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24.06.2000
24.06.2000
«Vielleicht ist alles falsch»
Ein Gespräch mit dem Zürcher Chemie-Unternehmer Dr. Christoph Blocher Tages-Anzeiger, Das Magazin Nr. 25 vom 24. Juni 2000 Von Roger Köppel Herr Blocher, Sie schuften und rackern für Ihr Unternehmen, die EMS-CHEMIE, und für Ihre Partei, die SVP. Sie haben Millionen verdient und beherrschen die Debatten. In der Politik gehen Sie bis zur körperlichen Erschöpfung ans Limit. Warum tun Sie sich das an? Christoph Blocher: In der Politik frage ich mich durchaus, weshalb ich mich immer wieder solchen Widerwärtigkeiten aussetze. Es ist ja nicht so, dass ich für einen sachlich begründeten Vorstoss wie die Umleitung des Nationalbankgoldes in die AHV Applaus bekäme. Je besser die Idee, desto grösser die Zahl der politischen Gegner. Aber: Je mehr Politiker mit dem Schwert drohen, desto sicherer bin ich, dass ich recht bekommen werde. Wieso ziehen Sie es immer wieder durch? Blocher: Nicht wegen, sondern trotz allem. Ich warte sehnsüchtig darauf, dass ich mich aus der Politik zurückziehen kann. Wenn ich nach Bern fahre, sage ich mir immer wieder: Wenn ich nur diese Politik nicht hätte. Trotzdem tue ich es. Sie wollen immer gewinnen. Das macht süchtig. Blocher: Ach wissen Sie, die Bilanz, die ich in der Politik einmal ziehen werde, ist ganz anders als die meiner Politikerkollegen. Für viele kommt es doch darauf an, dass sie stets bei den Gewinnern sind, dass sie etwas sind, dass sie auf ihren Erinnerungsfotos zeigen können, welchem Staatspräsidenten sie die Hand geschüttelt haben und nicht, dass sie etwas bewirken. Sie sagen: Schau da, diese Kutschenfahrt mit Chirac und hier diese schöne Militärparade. Ich frage anders, für einen Unternehmer vielleicht typisch: Was habe ich eigentlich geleistet? Ja, was eigentlich? Blocher: Vielleicht kann ich sagen, dass die Schweiz ohne mein Engagement heute dem EWR angehören würde. Hätten wir ihn angenommen - davon bin ich überzeugt - ginge es unserem Land heute viel schlechter. Ich gab den entscheidenden Anstoss, um die Steuern zu senken, weil ich weiss, dass ein schlanker Staat für das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger besser ist. Sollte es uns gelingen, das überschüssige Nationalbankgold in die AHV einfliessen zu lassen und nicht in die Solidaritätsstiftung, die dann zur Grundlage für weitere Erpressungen würde, wäre das erfreulich. Macht es da etwas aus, wenn man mich im Kampf um diese Anliegen kübelweise mit Schmutz überschüttet? Würden Sie Ihre politische Karriere als Erfolg bezeichnen? Blocher: Was bedeutet Erfolg? Ein bisschen Geltung erlangen? Herumdudeln? Viel von sich reden machen? In der Politik erlangen Sie schnell Aufmerksamkeit. Obwohl das arrogant tönt, sage ich Ihnen, dass in der Politik häufig Flaschen anzutreffen sind, weil nicht an den Taten, sondern an den Worten gemessen wird. Es fehlt an Leistungsdruck, an Konkurrenz, an Wettbewerb der Leistung und an hohen Anforderungen. In der Wirtschaft treffe ich auf beeindruckendere Persönlichkeiten. Viele Politiker folgen dem Prinzip des Ehrentisches, sie wollen ein bisschen dabeisein, mitreden, abgebildet werden. Ob es ihnen wirklich um das Wohl des Landes geht, bezweifle ich in manchen Fällen. Immer wieder frage ich mich: Hatte ich eigentlich Erfolg in der Politik? Wenn ja, ist dieser überhaupt messbar? Wurde dank meiner Tätigkeit etwas gestaltet, verbessert, Unsinn verhindert? Vielleicht wäre die EWR-Abstimmung ohne mich viel deutlicher zuungunsten des Beitritts ausgefallen. Wer weiss das schon? Habe ich wirklich etwas bewirken, etwas schaffen können? Ich bin mir da nicht so sicher. Viele meiner Gegner sind darüber frustriert, sich dauernd den Schädel einzurennen. Bodenmann ist ins Wallis verschwunden, Frau Koch ist von der Bühne gesprungen, Ledergeber hat sich in die Stadtregierung zurückgezogen. Es kann schon ein sehr kräftezehrendes Geschäft sein, wenn man etwas bewirken will. Am publizistischen Seminar der Universität Zürich werden bereits Forschungsarbeiten gemacht, die Ihre immense Wirkung auf die Medien analysieren. Wie fühlt man sich als "Phänomen"? Blocher: Von "Phänomen" merke ich nichts. Die Belastung ist enorm. In letzter Zeit wurde ich im Zusammenhang mit den bilateralen Verträgen mit Briefen bombardiert, weil man meine Bedeutung wieder einmal masslos überschätzte. Diesen Leuten schreibe ich: Wenn das Wohl der Schweiz nur noch von mir abhängt, ist es schlecht bestellt. Sie wird auch ohne