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25.09.2004
17.09.2004
Zu den Medien
Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Jahreskongresses der Schweizer Presse in Lausanne 17.09.2004, Lausanne Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Damen und Herren Sie haben mich gebeten, vor der Schweizer Presse über die Arbeit der Medien zu sprechen. Das ist eine delikate Ausgangslage. Wie auch immer die Rede ausfällt, es wird Vorwürfe absetzen. Finde ich allzu lobende Worte, werden die Kommentare lauten: "Schaut, schaut, der Blocher. Jetzt wirft er sich den Medien an die Brust. Seit er in der Regierung sitzt, ist offenbar auch bei ihm die Sehnsucht nach Pressezuneigung grösser geworden." Kommt hingegen von meiner Seite auch nur ein kritisches Wort zu viel, so war es die Rede eines persönlich Beleidigten, eine unangebrachte Medienschelte. Ich muss Ihnen gleich gestehen: Wenn ich mich schon einem Vorwurf aussetzen muss, dann lieber dem zweiten. I Auftrag der Presse Was ist der Auftrag der Presse? Zunächst eine Klarstellung: Weder die Verwaltung, noch eine Regierung, noch das Parlament, noch sonst jemand im Staat hat der Presse einen Auftrag zu erteilen. Es ist nicht Sache des Staates, den Auftrag der Medien zu definieren. Was die Politik dagegen tun muss, ist die Pressefreiheit zu gewährleisten. Die Freiheit der Presse gegenüber dem Staat ist eine Grundvoraussetzung für jede funktionierende Demokratie. II An die Verleger gerichtet Die Gewährleistung dieser Pressefreiheit ist das Wichtigste, was Sie als Verleger von uns Politikern verlangen können. Pressefreiheit ermöglicht Pressevielfalt, Pressevielfalt wäre die Basis für Meinungsvielfalt. Erfüllt unser Staat diese Aufgabe? Leider nur sehr mangelhaft. Sie hätten Grund genug, uns Politiker deswegen heftig zu kritisieren. Aber interessanterweise tun Sie es nicht. Schätzen Sie, verehrte Verlegerinnen und Verleger, verehrte Fernseh- und Zeitungsmacherinnen- und macher diese Freiheit etwa nicht? Es ist doch eine unwiderlegbare Tatsache, dass staatliche Beschlüsse nur ein einziges landesweites Fernsehen zulassen. Das Wichtigste an der Freiheit, nämlich private Vielfalt, die Konkurrenz der Meinungen, der Wettbewerb von Ideen wird mindestens beim nationalen Fernsehen unterbunden. Und auch Sie werden nicht behaupten wollen, dass unser Schweizer Fernsehen, welches sich zwar formell unabhängig nennt, punkto Personal oder in Bezug auf die Gebührenordnung, Werberegelung, etc. vom Staat unabhängig sei. Das gleiche gilt für die landesweiten Sender von Radio DRS. Und was ist mit jenen Nachrichtenagenturen, die vom Staat finanziert werden? Wie weit beeinträchtigt dies die unabhängige Berichterstattung? Natürlich! Als Regierungsmitglied muss mich dies nicht stören. Und ist da nicht auch etwas im Tun, dass künftig auch die Verleger vom Staat finanziell unterstützt werden sollen? Von einem entsetzten Aufschrei Ihrerseits habe ich bisher nichts vernommen. Eigenartig, dass ausgerechnet ein Bundesrat Sie auf solche Verwicklungen aufmerksam machen muss. Zwar reden alle Verleger stolz von ihrer Unabhängigkeit - nur wenn es um die Finanzen geht, gibt man sich plötzlich viel weniger rigoros. Haben Sie vergessen: Wer zahlt - befiehlt! Und der Staat wird den Verlegern befehlen - freilich subtil! Schämen müssen Sie sich allerdings deswegen nicht. Sie sind ja in guter Gesellschaft. Niemand hat je staatliche Unterstützung aus höheren Motiven abgelehnt. Weder die Wirtschaftsverbände, noch Banken oder Versicherungen; nicht einmal die Industrie oder der Gewerbeverband, obwohl diese sonst bei jeder Gelegenheit die Handels- und Gewerbefreiheit hochleben lassen. III Erwartungen Wenn ich mich als Bundesrat schon nicht in Ihren Auftrag einzumischen habe, so ist doch vielleicht die Frage nach den Erwartungen an die Medien erlaubt. Würde ich die Leser, Hörer und Seher fragen, so wäre die Antwort klar: "Informationen". Frage ich Journalisten, so sagen sie "Stellung-nahmen". Nehmen wir an, es gelte beides. Eigenartigerweise ist die Vielfalt gerade bei "Tatsachenschilderungen" relativ gross - auch wenn eine Tatsache eigentlich wenig Beschreibungsspielraum zuliesse. Bei den Stellungnahmen dagegen beobachte ich eine beelende Eintönigkeit. Müsste es nicht eher umgekehrt sein? IV Wie erlebe ich die Presse als Politiker und neuerdings als Bundesrat? Die schönste und wichtigste Pflicht des Journalismus bestünde immer noch darin, die Wirklichkeit so abzubilden, wie sie ist - auch die weniger populären Seiten. Und eine Vielfalt der Meinungen über den Sachverhalt. Mir scheint: Wir haben zwar eine beeindruckende Titelvielfalt, aber keine Pressevielfalt. Auf allen Redaktionsstuben scheint die gleiche Angst vor den gleichen Tabuthemen vorzuherrschen. Offenbar haben sich die meisten Journalisten auf einen imaginären