 2017 oder 2026? Das weiss ich nicht. (Lacht). Soweit muss ich jetzt nicht denken. Das ist Ihnen egal? Nein, egal ist es mir nicht. Aber ich kann nicht sagen, wie sie zu jenem Zeitpunkt genau aussieht. Was soll denn einst im Geschichtsbuch über Sie stehen? Das kann man sowieso erst in 150 Jahren beurteilen. Ich arbeite nicht an meiner Geschichtsschreibung. Eine Schweiz als unabhängiges, freiheitliches Land, das nicht jeden Trend im Ausland mitmacht, hat grosse Chancen. Diese Chancen nehmen zu, das spürt man. Die Vereinheitlichung, die die EU als Ziel hat, ist nicht die Lösung. Auch das spürt man immer mehr. Es ist enorm wichtig, dass alle Bürger an der Staatsgestaltung mitwirken. Ich bin davon überzeugt, dass man dem Staat wenig Macht geben soll, damit sich der Bürger entfalten kann. Ich hoffe, die Situation ist bei meinem Rücktritt besser, als sie es 2003 war, als ich Bundesrat wurde. Hat sie sich seither gebessert? Sie ist schon besser. Wenig nur. Aber sie ist besser. Lässt sich das jetzt mit fünf multiplizieren in der Ära Blocher? Das hängt nicht von einer Person ab, sondern von der Zeitströmung, der geistigen Verfassung, der Diskussionskultur. Deshalb lege ich solchen Wert auf Auseinandersetzungen, Transparenz und Wettbewerb der Ideen und Grundauffassungen. Kommen Ihnen die Zeiterscheinungen entgegen? Sie ändern sich in meine Richtung. Man ist skeptisch gegenüber dem Anspruch, der Staat solle alles regeln. Die Leute realisieren, dass das auf die Dauer nicht geht. Deshalb die unglaubliche Nervosität der Sozialdemokraten und der Grünen. Sie realisieren, dass ihnen die Felle davonschwimmen. Nur machen Sie einen Fehler: Sie fokussieren auf mich. Sie geben mir viel zu viel Macht und Bedeutung. Sie stellen Ihr Licht jetzt unter den Scheffel. Man kann mir den Vorwurf machen, dass ich meine Ideen konsequent vertrete. Aber eine Person alleine kehrt ein Land nicht. Schon gar nicht in der Schweiz. In Ihrem Büro soll eine Karikatur von Raymond Burki hängen. Sie zeigt Sie auf einem Wagen, mit der Peitsche in der Hand, wie Sie den Bundesrat dirigieren. Sie ist zwar jetzt nicht zu sehen... (zeigt nach rechts, wo die Karikatur hängt) Doch, diese da. Er hat sie gezeichnet, als ich Bundesrat wurde. Und sie wurde mir geschenkt. (Ein schelmisches Lachen überzieht sein ganzes Gesicht). Diese Karikatur gefällt Ihnen offensichtlich sehr gut. Ja. Es gibt ein Anker-Bild, auf dem sieben Kinder mit diesem Wagen zu sehen sind. Burki hat die Kinder durch Bundesräte ersetzt und sagte, ich soll den Fuhrmann spielen. Aber ich hätte sie auch aufgehängt, wenn er mich anders dargestellt hätte. Er hat Sie nun einmal in einer sehr dominanten Rolle gezeichnet. Ja, ja. Ich komme sogar zweimal vor. Als Blocher, der auf dem Bild ist und als Blocher, der das Bild zeigt. Sehen Sie, am unteren Rand: Da zeige ich die Karikatur. Das beweist: Diese Rolle gefällt Ihnen sehr. Nein. (Überlegt) Nein. Nein. Da haben Sie nicht recht. Ich wäre zufrieden, müsste ich im Bundesrat nichts sagen. Wie bitte? Liefe es, wie ich es für richtig halte, würde ich lieber nichts sagen. Reagieren andere, mache ich nichts. Machen andere nichts, reagiere ich. Aber ich muss mich zwingen. Jedesmal. Schon wieder muss ich etwas machen. Gopfnomal. Ich spiele keine Rolle. Ich muss mich wehren gegen diese Rolle. Und der Fluch lastet auf mir, hier wieder Unternehmer sein zu müssen. Ich wäre froh, es nicht mehr sein zu müssen. Immerhin schreiben Sie zu allem und jedem Mitberichte. Ja. Aber nicht aus Lust. Sondern aus Pflicht. Aber ich bin froh, wenn ich etwas nicht entscheiden muss. In der Schweiz sind grosse Ängste vorhanden vor dem Kurs der Regierung mit Ihnen. Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss sagte in FACTS: «Blocher macht mir Angst. Ich fürchte, dass er unsere Institutionen gefährdet.» Vor einem Gegner hat man halt Angst. Ich hatte auch Angst vor Frau Dreifuss, gottvergessene Angst davor, was sie alles kaputt machte mit ihrer Politik. Selbst der frühere Präsident der Freisinnigen Franz Steinegger sagt inzwischen, die Rechtsbürgerlichen suchten nicht mehr den Konsens. «Sie wollen die neoliberale Revolution.» Steinegger machte mir auch Angst, wie er die Dinge schleifen liess. Er scheiterte ja als Präsident der FDP. Dabei hätten wir diese Partei benötigt. Haben Sie selber auch Ängste? Natürlich. Ich habe immer Ängste, schon immer gehabt. Das ist in der Verantwortung so. Ich habe aber nicht mehr schlaflose Nächte, als ich sie als Unternehmer hatte. Da stand ich alleine, war verantwortlich für 3000 Familien. Dies ist im Bundesrat anders. Hier trage ich nur einen siebtel der Verantwortung. Angst darf man haben. Es gibt keinen angstlosen Zustand, wenn man in der Führung steht. Macht Angst Sinn? Angst bewahrt vor Fehlentscheiden und vor leichtfertigem Handeln. Angst ist ein gutes Hindernis dafür, sich zu stark nach aussen zu wenden. Aber Angst ist nichts Angenehmes. Finanzielle Ängste habe ich heute nicht mehr, ich bin als ehemaliger Unternehmer ja vermögend. Aber ich habe Angst, dass im Land etwas schief geht. Dass die Konkurrenz für dieses Land zu gross wird. Dass wir Fehlentscheide treffen. Das ist der normale Zustand.
24.12.2005
«Meine Freunde sind entäuscht von mir»
Was er auch tut, er macht es mit Herzblut. Mit einem inneren Feuer. Und mit messerscharfem Verstand. Christoph Blocher bewegt. Nicht nur die Politik. Sondern auch die Menschen. Sie hassen oder lieben ihn – etwas dazwischen gibt es kaum. Als Oppositioneller schaffte er vor zwei Jahren den Sprung in den Bundesrat. "Und ich bin froh, dass ich mich für dieses Amt entschieden habe", sagt der 65-Jährige heute. Seine Bilanz der ersten 24 Monate fällt positiv aus. Die Regierungskollegen hätten ihn weder ausgegrenzt noch blockiert. "Ich konnte viel erreichen, sogar mehr als ich erwartet habe." 24.12.2005, Schweizer Illustrierte, Christine Zwygart Christoph Blocher ist Unternehmer. Und wie ein Wirtschaftsboss führt er auch seine Polizei- und Justizdirektion. Die reduzierte die Kosten um jährlich 80 Millionen Franken, "und zwar ohne Leistung abzubauen". Und auch im Asylwesen habe er viel bewirkt: Dank dem neu revidierten Asylgesetz könne die Schweiz die gravierenden Missbräuche beseitigen. Und: "Der Bundesrat hat in den letzten zwei Jahren keine Dummheiten beschlossen", betont Blocher. Sicher sei nicht alles so entschieden worden, wie er es gern gehabt hätte. "Aber grosse Böcke wie damals die Milliarden für die Swiss und die Expo – solche Sachen haben wir uns nicht geleistet." Der Blick zurück lässt viele Momente wieder