mich bestehen. Das klingt jetzt etwas depressiv. Blocher: Auch als Unternehmer bin ich manchmal verzweifelt - trotzdem mache ich es gern. Das gilt auch für die Politik. Ein bildlicher Vergleich: Es muss schrecklich sein, in den Krieg zu ziehen. Gehen wir doch einmal zurück ins Mittelalter, als man noch Kriegspferde hatte. Ich stelle mir vor: Jetzt ist Krieg, das ist schrecklich. Vielleicht muss ich töten oder werde getötet. Aber sitzt man erst einmal auf dem Ross und gibt diesem die Sporen, dann geht es los, vielleicht in freudigem Galopp. Es muss sein. Und Ihr Ur-Antrieb? Blocher: Diese Frage stellte ich mir nie. Ich habe dieses Land gern. Wenn ich ein Problem erkenne und das Gefühl habe, etwas machen zu müssen, dann mache ich es. Das liegt in meinem Naturell. Ich frage mich auch nicht, ob ich fähig bin, ich tue es einfach. Das war schon in der Kindheit so. Meine Mutter soll jeweils überall humoristisch gesagt haben: "Der Kleine muss immer alles anpacken, das wird wohl noch gefährlich mit ihm." Was ist das Geheimnis der Menschenführung? Blocher: Eines der faszinierendsten Themen, das ich kenne. Ich beschäftige mich laufend damit, denke nach, diskutiere, lese Bücher darüber. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen? Blocher: Ein Unternehmer ist ein Pferd, ein Lasttier, das vorangeht. Er hat seinem Auftrag alles unterzuordnen: ein angenehmes Leben, Gesundheit, Geld und Familie. Das hören Ehefrauen nicht gern. Blocher: In diesem Punkt habe ich mit meiner Frau von Anfang an intensiv arbeiten müssen. Vor acht Jahren - als die Belastung als Unternehmer und Politiker besonders gross war - sagte ich ihr: Es wäre für Dich sicher angenehm, einen entspannten Ehemann zu haben, der abends gemütlich im Sessel sitzt. Du musst aber sehen: Erstens habe ich über 2'000 Mitarbeiter - Familien, die vom Unternehmen leben - und dann ist da die Schweiz. Wenn ich jetzt nicht dafür sorge, dass der EWR abgelehnt wird, dann sitzt das Land in der Tinte. Was gibt es da noch abzuwägen? Ein entspannter Ehemann gegen das Anliegen eines freien Landes, das Selbstbestimmung und Wohlfahrt der Schweiz sichert? Auch sie hat glücklicherweise dem Anliegen für eine freie Schweiz den Vorzug gegeben. Das muss Konflikte gegeben haben. Blocher: Aber sicher. Für viele haben Männer einen Heiligenschein, wenn sie den Wunsch ihrer Ehefrauen über alles stellen. Das muss man offen zur Sprache bringen, darf den Konflikt nicht scheuen. Die umfassende Harmonie ist nicht das höchste Glück der Ehe. Hätten Sie Ihre Familie dem Unternehmen geopfert? Blocher: Das habe ich mir mehrmals überlegt. Wenn es nur um die Annehmlichkeiten der Familie gegangen wäre, hätte ich dies getan. Eine Ehe muss solche Belastungen ertragen. Der Familie ist etwas zuzumuten. Aber entscheidend ist das Motiv. Wäre meine Frau plötzlich krank geworden, hätte ich andere Prioritäten gesetzt, weil die Familie mich dann gebraucht hätte. Was ist Ihre Führungsphilosophie? Blocher: Die Menschen direkt führen. Das Ziel, den Auftrag auf die Mitarbeiter übertragen, sie begeistern und mit gutem Vorbild vorangehen. Ich glaube, dass viele Managerschulen nur das Rationale erfassen und nicht das Wesen der Führung. Sie entwickeln Theorien - oft modische Tendenzen - die kommen und gehen, aber sie erfassen nicht, worauf es wirklich ankommt. Worauf kommt es an? Blocher: Die Mitarbeiter müssen spüren, dass es ernst gilt, dass der Chef seiner Aufgabe alles unterordnet. Man muss mit dem Irrationalen rechnen. Ich messe dem Irrationalen - in der Politik wie im Unternehmen - grosse Bedeutung bei. Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass das Irrationale bei der Menschenführung die Hauptrolle spielt. Das Irrationale ist der Mensch, ein Bündel von Leidenschaften, die sich nur schwer berechnen lassen. Blocher: So sehe ich es. Im Vordergrund steht der Mensch, den man gern haben muss, um erfolgreich zu führen. Wir alle sind unvollkommen. Unvollkommene führen Unvollkommene. Als Führender muss man die Menschen gern haben, so wie sie sind und nicht, wie man sie am liebsten haben möchte. Erst wenn ich ihn gern habe, kann ich ihn verstehen. Erst wenn ich ihn verstehe, kann ich ihn führen. Das kann man eigentlich nicht lernen. Lernen kann man die Führungstechnik. Wie führen Sie? Blocher: Technisch - sei es im Unternehmen, in der Partei, der Politik oder im Militär - immer gleich: 1. Ich messe der Orientierung über meinen eigenen Auftrag, der Frage, worum es geht, grosse Bedeutung zu. So wird der Untergebene ernst genommen. Dann gebe ich meine Absicht und Ziele bekannt. 