politischen Knigge verständigt. Wer ausschert, wird geköpft; vor allem, wenn es sich um einen Bürger-lichen handelt. Vertritt er aber linke Positionen, dann gilt er umgehend als interessanter Querdenker und darf auf einen Auftritt im Zischtigsclub hoffen. Wer die Geschichte kennt, wird bestätigen, dass grosse Fehlentwicklungen meistens durch eine uniforme Berichterstattung zustanden gekommen sind. Und Sie werden mir Recht geben: Gerade die direkte Demokratie, besonders freiheitliche Staaten sind auf eine Vielfalt von Meinungen angewiesen - mag es darunter auch noch so viele abwegige oder falsche Meinungen geben (was ist denn schon Falsch und Richtig?). Wegen der Vielfalt von Meinungen sind Staaten meines Wissens noch nie fehlgeleitet worden. Aber allzu einheitliche Meinungen haben Demokratien schon zu Grunde gerichtet. Diktaturen - ob braune, rote oder andere - haben immer als erstes die Presse vereinnahmt. Meinungsvielfalt ist Gift für Diktaturen, Meinungseinheit ist Gift für Demokratien. Ein Beispiel aus der Geschichte: In den dreissiger Jahren hat man im freiheitlichen England und in den USA - zwar nicht vom Staate verordnet aber in freiwilliger "political correctness" - unisono die "Appeasement-Politik" gegenüber Hitler gepredigt. Abweichler - wie zum Beispiel Winston Churchill - waren isolierte Rufer in der Wüste. Kein ernst zu nehmendes Presseorgan hätte seine Meinung als massgebend aufgegriffen. In Deutschland wurden die Medien ebenfalls gleichgeschaltet. Erst durch den Verleger Hugenberg, dann mit aller Konsequenz durch das Regime selbst. Nicht anders erging es der Presse in den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas nach dem Krieg. Solche Vorgänge haben mich schon immer sehr beschäftigt. Oft beginnt die Gleichschaltung im stillen Einvernehmen, verbunden mit moralistischen Untertönen. Man geht dann langsam über zu staatlichen Geboten und Verboten, natürlich stets unter Berufung auf die politische Kultur und der richtigen moralischen Haltung. Nicht, dass damals in England eine "Appeasement-Politik" vertreten wurde, ist das Problem - sondern, dass fast nur diese Meinung verbreitet wurde. Nicht, dass hinter dem Eisernen Vorhang auch eine kommunistische Meinung vertreten wurde, war das Verheerende - sondern, dass nur diese vertreten werden durfte. V Und in der Schweiz? Ich halte nichts davon, der Presse von aussen oder von innen Fesseln anzulegen. Ich halte grundsätzlich nichts davon, Meinung zu unterbinden - auch jene nicht, die mir widersprechen oder die ich als verwerflich erachte. Solche Verbote sollte es in einem liberalen Staat nicht geben. Bei der Beschreibung von Tatsachen indes lege ich strengste Massstäbe an. Als ehemaliger Unternehmer und auch heute als Bundesrat weiss ich, wie sehr wir auf eine ungeschminkte Berichterstattung angewiesen wären. Falsche Realitätsbeurteilungen führen zwangsläufig zu falschen Entscheidungen. Ich erlebe es jetzt in der Verwaltung wieder, wie stark das Bestreben ist, die Wahrnehmung dem anzupassen, was man gerne hätte. Und umgekehrt: Was nicht sein soll, darf nicht sein. Aus Erfahrung weiss ich, dass auch wir nur in einem kritischen Umfeld zu tragbaren Entscheidungen kommen. Hier könnte und dürfte uns eine vielfältige Medienlandschaft helfen. Aber auch nur dann, wenn sie nichts ausklammert. Und hier staune ich oft über unsere so genannte "Pressevielfalt". Gerade in den wichtigsten Fragen herrscht ein grosser Einheitsbrei vor. Dies kommt der Regierung zu gute, wenn man auch nicht immer weiss, ob die Regierung und Verwaltung die Sicht der Gegebenheit von der Presse übernommen hat, oder umgekehrt. Ich weiss, oft nährt Sie die Verwaltung mit ausführlichen Dokumentationen, die Sie nur noch abzuschreiben brauchen. Manchmal habe ich deshalb das Gefühl, die Zeitungen würden mehr geklebt als geschrieben. VI Finanzielle Überlebensfähigkeit des Staates Nehmen wir ein Beispiel: Jeder denkende Staatsbürger - und dazu zähle ich auch die Journalisten - weiss, dass unser Land unter einer riesigen Schuldenlast leidet, die bald 150 Milliarden Franken zählt. Jeder weiss, unser Staat lebt weit über seine Verhältnisse und beeinträchtigt massiv das Wirtschaftswachstum, unsern Wohlstand, unsere sozialen Errungen-schaften. Die Verschuldung stellt die Lebensgrundlage unseres Volkes zunehmend in Frage. Wer jedoch in der heutigen Zeit eine Ausgabenreduktion vorschlägt, wird fast unisono als "neoliberaler Zukunftsverhinderer", als "Staatsdemontierer" verunglimpft. Die Mehrheitspresse schürt sofort die Angst: "Sozialabbau", "tot sparen", "Bildung vernachlässigen" heissen die Schlagzeilen, die Sie täglich zu lesen oder zu hören bekommen und zwar gleichgültig in welchem Medium. Wohl gibt es Schattierungen: Die Ringierblätter und der Tagesanzeiger erklären den Kampf gegen das Sanierungsprogramm