aufleben. Auch seinen Wahltag im Dezember 2003. "Ich hoffe, dass Gott hilft, dass es gut herauskomme", sagte Blocher damals. Hat Gott geholfen? "Ja natürlich!" Sie haben vor zwei Jahren orakelt, dass Sie Freunde enttäuschen werden. Haben sich Ihre Befürchtungen bewahrheitet? Ja natürlich. Als Bundesrat muss ich manchmal Entscheide vertreten, die ich persönlich nicht teile. Meinen Freunden muss ich zumuten, dass ich nicht mehr auf ihrer Seite kämpfe. Tut das weh? Das tut mir manchmal leid. Denn ich merke, dass sie enttäuscht sind und mühe damit haben. Aber ich muss ihnen das halt einfach zumuten. Sie spalten die Schweiz. Man liebt oder hasst Sie – egal sind Sie niemandem. Damit lebe ich schon seit über 30 Jahren. Persönlichkeiten haben eben eine starke eigene Meinung. Die einen können sich damit identifizieren, andere nicht. Wie jeder Mensch möchte ich geliebt und nicht gehasst werden. Aber ich gehe meinen Weg. Denn nur wer keine Meinung hat, ist bei allen ein bisschen beliebt. Aber solche Menschen werden dafür nicht respektiert. Als was fühlten Sie sich mächtiger: Als Bundesrat oder zuvor als Nationalrat? In den ganz grossen Fragen und Auseinandersetzungen hatte ich als Nationalrat mehr Gewicht. Das Nein zum europäischen Wirtschaftsraum EWR – die wichtigste Abstimmung der letzten 50 Jahre – hätte ich als Bundesrat wohl nicht erkämpfen können. Auf der anderen Seite habe ich in den letzten zwei Jahren viel in die Regierung hineintragen können. Es ist also eine durchzogene Bilanz. Trotzdem bin ich mir heute sicher, dass meine Position im Bundesrat stärker ist. Hand aus Herz, Sie wünschten sich manchmal doch auch, Sie hätten die Wahl in den Bundesrat nie angenommen. Natürlich. Mehr als einmal. Aber ich verscheuche den Gedanken. Ich habe mich dafür entschieden, und ich wäre ein Feigling nun zu sagen, anderswo wäre es schöner. Da gebe ich mit jeweils einen Schubs und sage zu mir selber: Frage Dich nicht was schöner wäre, sondern mach was wichtig ist. Christoph Blocher ist Kunstsammler. Und sein Büro im Bundeshaus eine Offenbarung. Der Holzfäller von Ferdinand Hodler, ein Werk („Im Schneesturm“) von Rudolf Koller und zwei Stilleben von Albert Anker – letztere aus Blochers Privatbesitz. "Ich habe doch das schönste Büro der ganzen Eidgenossenschaft", sagt der Bundesrat und lacht. Landschaften sammelt er leidenschaftlich. Eben erst wurde das Hodlers Werk „Eiger, Mönch und Jungfrau über dem Nebelmeer“ für 4,8 Millionen Franken versteigert. Ob er wohl… "Das ist mir zu teuer gewesen. Obwohl es in zehn Jahren vielleicht einen Wert von 20 Millionen hätte." Das wisse man bei der Kunst eben nie.Sein Lieblingsbild ist im Moment ein Werk von Albert Anker, das einen Grossvater mit seinen beiden Enkeln zeigt. " Ein grosartiges Bild, das die Bedeutung des Alters und der Jugend phantastisch gegenüber stellt", schwärmt der Bundesrat. Immer wenn er in seine Villa nach Herrliberg ZH zurück kommt, stellt er sich zuerst vor dieses Bild – weil es so etwas tröstliches habe, sagt der vierfache Grossvater. Haben Sie noch Zeit für Ihre Familie und Ihre Enkel? Wenig, aber die Sonntage halte ich mir in der Regel immer frei. Es ist wenig Zeit, die wir miteinander verbringen. Aber meine Kinder sind ja auch schon gross und brauchen mich nicht mehr jeden