2. Ich gebe den Auftrag, verteile die Verantwortlichkeiten. 3. Ich weise auf besondere Probleme und Gefahren hin. Der Auftrag - der eigene und der, den ich erteile - steht im Mittelpunkt. Es gibt natürlich Kritiker, die mir deshalb einen militärischen Führungsstil andichten. Sie verwechseln Auftrag mit Kommando, haben nichts begriffen. Ich pflege eine militärische Führungstechnik, keinen militärischen Führungsstil, das ist ein grosser Unterschied. Mich beeindruckt die militärische Führungstechnik westlicher Armeen, die sich im Ernstfall während über 2000 Jahren bewährt hat. Im Militär geht es um Leben und Tod. Daraus kann man lernen. Welche militärischen Führer bewundern Sie? Blocher: Der englische General Fraser hat ein hochinteressantes Buch über den deutschen Feldmarschall Erwin Rommel geschrieben, den Wüstenfuchs, der im Zweiten Weltkrieg das deutsche Afrikakorps kommandierte und schliesslich von den Nazis ermordet wurde. Ursprünglich interessierte mich daran, was ein englischer General über den General einer ursprünglichen Feindesmacht schreibt. Die Lektüre wurde dann für mich zu einem Führungserlebnis. Fraser hat Rommels Führungsstil mit unglaublichem Respekt vor dessen Person analysiert. Fraser hat Rommel nicht verurteilt, obwohl er Deutscher war. Auch Rommels Gegenspieler, Feldmarschall Montgomery, der damals die englischen Panzerarmeen führte, verachtete Rommel nicht, im Gegenteil: Er brachte ihm grosse Sympathie entgegen und hatte ein Bild von ihm in seinem Panzer. Was haben Sie von Rommel gelernt? Blocher: Die Lektüre hat mich in einem entscheidenden Punkt bestätigt: Das Irrationale ist zentral. Rommel führte sehr irrational, missachtete und veränderte im Interesse des Auftrages sogar Befehle, erfasste Situationen intuitiv, ohne genau zu wissen, warum. Es gelang ihm, seine Soldaten selbst in ausweglosen Situationen zu begeistern, weil er sie gern hatte. Rommel liebte sogar den Feind und verlangte, dass die Gefangenen gut zu behandeln seien. Er war kein Moralist, der sich für etwas Besseres hielt. Und dann das Instinktive: wann angreifen, wo angreifen - aus dem Bauch heraus. Rommel war das Gegenteil von Montgomery, der alles durchkalkulierte und dem Deutschen gegenüber materialmässig im Vorteil war. Aber auch Montgomery schätze ich sehr. Sie waren im Vorgehen grundverschieden, in ihrer Einstellung aber Vorbilder. Rommel war ein Spezialist des Überraschungsangriffs. Er hat dann zugeschlagen, wenn es niemand erwartete. Blocher: Es war beeindruckend für mich, wie sich diese militärischen Erfolgsrezepte auf das Unternehmerische übertragen lassen. Ich habe ein anderes Büchlein gelesen, das mich in dieser Hinsicht prägte: den Bericht von Eisenhowers Stabschef über die Landung der Alliierten in Europa. Wieder haben sich die militärischen und unternehmerischen Führungsgrundsätze eins zu eins gedeckt: Konzentration der Kräfte, vermeide die Verzettelung. Ein Beispiel: Seit Jahren vertrete ich im Unternehmen die Auffassung, dass die Konzentration - nicht die Diversifikation - den Erfolg bringt. Was verstehen Sie darunter? Blocher: Schuster, bleib bei Deinem Leisten. Ist das nicht selbstverständlich? Wenn Sie wenig richtig machen, haben Sie Erfolg. Und wenn Sie alles oder zuviel machen, haben Sie keinen Erfolg, weil Sie sich verzetteln. Als Unternehmer muss ich mich fragen: Wo bin ich stark, was kann ich, wo bin ich schwach? Als ich die marode EMS vor siebzehn Jahren übernahm, habe ich die Schwächen ausgemerzt, mich wie im Militär auf die Stärken konzentriert: Wo bilde ich ein Schwergewicht? Wenn ich in der Führung kein Schwergewicht habe, mache ich überall etwas, aber nichts richtig. Interessanterweise wechselten viele Managerschulen, die in den 80er Jahren den Grundsatz der Diversifikation predigten, nun zum Prinzip der Konzentration. Natürlich erfand man dafür ein gewichtigeres Wort: Fokussierung. Wie finden Sie die Gewissheit, dass Sie richtig liegen? Blocher: Diese Gewissheit hat man nie. Ich handle intuitiv, tue etwas, weil ich es tun muss, kann mich oft nur auf mein Gefühl verlassen. Waren die Kampagnen der SVP Ausdruck solcher Spontaneingebungen? Blocher: Manchmal. Es gehört zum Schicksal intuitiver Menschen, dass Eingebungen hinterher zu einem gewaltigen Kater führen können. Realisiert man erst einmal, was man beschlossen hat, kommen tiefe Zweifel. Man fängt an, die Sache vernunftmässig zu analysieren. Man denkt nach, d.h. ja, man