zur Doktrin, während die NZZ wenigstens noch im Grundsatz die Notwendigkeit einer Ausgabenreduktion anerkennt. Diese grundsätzliche Zustimmung - vor allem im Wirtschaftsteil - entpuppt sich dann schnell als höflichste Form der Ablehnung im Inlandteil, wo die Ausgabenreduktionen im Einzelfall eher abgelehnt werden. Ist das unsere ganze Pressevielfalt? Herr Bundeskanzler Schröder: Wenn ich von der Schweiz aus urteilen darf, auch Sie kennen diese schrillen Töne. Sie sind selber zum Objekt solcher Anwürfe geworden, weil Sie heute ausbaden müssen, was in den letzten 30 Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz von allen gutgeheissen worden war: Nämlich die weitgehend durch den Staat aufgebaute und garantierte soziale Sicherheit für alle. Sie werden durch die realen Verhältnisse zu Korrekturen gezwungen und müssen sich als "neoliberaler Sozialabbauer" beschimpfen lassen - da schützt auch kein sozialdemokratisches Parteibuch mehr. Wenn ich unseren Zeitungen glauben darf, leiden Sie bei sich zu Hause unter einem Lafontaine. Ich kann Sie trösten: Sie haben einen, wir haben eine ganze Reihe davon. Angesichts dieser Erfahrungen dürfte Ihr Verhältnis zur deutschen Medienlandschaft etwas belastet sein. Das hat Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, schon dazu verführt, in die Schweiz zu blicken wie ins gelobte Land. So rühmten Sie etwa unsere einheimische Boulevardpresse dafür, stets "die politische Kultur" bewahrt zu haben. Doch ich glaube, das ist Ihre Gnade des fernen Blicks. Unser täglicher "Blick" sieht etwas anders aus. Wo aber wird in unserem Land "gespart"? Schauen Sie nur mal das Wort "sparen" an. "Sparen" heisst doch, Geld, das man hat, auf die Bank zu bringen, auf dass es bleibe, bis man es braucht. Davon sind wir weit entfernt. Unsere Kassen sind leer. Wir machen täglich mehr Schulden. Aber alles spricht vom Sparen. Dabei ist etwas ganz anderes gefragt: Wir müssen Ausgaben senken und Kosten senken. Das, was gute Unternehmer und gute Familienväter täglich machen, nämlich die Kosten im Griff halten. Diese Tugend wäre im Staat gefordert und sie wäre die sozialste Forderung unserer Zeit. Sie hören viel von "Sparprogrammen" aus dem Bundeshaus: Entlastungsprogramm 03, Entlastungsprogramm 04, Ausgabenverzichts-planung und dergleichen mehr. Doch wer die Realität erkennen will, sieht anderes. Für die nächsten Jahre ist im Bund keine Senkung der Ausgaben angesagt. Im Gegenteil: es sind Ausgabensteigerungen und weitere Verschuldungen trotz höherer Steuern, Abgaben und Gebühren vorgesehen. Die Ausgaben werden bis 2008 um 10% steigen - das entspricht einem jährlichen Ausgabenwachstum von 2,5%. Und dies trotz aller so genannten "Sparpakete"! Warum kommt diese himmelschreiende Misswirtschaft in unserer Medienvielfalt kaum zur Sprache? Herr Bundeskanzler Schröder, Sie sehen, wir befinden uns leider auf dem gleichen Irrweg, den Deutschland schon begangen hat . Es ist ja gerade der Charme der Schweiz, dass wir die Fehler des Auslandes nachvollziehen - wenn auch etwas später. Die hat ein Deutscher festgestellt, der in der Schweiz an der Universität lehrte. Der Obmann von Weizsäcker in Bern. VII Tabuthemen Eine ganze Reihe von Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, werden von den Medien weitgehend ausgeklammert, so auch die bedenkliche Entwicklung zu einigen Superstaaten in der Welt. Der Wert der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit für die Schweiz wird gänzlich totgeschwiegen. Ebenso Fragen der Immigrationspolitik, der Ausländerkriminalität und des Asylrechtes. Auch hier herrscht eine feige Einheitsmeinung vor, diktiert von einer totalitär verstandenen "Political correctness". XI Inseratensperre In dieses Bild passt, dass Medien politische Inserate sperren. Ich habe solche Vorgänge vor meinem Eintritt in die Regierung öfters erleben müssen. Auch wenn ich die Fronten gewechselt habe: Ich halte solche Zensuren für völlig falsch. Damit werden bloss andere Meinungen kriminalisiert. Falsche Meinungen sind aber zu widerlegen und nicht zu verbieten. Ein Bundespräsident bezeichnete seine Gegner in einem Abstimmungskampf als "moralisch verwerflich". Sind denn Bundesräte moralische Instanzen, die sich wie Ersatzgötter aufführen und die Menschen in Gut und Böse teilen? Da dieser Bundesrat die gleiche Meinung vertrat wie die Mehrheitspresse blieb er vor Kritik verschont. Inserate sperren, weil die Meinung einem nicht entspricht? Ich frage mich: Verspüren die Medien eigentlich Angst, dass die Bevölkerung andere Meinungen nicht verkraften könnte? Dass sie nicht fähig sei, selber abzuwägen und zu urteilen? In dieser Beziehung war der römische Statthalter Pontius Pilatus viel weiter als die meisten Medien in der Schweiz; er war sich dieser Schwierigkeit bewusst, als er fragte: "Was ist die Wahrheit"?