Tag. Dafür geniessen wir dann jede gemeinsame Minute. Sie gehen sonntags oft spazieren. Was machen Sie sonst zum Entspannen? Ich bin ein grosser Musikliebhaber. Wenn ich nachts nicht schlafen kann stehe ich auf und höre Mozart oder Mendelsson. Das sind jeweils wunderschöne Stunden. Ich habe aber auch Zeit zum Lesen, denn ich schaue kein Fernsehen und höre kein Radio. Morgens gehe ich laufen und joggen. Mit zunehmendem Alter zwar immer ein bisschen langsamer, ich geniere mich auch nicht zwischendurch zu gehen. Sie feierten Ihren 65. Geburtstag. Und Sie wollen 2007 nochmals bei den Wahlen antreten. Haben Sie Angst vor dem Ruhestand? Ich habe gar nicht das Gefühl, dass ich schon 65 Jahre alt bin. Mein Temperament und meine Kraft erlauben es mir, immer noch etwas zu leisten. Den meisten bin ich ja sogar viel zu aktiv! Man könnte also nicht meinen, ich sei der Älteste hier im Betrieb. Heute brauche ich aber mehr Ruhezeit, ganze Nächte ohne Schlaf durcharbeiten wir früher kann ich nicht mehr. Dafür verfüge ich heute über eine grosse Erfahrung, und vieles geht mir leichter von der Hand. Christoph Blocher ist Politiker. Durch und durch. Die Wahl in den Bundesrat hat sein Leben verändert. Aber einiges ist doch gleich geblieben. "Ich hätte meine Arbeit nicht gut gemacht, wenn mir die Linken und Grünen heute applaudieren würden", sagt er. Respekt genüge, Liebe sei nicht notwendig. Und auch die jüngste Umfrage, wonach nur 37 Prozent des Volkes ihn in die Regierung wählen würde, nimmt er gelassen. "Immerhin steht ein guter Drittel noch hinter mir. Ich habe so manches angerissen – da ist dieses Resultat doch eigentlich ganz gut." Er könne nicht jeden Tag seine Beliebtheit abfragen, sondern müssen ein Departement führen und konsequent seinen Weg gehen. Seit zwei Jahren leben Sie unter der Woche in Bern. Wie gefällt es Ihnen? Meine schönste Zeit in Bern ist früh am Morgen. Dann gehe ich zu Fuss von meiner Wohnung in der Altstadt ins Büro. Und unterwegs treffe ich immer wieder die gleichen Menschen. Die Frau, die in der Bäckerei die Regale auffüllt. Die Lieferanten, die Ware bringen. Die Mann, der vor seinem Laden die Laube wischt. Die Marktfrauen, die den Tag vorbereiten. Wir grüssen einander, wechseln auch mal ein Wort. Das ist für mich eigentlich der erholsamste Teil des Tages. Der Kontakt mit dem Leben. Sie sagen selber, Sie hätten kaum noch Kontakt zu den Menschen. Gerade das war jedoch immer Ihre Stärke. Ich bin im Bundeshaus, in meinem Büro, schon ein bisschen abgeschirmt. Ich sage immer, hier ist meine geschützte Werkstatt, abgeschottet von der Aussenwelt. Und das finde ich nicht so gut. Ich frage mich immer wieder, wie ich diese Kluft überwinden kann. Wenn ich heute irgendwo als Bundesrat hinkomme, haben die Leute sofort Hemmungen mich anzusprechen. Auf der anderen Seite ist es aber auch schön, ihre Dankbarkeit zu sehen. Ich sage meinen Amtsdirektoren immer wieder, dass wir näher ans Leben heran gehen müssen. Haben Sie einen Herzenswunsch? Ich wäre schon froh, wenn man mich irgendwann in der Politik nicht mehr braucht. Dann würde ich wandern und mich meiner Kunst widmen. Aber das Paradies ist uns ja leider verwehrt. Und vielleicht sind paradiesische Sachen plötzlich auch nicht mehr so schön, wenn man sie immer hat.
22.12.2005