denkt "hinterher". Oft frage ich mich: Blocher, warum hast Du das beschlossen? Was bist Du für "en fräche Siech"? War das gut überlegt? Hadern Sie auch vorher? Blocher: Nein. Im Vorfeld bin ich ganz sicher, vollständig überzeugt. Aber nachher habe ich jeweils eine ganz schwere Woche, schlaflose Nächte, mache mir unglaubliche Vorwürfe. Das muss so sein. Man findet plötzlich alles falsch, wundert sich darüber, weshalb man genau das Gegenteil von dem tat, was die andern täten. Doch dieser Denkprozess ist wichtig. Er führt bei neuen Entscheiden intuitiv zu Gewissheiten. Welches war Ihre schwierigste Führungssituation? Blocher: Die Übernahme der EMS-Chemie vor siebzehn Jahren ohne Eigenkapital. Die Ausgangslage war verfahren: Die Firma war am Serbeln, der Eigentümer gestorben, die Kinder wollten verkaufen, hohe Verluste, niemand glaubte mehr an den Erfolg, vor der Türe stand ein amerikanisches Unternehmen, das kaufen wollte, um dann einen grossen Teil zu schliessen. Die Frage lautete: Was machen wir jetzt? Auf der Suche nach Käufern bin ich durch die halbe Schweiz gefahren. Niemand zeigte an einer derart schwer verschuldeten Firma Interesse, bis mir dann ein bedeutender Schweizer Industrieller sagte: Kaufen Sie sie doch selber! Wie sollte ich ohne Geld eine Firma kaufen? Immerhin ging es um über 20 Millionen. Wie haben Sie die Summe aufgetrieben? Blocher: Ich musste die Banken unter Druck setzen, drängte darauf, einen Kredit von über 20 Millionen zu bekommen. Die Banken konnten es sich nicht leisten, nein zu sagen, weil bei EMS 1'500 Arbeitsplätze auf dem Spiel standen. Ich selber warf meine ganze Existenz in die Waagschale, mein Haus, meinen Garten - alles gepfändet. Die Banken verboten mir sogar, eine Lebensversicherung abzuschliessen, worauf meine Frau rebellierte, das sei Wahnsinn. Was denn passiere, wenn mir etwas zustosse. Sie mit vier kleinen Kindern, 20 Millionen Franken Schulden und einem so schwer defizitären Unternehmen! Offenbar haben Sie sich wieder einmal durchgesetzt. Blocher: Ich riet ihr, ihr Erbe dann auszuschlagen und sagte: Diese Firma muss doch gerettet werden. Dann habe ich meinen Bruder Gerhard eingeladen. Wir brauchten einen Theologen, einen Aussenstehenden. Ich kann mich noch gut erinnern. Morgens um zwei Uhr sagte er: "So, Schluss jetzt, macht doch kein solches Theater. Wenn einer - nicht weil er es will, sondern weil er es muss - eine Firma übernimmt, passiert ihm auch nichts." Da wusste ich: Jetzt kann ich nicht mehr anders. Und es kam gut: Die Firma gerettet, keine Bank hat Geld verloren, vorläufig müsste meine Frau kein Erbe ausschlagen. Brauchen Sie das Chaos, um selber leistungsfähig zu sein? Blocher: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich Veränderungen im Unternehmen, im Staat, beim Menschen selber nur in Krisen erzwingen lassen. Im Unternehmen gehe ich so weit, dass ich eine Krise schaffe, wenn ich keine habe. Dann ärgere ich mich zwar darüber, aber da muss ich durch. Wie gehen Sie mit Widerspruch um? Blocher: Ich pflege ihn bewusst. Selber oder durch die Verpflichtung von Leuten, die Ihnen widersprechen? Blocher: Beides. Wenn jemand einen Antrag einbringt, verpflichte ich jemand anderen, diesen zu zerzausen. Ich will sehen, wer die besseren Argumente hat. Wenn einer nach fünf Minuten nachgibt, hat er sich die Sache nicht gut genug überlegt. Das ist wieder das Pessimistische, das in allem Konservativen liegt: Bei mir schlummert in jedem Entscheid ein Fehlentscheid. Deshalb will ich die Schattenseiten kennen. Sie veranstalten Wortduelle. Blocher: Duelle von Argumenten schaffen das Klima für gute Entscheide. Deshalb ist der Tisch in meinem Sitzungszimmer so gross. Wir sitzen hier oft ganze Tage zusammen und streiten. Dabei können natürlich auch Gefühle verletzt werden. Es muss aber möglich sein, dass man in der Hitze des Gefechtes jemanden einen Trottel schimpfen, ein Argument als Unsinn bezeichnen kann. Es darf keine falschen Empfindlichkeiten geben. Man muss mit hochrotem Kopf sagen dürfen, was einem durch den Kopf geht. Dieses Prinzip hat sich bei Ihnen auch ins Politische übertragen. Blocher: Ja, aber die Lust am Widerspruch kommt vom Unternehmerischen her. Ich sage immer: Am schlimmsten ist es in Bern, wenn Einigkeit herrscht. Das ist dermassen absurd, dass ich mich oftmals querstelle. Ich begebe mich dann manchmal ans Pult, um diese gefährliche Harmonie, diese Selbstzufriedenheit zu stören und die Schattenseiten ans Tageslicht zu bringen. Man sagt Ihnen nach, Sie