16.09.2004
Die Zürcher Freiheitsrede: Ein Versuch, sich Winston Churchills Charakter zu nähern
Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Churchill-Symposiums vom 16. September 2004 in Zürich 16.09.2004, Zürich Es gilt das gesprochene Wort Herr Staatspräsident Kwasniewski Liebe Gäste aus Polen Meine Damen und Herren Es ist ein symbolträchtiges Zusammentreffen, wenn sich heute Polens Staatspräsident und ein Vertreter der Schweizer Regierung hier in Zürich begegnen, um an den grossen Engländer Churchill zu erinnern. Die historischen Verflechtungen lassen niemanden ungerührt: Unmittelbar nach dem Warschauer Aufstand, am 5. Oktober 1944, sprach Churchill die Bedeutung dieses heroischen Kampfes aus: "Es wird eine unvergängliche Erinnerung der Polen und der Freunde der Freiheit in aller Welt sein." In den 80er Jahren war es wiederum Polen, das den entscheidenden Freiheitskampf führte und damit der Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten in Osteuropa Auftrieb verlieh. Churchill begegnete auch der Schweiz mit grösster Sympathie, besonders wegen ihrer aussenpolitischen Zurückhaltung. Er anerkannte, dass unser Land gerade dank der dauernd bewaffneten Neutralität vom Krieg verschont blieb und mit ihm mehr als 10'000 polnische Soldaten, die hier ab 1940 Zuflucht gefunden hatten. Churchills Widersprüchlichkeit und sein historisches Denken Churchills Wirken für ein freies Europa ist allgemein anerkannt - weit weniger aber seine Person und sein Charakter. Als ob sich Taten von einer Persönlichkeit trennen liessen, machen viele einen vorsichtigen Bogen um die komplexe Gestalt Churchills. Winston Churchill ist der einzige Politiker von Weltrang, der je den Nobelpreis erhalten hat - nicht etwa für Friedensbemühungen, was bei Staatsmännern üblich ist - sondern für Literatur. Und zwar für seine mehrbändige Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die 1953 - im Todesjahr Stalins - erschienen ist. Seine Autobiographie, 30 Bände stark - identisch mit der Weltgeschichte des halben Jahrhunderts und zweier erdballbewegender Kriege - runden dieses literarische Schaffen ab. Und all dies schrieb der gleiche Churchill, der Jahre zuvor noch erklärte: "Ich bin kein Journalist, der über Ereignisse schreibt, ich mache Ereignisse, über die Journalisten berichten." Hier zeigt sich eines: Die kantige Widersprüchlichkeit Churchills. Genau diese fasziniert. Denn widersprüchliche Menschen entwickeln ein positives Verhältnis zur Kritik. In ihrer Brust führen mindestens zwei Seelen eine dauernde Auseinandersetzung, was ihre Entscheide und ihre Sicherheit nach aussen stärkt. Diese Widersprüchlichkeit paarte sich bei Churchill mit einem ausgesprochen konservativen Temperament, das im historischen Denken selbst gründete. Dieses Denken immunisierte ihn gegen alle totalitären oder utopischen Versuchungen der Zeit. Ohne seine innere Kritikfähigkeit, ohne sein geschichtliches Verständnis wäre Churchills Leistung kaum denkbar. Vorbild Churchill war ein Politiker mit der Fähigkeit zur schonungslosen Analyse und einer fast beängstigenden Weitsicht: Schon 1933, kurz nach dem Machtantritt Hitlers, redete er illusionslos über die aufziehende Gefahr des Nationalsozialismus. Er nannte diese Bedrohung zu einer Zeit beim Namen, als sie kaum jemand wahr haben mochte. Mit seinen Kassandra-Reden schreckte er regelmässig und unbeirrbar Englands Politiker auf, predigte den Widerstand, warnte vor der nazistischen Expansionslust. Mit wenig Erfolg. Noch schlimmer: mit gegenteiligem Erfolg. Er gilt damals als anachronistischer Querulant. Das Parlament lässt seine Reden stoisch über sich ergehen, sofern die Abgeordneten überhaupt im Saal verbleiben. Man wirft ihm schliesslich Populismus vor, um so alle Mahnungen in den Wind zu schlagen. Der gefeierte Mann der Stunde ist Chamberlain und dessen Appeasement-Politik. Nach dem Münchner Abkommen lässt sich der Rückkehrer Chamberlain von allen als Friedensretter bejubeln (Peace for our time), während Churchill einsam von einer "vollständigen Niederlage" (total and unmitigated defeat) spricht und anfügt, dass es besser sei, genau zu sagen, "was wir über öffentliche Angelegenheiten denken", und dass jetzt sicherlich nicht die Zeit sei, "in der es irgend jemandem anstünde, um politische Popularität zu werben". Davon mochte freilich niemand etwas hören. Der Zeitgeist