hätten in diesem Land die Politik polarisiert und brutalisiert. Blocher: Brutal ist höchstens die salonfähige Verlogenheit. Die schweizerische Politik leidet nicht unter zuviel, sondern unter zu wenig Polarisierung und Auseinandersetzung. Die direkte Demokratie bringt wenigstens noch ein gewisses Mass an Auseinandersetzung, im Parlament fehlt sie weitgehend. Ich betrachte es als grosse Stärke des Unternehmens, dass wir konfliktfähig sind, weil wir mit Krisen konfrontiert sind. Werden sie nicht bewältigt, stirbt das Unternehmen. Bis der Staat Krisen als solche erkennt, dauert es sehr lange. In Bern leben Verwaltungs-Abteilungen, obwohl sie schon lange tot sind. Es gibt Departemente, deren einzige Blutzufuhr in Salären besteht. Sie leben nicht mehr, weil sie keine Krisen hatten bzw. nicht wahrnahmen. Man hat versäumt, durch hervorgerufene Krisen Widerspruch zu erzeugen. Ihre Partei, die SVP, fällt nicht durch eine Ballung von Personen auf, die Ihnen Paroli bieten können. Haben Sie dort nur Ja-Sager? Blocher: Natürlich nicht. Aber gerade die, die nach aussen den Eindruck der anderen Meinung erwecken, bieten nicht Paroli. Wer leistet Ihnen denn jenen Widerstand, den Sie offensichtlich brauchen? Blocher: Im kleinen Kreis geht es hitzig zu, wird hart gestritten. Christoph Mörgeli beispielsweise ist im engen Rahmen - im guten Sinne - ein ganz giftiger Geselle. Diese Art der Meinungsfindung schätze ich sehr. Was die Auseinandersetzung zwischen der Zürcher und der Berner SVP anbelangt, so vermisse ich dabei, dass uns die Berner Kritiker nicht ebenbürtig die Stirn bieten. Sie haben keine Lösungen, melden sich anlässlich der Fraktionssitzungen kaum zu Wort. Kaum sind diese beendet, informieren sie die Presse darüber, dass sie nicht auf meiner Seite seien! Das ist ihre Schwäche, deshalb kommen sie nicht voran. Ich suche die Gegenmeinung, aber in der direkten Auseinandersetzung. Die Bilanz hat Ihnen vorgeworfen, Sie duldeten keinen Widerspruch. Blocher: Wenn entschieden ist, muss der Entscheid knallhart durchgezogen werden. Da bin ich unerbittlich. Aber für die Entscheidungsfindung suche ich den Widerspruch, provoziere ihn auch. In der Politik habe ich selbst dann widersprochen, wenn ich zunächst gar nicht anderer Meinung war. Das habe ich immer aus der Überzeugung heraus getan, dass es sich oftmals um eine Sackgasse handelt, wenn alle kopflos freudig hineinrennen. Mir liegt daran, die besseren Argumente aus meinen Gegnern herauszukitzeln. Die Intervention ist wichtiger als die Position, die vertreten wird? Blocher: Oft ist es so. Ich habe Persönlichkeiten gekannt, die nur aus dem Widerspruch, der Infragestellung herausführten. Das ist auch das Wesen der Entscheide. Entscheide sind das Resultat von Prozessen. Bei guten Entscheiden sind die meisten nicht ganz glücklich, aber wenn der Prozess der Infragestellung objektiv war, hat man am Schluss automatisch die am wenigsten schlechte Lösung. So führe ich. Sie sind ein Anhänger der direkten Demokratie, die langsam und bedächtig funktioniert, ein Klotz am Bein der Macher. Gleichzeitig sind Sie als Unternehmer ein Verfechter des Effizienzgedankens. Im "Magazin" hat Credit-Suisse-Chef Mühlemann dargelegt, die Politik müsse effizienter werden. Blocher: Er war für die Einschränkung der direkten Demokratie. Deshalb habe ich ihn kritisiert. Es kommt eben darauf an, was durch die direkte Demokratie gebremst wird. Ich bin bei allen politischen Prozessen, auch dort, wo es schnell gehen muss, für demokratische Mitwirkung. Die Verankerung von Entscheiden in der Bevölkerung ist wichtiger als Effizienz. Was Mühlemann angeht: Er meint, in Bern würden ausnahmslos hervorragende Entscheide getroffen, die man möglichst rasch umzusetzen habe. Dabei handelt es sich meistens um Eingriffe in die Freiheit der Bürger. Ich gehe noch weiter: zu grosse Effizienz im Staat führt zu Absolutismus. Taugen erfolgreiche Unternehmer überhaupt für Exekutivämter in der Politik? Blocher: Vielleicht noch weniger als Professoren, denen meistens jede Bodenhaftung fehlt. Unternehmer laufen Gefahr, sich schnell zu kleinen Königen zu entwickeln. Sie heben ab, sobald die Konkurrenz fehlt. Deshalb brauchen sie Widersacher. Sie hassen sie zwar wie die Pest, brauchen sie aber, weil sie sie auf den richtigen Weg treiben. Diese Einsicht bestimmt auch mein Verhältnis zu meinen politischen Gegnern - ich bin ihnen zutiefst dankbar. Woran erkennen Sie einen guten Mitarbeiter? Blocher: 50 % daran, ob er in der Lage ist, einen