scheute sich, der hässlichen Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. So wie sich der Zeitgeist immer scheut, die unangenehmen Dinge zu sehen, geschweige denn zu benennen. Mann der Stunde und seine Abwahl Erst als buchstäblich jedes Wort eintraf, das Churchill über München und seine Folgen vorausgesagt hatte, wurde er - dieser gescholtene Querulant und Einzelgänger - 1940 in der grössten Not zum Kriegspremier gemacht. Erst jetzt - unter dem Druck der Not und leider sehr spät - war man bereit, die Wirklichkeit zu hören. Angesichts des entfesselten Hitlers sprach der mutige Realist wiederum nur die Wirklichkeit ungeschminkt aus! Er versprach bei seiner Antrittsrede seinem Volk Blut, Schweiss, Tränen und Mühsal. Doch diesmal fand er dank seiner Glaubwürdigkeit und trotz der bitteren Worte sogar Zustimmung. Glaubwürdigkeit hat eben viel mit Realitätssinn zu tun. Aber 1945 - der Krieg war gewonnen - wählte das britische Volk seinen Helden ab. Die Sehnsucht nach endgültigem Frieden war im Volk nach dem Krieg begreiflicherweise stark und Churchills Opposition nährte diese Friedenssehnsucht nach Kräften und verhiess Ruhe und Versöhnung. Hätte es Churchill auch getan - er wäre spielend wiedergewählt worden. Doch er handelte anders: Trotz heftiger Bedenken seiner eigenen Partei weigerte er sich, in diese Schalmeienklänge einzustimmen. Er warnte kurz nach der Kapitulation Deutschlands prophetisch vor einer neuen Tyrannei, nämlich dem drohenden Polizeistaat im Osten. "They would have to fall back on some form of Gestapo." (BBC, 4. Juni 1945), prophezeite er nicht einmal einen Monat nach dem Kriegsende. Heute, bald 60 Jahre nach diesen Worten, wissen wir, wie berechtigt auch hier seine Weitsicht war. Churchills Charaktergrösse und seine Verpflichtung zur Sache wird noch sichtbarer durch diese Abwahl. Die Nachkriegsjahre Doch der 71jährige, abgewählte Energiemensch wollte nichts von Ruhestand wissen. Kaum abgewählt, arbeitete er von der ersten Stunde an auf seine Rückkehr ins höchste Amt hin, was ihm 1951 auch gelang. Daneben tat er, was er immer getan hatte: er schrieb und hielt Reden. Wie er vor seinem Rücktritt 1944 für ein unabhängiges Polen kämpfte, prägte er nach seinem Rücktritt 1946 in Fulton das berühmte Wort vom "Eisernen Vorhang". Er sprach auch hier aus, was wohl viele dachten, aber nicht zu sagen wagten: "Das sind die betrübenden Tatsachen am Morgen nach einem Sieg, der in so herrlicher Waffenbrüderschaft und im Dienste von Freiheit und Demokratie errungen wurde." (Fulton, 5. März 1946) Ein grosser Teil Europas sollte erneut einem totalitären Regime zufallen. Churchill in der Schweiz Im gleichen Jahr nahm Churchill die Einladung einer Gruppe schweizerischer Unternehmer an und verbrachte einen Monat in unserem Land. Domizil bot das malerische Bursinel oberhalb des Lac Léman. Erst gegen Ende seines Aufenthalts folgte ein offizielles Besuchs-programm, das ihn auch nach Bern führte. Tausende Schweizer bereiteten ihm - dem abgewählten Premier - auf seiner Fahrt begeisterte Empfänge. Auf der Freitreppe des Berner Rathauses hielt er eine kurze Ansprache an das Volk. In spontanen Worten erklärte Churchill den Zuhörern, dass er nicht als Feind irgendeines Landes in den Krieg gezogen sei, auch nicht als Feind Deutschlands, sondern einzig und allein gegen die Tyrannei. Oder eben für die Freiheit aller. Das offizielle London beobachtete zunehmend nervös Churchills Redetour und liess über das Foreign Office knapp verlauten, seine Reden nicht kommentieren zu wollen. Die Erklärungen des ehemaligen Premiers seien jedenfalls streng privater Natur und für die britische Regierung in keiner Weise verbindlich. (Solche Distanzierungen kommen uns ja nicht unbekannt vor.) Zürcher Rede Am 19. September 1946 sprach Churchill dann in Zürich. Seine Rede wurde seither oft zitiert und noch öfter missverstanden. Unbestritten dürfte sein, dass Churchill darin Freiheit, Demokratie und Sicherheit für Europa forderte. Also Volksherrschaft im Innern und Selbstbestimmung nach aussen. Er verweist in seiner Ansprache ausdrücklich auf die vier Freiheiten Roosevelts aus dem Jahre 1941 und die Atlantik-Charta, worin der amerikanische Präsident und er selber ihre Grundsätze für die Nachkriegspolitik festhielten: - Freiheit der Rede, das heisst freie Meinungsäusserung - Religionsfreiheit - freie Weltwirtschaft, freie