Auftrag vollständig auszuführen. Die anderen 50 % ergeben sich aus seiner Fähigkeit, den Chef durch gute Anträge zu führen. Ein guter Mitarbeiter fragt den Chef nie etwas. Wenn es in seinen Bereich gehört, handelt er. Wenn er nicht weiss, ob er handeln darf, handelt er. Wenn er sicher ist, dass der Chef handeln muss, dann sagt er ihm, wie zu handeln ist. Also entweder handelt er oder stellt dem Chef einen Antrag: "Wenn ich Sie - Chef - wäre, würde ich das Problem, das ich auf meiner Stufe nicht lösen kann, auf diese Weise angehen." So geraten Sie nicht in die Gefahr, dass die Leute zu Kopfnickern werden und gewinnen ausserdem enorm an Führungskraft. Ein Mitarbeiter sollte den Chef nie fragen? Blocher: Nie. Er versäumt die Führungskraft, statt selbst zu denken und Anträge zu unterbreiten. Er macht es sich einfach, indem er sagt: "He Chef, Sie sind doch viel schlauer als ich, sehen immer Lösungen - sicher haben Sie auch hier eine". Und schon gibt der geschmeichelte Vorgesetzte Antwort. Man muss den Mitarbeiter zwingen, einen Antrag zu stellen. Namentlich der Kopfnicker will ja immer nur herausfinden, was der Chef denkt, damit er nach dessen Vorstellungen handeln kann. Das praktizieren Sie so? Blocher: Fragen Sie meine Mitarbeiter. Immer wieder versuchen mir Journalisten bei Werkbesuchen in Domat/Ems das Gegenteil zu beweisen. Sie gehen meistens erstaunt nach Hause. Mein Modell erfordert auf allen Stufen selbständig denkende Leute. Es ist primär kein hierarchisches Modell. Ich will die Mitarbeiter zum Ehrgeiz erziehen, Ihren Chefs hervorragende Anträge vorzulegen. Dazu braucht es auch die richtigen Vorgesetzten. Die meisten haben es gar nicht gern, wenn ihnen einer der Angestellten sagt, wie sie zu entscheiden haben. Würden Sie sich als Realisten bezeichnen? Blocher: Sicher eher als meine Gegenspieler in Bern. Die glauben zum Beispiel, dass Politiker nie lügen. Sie glauben das nicht? Blocher: Realistischer wäre es, davon auszugehen, dass Politiker auch Gauner sein können. Nehmen Sie den Fall Kohl: Alle meinten, er sei ein Heiliger, nehme keine Spendengelder. Gerade bei einem solchen Machtpotential ist es realistischer, dies von Anfang an anzunehmen. Weil ich davon ausgehe, dass Politiker nicht plötzlich bessere Menschen sind, bin ich auch nicht so erstaunt, wenn einer seine Macht tatsächlich missbraucht. Die heuchlerische Entrüstung über den Fall Kohl in Bern war irritierend. Warum um Himmels willen soll ein Bundeskanzler nicht lügen? Er ist doch nur ein Mensch. Mit einer derartigen Naivität käme man in der Führung eines Unternehmens nicht weit. Man muss die Menschen realistisch, nicht idealistisch sehen. Hat Ihnen das Ihr Vater gesagt? Blocher: Mein Vater - ein Pfarrer - sagte: Du kannst im Leben mit allen Menschen verkehren: mit leisen, lauten, groben, gestrandeten, auch mit Gaunern. Bei einer Sorte aber musst Du aufpassen: bei den "Frommen". Nimm Dich in Acht vor den Süssen und den Heuchlern. Er erklärte diese Aussage theologisch: Die moralistischen "Frommen" neigen dazu, das Evangelium umzukehren. Wir leben davon, dass wir die Gnade Gottes haben, von oben nach unten. Die selbstgerechten Frommen sagen: "Wir sind gut, weil wir an ihn dort oben glauben. Ich bekenne mich zu Gott, folglich bin ich fehlerlos". Wenn ich im Geschäftsleben auf Süsse und Moralisten treffe, dann weiss ich, dass ich aufpassen muss. Süsse sind bessere Betrüger als Grobschlächtige. Welches sind neben Rommel Ihre grossen Vorbilder in der Führung? Blocher: In der Politik ist Churchill eines meiner Vorbilder. Er war ja nie der Heilige, als den man ihn heute sieht - äusserlich eher grob, aber mit gutem Motiv. Als die Alliierten Richtung Berlin fuhren sagte er zu den Generälen: "Komm', fahrt an Berlin vorbei, Ihr müsst den Vormarsch der Kommunisten stoppen. Berlin kann nicht das Ziel sein. Ihr müsst sie zurückdrängen, auch wenn es Euren Befehlen widerspricht." Wie recht er doch hatte. Diese Schlitzohrigkeit ist berechtigt, wenn das Motiv stimmt. Die Generäle befolgten aber ihren eigenen Befehl, nicht die Weisungen Churchills. Auch das war vorbildlich, aber vielleicht falsch. Macht es Ihnen zu schaffen, dass Sie selber nie in den Vereinigten Staaten studiert haben? Blocher: Ja, darunter habe ich immer gelitten. Hätte ich gehen können, wäre mir unternehmerisch wohl manches leichter gefallen. Aber es war damals nicht möglich, ich musste arbeiten, eine Familie ernähren. Was halten Sie für Ihre grösste Stärke? Blocher: Ich bin hartnäckiger als andere.
22.06.2000
«Leider träumt Ogi von einer Armee, die mit der Nato zusammengeht»
Interview mit dem "Blick" vom 22. Juni 2000 Happiger Vorwurf des Zürcher SVP-Politikers Christoph Blocher an Bundespräsident Adolf Ogi: Der VBS-Chef hat die Offiziere in den letzten Jahren immer wieder für politische Propagandazwecke missbraucht, donnert Blocher im grossen BLICK-Interview über die Zukunft unserer Armee. Eduard Mader Herr Blocher, sind Sie als Oberst gegen die Armee? Christoph Blocher: So ein Blödsinn. Warum bekämpfen Sie dann die Militärgesetzrevision mit allen Mitteln? Blocher: Sie schafft die Grundlagen, dass die Schweizer Armee im Ausland in Kampfgebiete geschickt wird. Und sie ist eine Vorbereitung auf den Nato-Beitritt. Das ist ein klarer Verstoss gegen unsere Neutralität und eine Abkehr von unserer 200-jährigen Friedenstradition. Ohne die Revision muss laut Bundespräsident Adolf Ogi die Armee-Reform neu geschrieben werden. Blocher: Das beweist ja gerade, dass man sie bekämpfen muss! Die Auslandtruppen haben eine so grosse Bedeutung erlangt, dass die ganze Armee-Reform daran hängt. Wie sehen Sie die Armee-Reform? Blocher: Die Armee muss im Fall eines Angriffs die Schweiz verteidigen. Dafür braucht sie ein Ele-ment mit hochtechnischen Waffen - eher Profis. Für den Fall, dass es überall losgeht, braucht sie viele Milizsoldaten. Leider träumt Ogi von einer Armee, die mit der Nato und ausländischen Armeen zu-sammengeht. Also mehr als die vom Bundesrat als Zielgrösse genannten 100 000 bis 120 000 Aktiven? Blocher: Entscheidend ist der Auftrag - Zahlen sind Details. Stört es Sie nicht, den eigenen Bundesrat zu attackieren? Blocher: Ich greife eine falsche Konzeption an. Ich bedaure natürlich, dass Herr Ogi als Bundesrat von meiner Partei den Gegenstandpunkt vertreten muss. Wenn es um Interessen des Landes geht, können aber keine personellen Rücksichten genommen werden. Was halten Sie von Ogis Maulkorb für die Generalität? Blocher: Im Militär darf nicht politisiert werden. Ich habe als Regimentskommandant seinerzeit mei-nen Offizieren verboten, im Militärdienst über die Armeeabschaffungs-Initiative zu diskutieren. Ogi und sein Departement haben die Offiziere und Offizierskurse in den letzten Jahren missbraucht, um Pro-paganda für künftige politische Vorstellungen zu machen. Die Gegner durften nichts sagen. Das geht natürlich nicht. Muss Ogi gehen, wenn er mit der Militärgesetzrevision scheitert? Blocher: Es ist nicht üblich, dass ein Bundesrat geht, wenn er mit einem Geschäft untergeht. Er muss es selber entscheiden. Die Berner SVP hat gestern die Revision gutgeheissen: Eine neue Zerreissprobe? Blocher: Die SVP will Unabhängigkeit und Neutralität sichern, will nicht in die EU und in die Uno. Wenn diese Ziele ein halbes Jahr nach den Wahlen über den Haufen geworfen werden, ist das ein Problem der Berner: Sie müssen mit dem Problem der eigenen Glaubwürdigkeit fertig werden. Der Zürcher Flügel hat aber nicht gerade Erfolg: Wie beurteilen Sie die Schlappe bei den Bundesrich-terwahlen? Blocher: Die anderen Parteien versuchen, die erfolgreiche Partei ein wenig zu strafen. Wahlerfolg und Richterwahlen sind weniger wichtig, als dass wir für Freiheit und Wohlstand für die Bürger kämp-fen. Da werden wir nicht aufgeben.
05.06.2000
Zusammenarbeit statt Einbindung
Mein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. Juni 2000 Die Europapolitik nach der Annahme der bilateralen Verträge Von SVP-Nationalrat Christoph Blocher, Herrliberg Nach der Abstimmung über die bilateralen Verträge steht die künftige Europapolitik zur Diskussion. Manche empfehlen einen raschen EU-Beitritt, andere fordern dessen sorgfältige und längerfristige Vorbereitung, wieder andere wollen zuerst einmal Erfahrungen mit dem Bilateralismus sammeln, und strikte EU-Gegner lehnen weitergehende Schritte in Richtung einer EU-Integration generell ab. Die NZZ hat dazu eine kleine Artikelserie gestartet. Hinter jeder europapolitischen Überlegung stecken die Grundfragen: Soll die Schweiz als direktdemokratischer Kleinstaat ihre Zukunft auch weiterhin selber bestimmen können oder soll sie durch das Grossstaatengebilde Europäische Union (EU) weitgehend über sich selbst bestimmen lassen? Soll die Schweiz ihre für den Erfolg des Landes wesentlichen Besonderheiten, nämlich die direkte Demokratie, den Föderalismus, die Neutralität, preisgeben oder nicht? Was wollen wir? Ein EU-Beitritt brächte jedoch neben diesen grundsätzlichen auch eine Vielzahl von weiteren Problemen, die das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger betreffen: Wollen wir Schweizer uns die Mindesthöhe der Mehrwertsteuer von 15 statt 7,5 Prozent vorschreiben lassen? Wollen wir jährlich über 4 Milliarden Franken, das heisst etwa 10 Prozent des Bundeshaushaltes, zusätzlich nach Brüssel abliefern? Wollen wir die Verteidigung unseres Landes einer westeuropäischen Union überlassen, nachdem das Land mit der dauernd bewaffneten Neutralität 200 Jahre lang ohne fremde Truppen in Frieden gelebt hat? Wollen wir die künftigen europäischen Zinsbesteuerungsregeln übernehmen? Wie steht es mit einer Steuerharmonisierung, die immer stärker propagiert wird? Wie steht es mit der Abschaffung