Meere - und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Weitblickend führt er einen Satz an, der typischerweise selten zitiert wird: "Ich will nicht versuchen, ein detailliertes Programm für Hunderte von Millionen Menschen zu entwerfen, die jene vier Freiheiten [.] geniessen wollen". Spüren Sie wieder seinen Weitblick? Er warnt bereits davor, Politiker könnten einst versucht sein, unter Anrufung der Freiheit und eines "visionären" Europas diese Freiheit zu programmieren, zu legiferieren und so einzuschränken. Auch hier müssen wir heute anerkennen, wie klar der Brite die Zukunft erfasste. Europa Was meinte Churchill mit Europa? Es gilt zu bedenken, dass dieser Aristokrat und Politiker in seinem Denken immer ein Mann des 19. Jahrhunderts und insofern auch Anhänger des britischen Imperiums geblieben ist. Was er auch nach 1945 anstrebte, war ein von Grossbritannien tariertes Gleichgewicht zwischen den europäischen Kontinentalmächten. Folglich will er auch keine französische Dominanz, fordert schon 1946 einen "Akt des Vergessens" und Versöhnung mit Deutschland: "Ohne ein geistig grosses Frankreich und ein geistig grosses Deutschland kann Europa nicht wieder aufleben." Vor allem wäre es zu wenig robust gegen die "fünften Kolonnen" Moskaus. Mit Europa meinte er den Kontinent: Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten, Italien, wen auch immer - nur nicht Grossbritannien. Sein Land, aber auch das "mächtige Amerika", sah er in der Rolle eines "Freundes und Förderers dieses neuen Europa". Die immer noch lebendigen imperialen Sehnsüchte stillte er woanders: "Wir Briten haben unser eigenes Commonwealth." Churchill wünschte sich hier in Zürich, dass Europa "so frei und glücklich" werde wie die Schweiz. Diese "freie und glückliche" Schweiz hat für sich entschieden, einen anderen, eigenständigen Weg in Europa zu gehen, anders als die meisten anderen Staaten. Das gilt es zu respektieren. Vor allem von denen, die an die gemeinsamen Ideale Churchills appellieren, für die er sich mit seiner ganzen Schaffenskraft politisch und schriftstellerisch eingesetzt hat. Sein Verhältnis zu Europa fasst er in seinen letzten Lebensjahren wie folgt zusammen: "But we have our own dream and our own task. We are with Europe, but not of it. We are linked, but not combined. We are interested and associated, But not absorbed." (Winston Churchill) England hat also seinen eigenen Traum, seine eigene Aufgabe: Es fühlt sich Europa zugetan. Nur vereinnahmen, aufsaugen lassen, muss es sich deswegen nicht. Auf diese Worte Churchills verweise ich als Schweizer gerne, besonders in Erinnerung an die Zürcher Freiheitsrede. Ihnen, Herr Staatspräsident, mag dieses Churchill-Wort am Ende Ihres zweitägigen Staatsbesuches die Schweiz besser erklären helfen. Londoner Times Mit heute selten gewordener Klarsicht kommentierte damals die Londoner Times Churchills Zürcher-Rede: "Die Schweiz war ein besonders geeigneter Ort, um die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa zu erheben [...] Jedoch hat sich die Schweiz, indem sie sich an ihre Neutralität als ihren besten Schutz klammert, bisher von allen Staaten Europas am wenigsten bereit erwiesen - und die Geschichte rechtfertigt ihre Weisheit - zu einer Einigung mit ihren Nachbarn in einem gemeinsamen Unternehmen. Das lehrt uns, dass, wenn die Vereinigten Staaten von Europa Churchills jemals Wirklichkeit werden sollten, die Schweiz kaum eine Mitgründerin dieser Union sein wird." In der Tat: Sie war weder Mitgründerin, noch ist sie heute Mitglied der Union. Kein einfacher Charakter Churchill war mit Sicherheit kein einfacher Charakter, oft auch kein angenehmer. Aber Leute, die Wohlanständigkeit als wichtigste Charaktereigenschaft vor sich hertragen, haben die Welt noch nie weiter gebracht. Sein Handeln und Denken wird nur auf dem Hintergrund dieses komplexen Charakters sichtbar. Seine innere Widersprüchlichkeit, der ungeschminkte Realitätssinn, seine positive Kraft der Sturheit und die manchmal fast kindliche Provokationslust waren dazu Voraussetzung. Die "Guten" wollten damals alle den Frieden mit Hitler und bekamen den totalen Krieg. Die Freiheit für Europa rettete das "Monster", wie ihn seine Gegner schimpften: Der von den Wohlanständigen geächtete Winston Churchill. Zum Wohle aller hat er es getan, nicht zuletzt auch zum Wohle der Wohlanständigen.