des Schweizerfrankens? Wie mit der Erhöhung des Zinsniveaus und den damit verbundenen Folgen für Arbeitsplätze, für Mieten und für Einfamilienhäuser? Wie steht es um das Bankgeheimnis? Was sagen wir zu den Harmonisierungsbestrebungen der EU, wenn sie für unser Land mit Sicherheit eine Nivellierung nach unten bedeuten? Solche und viele ähnliche Fragen verbergen sich hinter unserer Souveränität. Acht Jahre nach dem EWR Der Wille zur Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit ist aber weder beim Bundesrat noch beim Parlament gegeben. Gäbe es die Volksabstimmung nicht, wäre die Schweiz längst Mitglied der Europäischen Union. Das entscheidende Hindernis bildete die Verwerfung des EWR-Vertrages von 1992. Bei einer Annahme hätte die EU in vielen Bereichen für die Schweiz Recht gesetzt, ohne dass unser Land ein Mitentscheidungs- oder Vetorecht gehabt hätte. Obwohl alle führenden Kreise den EWR als für die Schweiz lebens-, teilweise sogar überlebenswichtig bezeichneten, lehnten Volk und Stände diesen Kolonialvertrag, dieses "Trainingslager" zum EU-Beitritt ab. Nach acht Jahren ist die Bilanz eindeutig: All die Schreckensszenarien, die für den Fall der Verwerfung des EWR gemacht wurden, traten nicht ein. Im Gegenteil: Die Schweiz belegt in internationalen Ranglisten auch im Jahr 2000 punkto Beschäftigung, wirtschaftliche Wohlfahrt und Leistungsfähigkeit bis hin zur Lebensqualität des Einzelnen einen Spitzenplatz. Betrug am Volk Seit 1992 hat die Schweiz eine Reihe von bilateralen Verträgen abgeschlossen. Das letzte Paket wurde am 21. Mai 2000 durch das Volk gutgeheissen. Der Bundesrat, aber auch der Grossteil der Politiker hat betont, es handle sich nicht um einen ersten Schritt in die EU. Kaum ist die Schlacht geschlagen, münzen zahlreiche Politiker die Zustimmung zu den bilateralen Verträgen zu einer Zustimmung zum EU-Beitritt um. Doch die Angst vor einer Volksabstimmung ist offensichtlich. Statt die Initiative "Ja zu Europa" endlich in ablehnendem Sinne vor das Volk zu bringen, versucht man, die Initianten zu deren Rückzug zu bewegen mit dem Versprechen, den Inhalt der Initiative ohne Volksentscheid umzusetzen. Man weiss: Volk und Stände würden sich gegen einen EU-Beitritt aussprechen. Die Volksinitiative "Ja zu Europa" gehört ohne Gegenvorschlag vors Volk. Nur keine Bittgänge nach Brüssel Solange ein Land souverän und eigenständig bleibt, gibt es zwischenstaatliche Probleme. Diese löst man in gegenseitigem Einvernehmen. Darum führt die Schweiz seit über 700 Jahren bilaterale Verhandlungen und verfügt über eine Vielzahl solcher Verträge. Nur: Bei Vertragsverhandlungen ist Klugheit gefragt. Die Schweiz hat zunächst - besonders nach den nun gutgeheissenen sektoriellen Abkommen, die für unser Land mit grossen Lasten zugunsten der EU verbunden sind - jetzt keine lebensnotwendigen Dinge mit der EU zu regeln. Es braucht jetzt keine Bittgänge nach Brüssel! Hat die EU Probleme, wird sie mit ihren Anliegen auf die Schweiz zukommen. Zum gegebenen Zeitpunkt sind Gegenforderungen zu stellen. Ich hoffe sehr, dass der Bundesrat nicht die gleichen Fehler begeht wie bei den letzten Abkommen. Eiserne Verhandlungsregeln lauten, dass Bittgänge und Zeitdruck schlechte Ratgeber sind. Diesen Regeln sind auch alle Sonderwünsche von Wirtschaft und Verwaltung unterzuordnen. Zunächst gilt es, die aus der Umsetzung der eben angenommenen bilateralen Verträge entstehenden Probleme zu lösen und die Interessen der Schweiz zu wahren. Die EU realistisch sehen Seit 1992 hat die Zeit für die Beibehaltung der schweizerischen Souveränität gearbeitet: Die EG ist zu einer Union geworden, die Verträge von Maastricht sind in Kraft, der Euro und seine Schwächen sind Tatsache, die Massnahmen und die Bedrohung der europäischen Grossstaaten gegen den Kleinstaat Österreich haben das Gerede von der Brüderlichkeit innerhalb dieser Gemeinschaft entlarvt. Die Spitze eines Korruptionsberges kam öffentlich zum Vorschein. Bereits wird von Ausschaltung des Steuerwettbewerbes und von Steuerharmonisierung gesprochen. Unsere Wirtschaft ist - im Gegensatz zu 1992 - nicht mehr der Meinung, sie brauche einen EU-Beitritt. Es ist zu hoffen, dass Bundesrat und Parlament dies endlich berücksichtigen. Wie entwickelt sich die EU? Bei der heutigen Ausgangslage muss die Beibehaltung der Souveränität und Unabhängigkeit oberstes strategisches Ziel sein, auch wenn aus der EU neue Töne zu hören sind: Kommissionspräsident Prodi glaubt, dass sich die EU stärker der Schweiz anpassen werde. Er vertritt die Meinung, die EU werde eine Gemeinschaft von Minderheiten sein - so wie die Schweiz das heute eben auch sei. Die Äusserungen des deutschen Aussenministers Fischer haben dem Föderalismus-Gedanken innerhalb der EU Auftrieb gegeben, fordern aber auch ein ungleiches Gewicht der verschiedenen EU-Staaten. Viele Europäer hoffen auf ein Europa der Vaterländer, wie es de Gaulle seinerzeit propagierte. Es handelt sich jedoch um Träume - mehr nicht. Deshalb heisst die - für die Politiker persönlich etwas weniger attraktive, für die Bürgerinnen und Bürger aber erfolgversprechendere - zukünftige Devise: Kooperation statt Integration, Zusammenarbeit statt Einbindung.
13.05.2000