16.09.2004
Einweihung des Bundesstrafgerichts in Bellinzona
Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher 16.09.2004, Bellinzona Es gilt das gesprochene Wort Herr Gerichtspräsident, Herr Regierungsrat Herr Ständerat, Sehr geehrte Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts, Meine sehr verehrten Damen und Herren Die Justiz ist ein kostbares Gut. Ein Land, in dem die Gerichte rasch, unabhängig, unparteiisch und sorgfältig urteilen, hat einen unschätzbaren Vorteil gegenüber Ländern, in denen die Justiz schlecht funktioniert. Je mehr Gesetze ein Land kennt, umso wichtiger ist, dass den Rechts-unterworfenen eine korrekte und rechtsgleiche Anwendung des Rechtes garantiert ist. Dies schafft bei den Bürgern und Bürgerinnen, aber auch bei der Wirtschaft des In- und Auslands, Vertrauen. Vertrauen in die Gerichte erhöht die Verlässlichkeit der Rechts- und Geschäfts-beziehungen des Wirtschaftslebens. Darum: Es ist alles daran zu setzen, dass die Schweizer Justiz ihre Aufgabe effizient, unbeeinflusst und nur dem Recht verpflichtet erfüllt. Denn damit leistet die Justiz einen wesentlichen Beitrag für den Wohlstand unseres Landes. Kann unsere Justiz diese Ansprüche erfüllen? Unser bisheriges Justizsystem stammt aus einer Zeit der lokalen Verhältnisse. Die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern und Bürgerinnen spielten sich zur Zeit der Gründung unseres Bundesstaats bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mehrheitlich in den jeweiligen Regionen ab. Grenzüberschreitende Geschäfte waren selten, ebenso die grenzüberschreitende Kriminalität. Das hat sich grundlegend geändert. Die rasant wachsende Mobilität hat die Welt in den letzten Jahrzehnten kleiner gemacht. Globalisiert wurden Gesellschaft und Wirtschaft - aber auch die Kriminalität. Die im Jahre 2000 von Volk und Kantonen beschlossene Neu-Organisation der dritten Staatsgewalt ist Antwort auf diese Entwicklung. Sie will den Anforderungen unserer heutigen Gesellschaft an die Justiz Rechnung tragen. Zu diesen Anforderungen gehört im Bereich der Straf-Justiz, dass bestimmte grenzüberschreitende Delikte, also Straftaten mit interkantonalem und internationalem Bezug, auch vom Bund verfolgt und beurteilt werden. Mit der Schaffung des Bundesstrafgerichts - das wir heute einweihen dürfen - wurde dieser Internationalisierung der Kriminalität Rechnung getragen. Neben der Neu-Organisation der Strafgerichtsbarkeit bringt die Justizreform zudem eine Vereinheitlichung der Prozessverfahren: Sowohl im Bereich des Zivilrechts als auch im Bereich des Strafrechts sollen die heutigen 26 kantonalen Prozessordnungen bereits in wenigen Jahren durch ein einheitliches eidgenössisches Verfahrensgesetz abgelöst werden. Es ist geplant, dass der Bundesrat dem Parlament bereits im nächsten Jahr die Botschaft zu einer vereinheitlichten Strafprozess-ordnung unterbreiten wird. Der Entwurf für die gesamtschweizerische Zivilprozessordnung soll dann ein weiteres Jahr später folgen. Vereinfachung Auf höchster Gerichtsebene des Landes zeichnet sich ferner eine Vereinfachung der Rechtsmittel ans Bundesgericht ab. Damit einher geht die Schaffung eines Bundesverwaltungsgerichts für die Beurteilung von Streitigkeiten des öffentlichen Rechts. Mit diesen Neuerungen, die zur Zeit vom Nationalrat behandelt werden, soll die in der Verfassung verankerte Rechtsweggarantie eingelöst werden. Wir feiern mit der heutigen Einweihung des Bundesstrafgerichts ein erstes konkretes Ergebnis der Justizreform. Das neue Gericht, welches sich als dritte Justizbehörde neben - oder wenn Sie wollen "unter" - die beiden bereits bestehenden obersten Gerichte in Lausanne und Luzern reiht, stellt eine erste Säule des neu gebauten - oder zumindest grundlegend renovierten - Justizgebildes dar, zu dem Volk und Stände mit ihrem JA vom 12. März 2000 den Grundstein gelegt haben. Was ist nun von diesem neuen Bundesstrafgericht in Bellinzona zu erwarten? - Das Bundesstrafgericht Bellinzona leistet bei neuen Erscheinungsformen der Kriminalität und bei der Bekämpfung dieser neuen Delikte einen wichtigen Beitrag. Es kann dies aus mehreren Gründen besser tun als seine Vorgängerinstitutionen, die Anklagekammer des Bundesgerichts und die kantonalen Gerichte. - Das neue Gericht kann die Beurteilung der zur Anklage gebrachten Sachverhalte rascher, zielgerichteter und konsequenter vornehmen, als dies mit den alten Strukturen der Fall gewesen wäre. - Der Rechtsschutz ist für die von einem Strafverfahren betroffenen Personen deutlich besser: Wer der Bundesstrafgerichtsbarkeit untersteht, hat neu die Möglichkeit, das erstinstanzliche Urteil an eine zweite Instanz, weiterzuziehen. Das war bis Ende März dieses Jahres nicht der Fall. - Der Ersatz der Anklagekammer des Bundesgerichts durch die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts bringt eine willkommene Entlastung unseres obersten Gerichts. - Und es bringt - das nur nebenbei gesagt - auch eine Entlastung der Bundeskasse. Dezentrale Lage im Zentrum Das Bundesstrafgericht liegt in Bellinzona. Die Berner Verwaltung sagt dem dezentral. Sie hat die Schweiz nicht begriffen. Die Schweiz hat kein Zentrum. Das Bundesgericht liegt zwar fernab von der Verwaltungs-betriebsamkeit Bern, dafür im Zentrum der Alpensüdseite. Dieser Umstand ist positiv nicht nur für den Kanton Tessin, der sich ja in der Standortdebatte mit grossem Engagement dafür eingesetzt hatte, den Zuschlag für eine der neuen Justizbehörden zu erhalten. Nein, diese Lage ist auch positiv für das Gericht selbst. Die Justiz als dritte Staatsgewalt tut nämlich gut daran, ein wenig Distanz zu Bern zu haben. Das hat sich beim Bundesgericht in Lausanne und beim Eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern bewährt, und es wird sich auch beim Bundesstrafgericht in Bellinzona und beim Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen bewähren. Die Dezentralisierung entspricht dem Wesen unseres föderalistischen Landes, das kein Zentrum hat und auch kein Zentrum haben will. Welche positiven Auswirkungen hat die Distanz zu Bern nun für Sie, sehr geehrte Richter und Richterinnen des Bundesstrafgerichts? Ganz einfach: Die (strenge) Fuchtel von Regierung und Parlament in Bern ist weit entfernt! Und auch die Fuchtel des grossen Bruders in Lausanne wird weit entfernt sein. Diese Vorteile sind für Ihre Tätigkeit nicht unwesentlich, auch wenn sie vielleicht «nur» psychologischer Natur sein mögen. Sie geben Ihnen nämlich die Möglichkeit, Ihren Beruf noch unbeeinflusster und freier auszuüben. Ergreifen Sie daher diese Chance! Nutzen Sie Ihre Unabhängigkeit «ännet dem Gotthard» - diesem Schutzwall richterlicher Unabhängigkeit. Grösse und Auslastung Mein Grusswort an das neue Gericht wäre aber unvollständig, wenn ich mich nicht zuletzt auch noch zu seiner Zukunft äussern würde. Dies umso mehr, als ja in letzter Zeit viel über die Auslastung des Gerichts geredet und geschrieben wurde. Das neue Gericht ist zur Zeit ein relativ kleines Gericht und wird möglicherweise auch in Zukunft ein relativ kleines Gericht bleiben. Denn es gilt halt auch heute noch, was der Chronist Johannes Meyer schon im Jahre 1875 in seiner Geschichte des Schweizerischen Bundesrechts geschrieben hat. Ich zitiere: «Während die Legislative und die Exekutive auch dann noch, wenn ihnen nichts vorliegt, eine Art von geschäftigem Müßiggange sich hingeben und sich Traktanden schaffen können, falls solche fehlen: ist dies bei der Justiz unmöglich. Der Richter spricht nur in streitigen Fällen; er urtheilt nur, wenn man bei ihm klagt.» Sie werden daher Verständnis haben, dass ein Ausbau des Gerichts, sei es in räumlicher oder personeller Hinsicht, sich einzig und allein nach der künftigen Geschäftslast richten kann. Wie sich diese entwickelt, ist im Moment schwer abzuschätzen. Ich bin aber überzeugt, dass wir bereits im nächsten Jahr etwas mehr Klarheit haben werden, um dann gestützt auf die neuesten Schätzungen die nötigen Entscheide über die Entwicklung des Gerichts treffen zu können. Bis dahin müssen Sie mit der derzeitigen Infrastruktur Vorlieb nehmen. Und im Übrigen hat ein kleines Gericht ja auch vielerlei Vorteile: Es ist überblickbar, einfacher zu führen, und auch wirtschaftlicher als ein grosses Gericht. Ich hüte mich daher davor, Ihnen möglichst viele Fälle zu wünschen. Stattdessen wünsche ich Ihnen und Ihrem Gericht, dass Sie die Ihnen zur Beurteilung vorgelegten Fälle - seien es nun viele oder wenige - unabhängig und nach bestem Wissen und Gewissen beurteilen werden. Es lebe die Justitia!
29.08.2004