Referat von Bundesrat Christoph Blocher zum 100-jährigen Bestehen des Aargauischen Anwaltsverbandes

Gehalten am Samstag, 10. September 2005 auf Schloss Lenzburg

10.09.2005, Lenzburg

Lenzburg, 10.09.2005. Anlässlich des 100. Geburtstags des Aargauischen Anwaltsverbandes sprach Bundesrat Christoph Blocher über verschiedene Gesetzgebungsänderungen, welche den Anwaltsberuf betreffen. Thema war unter anderem die laufende Justizreform mit der Totalrevision der Bundesrechtspflege sowie der Vereinheitlichung des Strafprozess- und des Zivilprozessrechts. Weiter ging der Justizminister auch auf andere bedeutende Totalrevisionen wie die Bologna-Revision des eidgenössichen Anwaltsgesetzes ein.

Es gilt das gesprochene Wort

Herr Präsident,
Frau Grossratspräsidentin,
Herren Bundesrichter,
Herr Obergerichtspräsident,
Meine Damen und Herren Gerichtspräsidenten,
Geschätzte Mitglieder des Anwaltsverbandes,
Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie feiern heute den 100. Geburtstag Ihres Verbandes auf Schloss Lenzburg, welches zu den ältesten und bedeutendsten Höhenburgen der Schweiz gehört.

Dass Sie mich als Festredner an diesen geschichtsträchtigen Ort eingeladen haben, trifft sich gut, denn ich habe bekanntlich keine Berührungsängste zu Schlössern und schon gar nicht zu Schlössern im Kanton Aargau, wo die Wiege der Habsburger liegt, deren Reichsadler unser eigenes Schloss im Bündnerland ziert.

Vor hundert Jahren gab es in der ganzen Schweiz kaum mehr als 200 Anwälte. Heute zählt der Schweizerische Anwaltsverband rund 7’300 Anwälte und Anwältinnen. Mit knapp 300 Aktivmitgliedern ist der Aargauische Anwaltsverband zwar nicht einer der grössten kantonalen Verbände, befindet sich aber nach seiner Mitgliederzahl auf Platz 7, was bedeutet, dass der Anwaltsverband im Vergleich zur Bevölkerung des Kantons relativ viele Mitglieder hat.

Entweder sind die Aargauer überdurchschnittlich streitsüchtig oder überdurchschnittlich gesetzestreu.

Tatsache ist, dass der Anwaltsberuf in allen Lebensbereichen immer unersetzlicher wird. Wer ein Haus baut, weiss heute nicht, ob der Architekt oder der Anwalt wichtiger ist. Wer eine Firma kauft, kann u.U. mit dem Steueranwalt mehr verdienen als mit der Firma. Das ist an sich nicht gerade Ausdruck eines freiheitlichen Rechtsstaates. Der Umfang des Rechts und damit auch die Zahl der Gesetzeslücken nehmen kontinuierlich zu und die Fälle, mit denen Sie konfrontiert werden, werden komplexer. Zudem ändert sich die die Gesetzgebung immer schneller. Die hohe Zahl der Rechtsfälle, der Wandel, die Regelungsdichte und die internationale Verflechtung tragen dazu bei, dass Sie sich immer mehr spezialisieren müssen.

Justizreform

Ich weiss nicht, ob Sie sich bewusst sind, dass Sie sich mitten in einer umfassenden Justizreform befinden.

So in einer Totalrevision der Bundesrechtspflege mit dem Ziel :

– eines entlasteten und einheitlichen Bundesgerichts in Lausanne und Luzern
– eines neuen Bundesstrafgerichts in Bellinzona
– eines neuen Bundesverwaltungsgerichts in St. Gallen.
– eines für die Kantone obligatorisch vorgeschrie-benen zweistufigen Instanzenzugs

Zudem stehen wir vor einem vereinheitlichten:

– Strafprozessrecht
– und Zivilprozessrecht

Neben diesen die Justiz betreffenden Erlasse stehen wir in bedeutenden Totalrevisionen – ich erinnere an:

– das GmbH Recht
– das Revisionsaufsichtsrecht
– die Transparenzvorlage
– dazu wird das OR in Bezug auf das Aktienrecht revidiert
– das Haager Trustübereinkommen ist umzusetzen
– und schliesslich – für Sie von besonderem Interesse – steht eine Revision des Anwaltsgesetzes bevor.

Sie werden verstehen, dass ich hier weder überall Neues, noch für Sie besonders Interessantes zu sagen habe. Doch das Anwaltsgesetz dürfte die meisten von Ihnen interessieren. Sie sehen daraus auch die Interdependenzen zu ausländischen Regelungen. Jede Bindung hat ihre Folgen. Ihnen als Anwalt sollte es ja bekannt sein: „Darum prüfe, wer sich ewig bindet…“

A. Bologna-Revision des eidg. Anwaltsgesetzes

1999 haben die europäischen Bildungsminister in Bologna in einer freiwilligen Selbstverpflichtung die Schaffung eines europäischen Bildungsraums verabredet.

Europa sollte als Bildungsstandort weltweit gestärkt und konkurrenzfähig gemacht werden. Ich glaube nicht, dass dies mit Bologna erreicht wird. Aber es gilt trotzdem. Gemäss Bologna sollen alle Studiengänge bis 2010 auf ein zweistufiges System aus einem berufsqualifizierenden Bachelor- und einem weiter führenden Master-Abschluss umgestellt werden. Dadurch möchte man eine transparente und vergleichbare Ausgestaltung der Studiengänge erreichen.

Die Schweiz zählt auch zu diesen Bologna-Staaten und darum hat diese Reform auch Auswirkungen auf das eidgenössische Anwaltsgesetz.

Mit der Bologna-Reform soll nämlich das bisher zur Eintragung notwendige Lizentiat durch den Bachelor oder Master ersetzt werden.

Wir hatten die Frage zu stellen, ob ein Bachelor für eine Eintragung ins Anwaltsregister genügen oder ob der Master verlangt werden soll. Die Beantwortung dieser Frage ist auch für die Kantone bei der Festlegung der Zulassungsvoraussetzungen für die Anwaltsprüfung von Bedeutung.

Eine Umfrage des Bundesamts für Justiz bei den interessierten Kreisen im Sommer des vergangenen Jahres hat gezeigt, dass die Mehrheit, darunter insbesondere auch der Schweizerische Anwaltsverband, für den Master als Voraussetzung der Registrierung ist. Es versteht sich, dass Sie – die Sie ja schon anerkannte Anwältinnen und Anwälte sind, für die höhere Hürde plädieren.

Um jedoch den praktischen Erfordernissen und Verhältnissen Rechnung zu tragen, hat der Bundesrat einen Vorschlag in die Vernehmlassung geschickt, wonach

– für den Registereintrag der Master notwendig ist,
– für die Zulassung zum Anwaltspraktikum der Bachelor jedoch genügt.

Ende Juni ist das Vernehmlassungsverfahren abgeschlossen worden. Es zeigt sich, dass die grosse Mehrheit der Vernehmlasser den Master als Voraussetzung für den Registereintrag befürwortet. Beim zweiten Punkt, d.h. bei der Zulassung zum Anwaltspraktikum mit einem Bachelor, sind die Meinungen der Vernehmlasser hingegen geteilt.

Der Bundesrat wird die Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens nun bald zur Kenntnis nehmen und die Botschaft zur Revision des Anwaltsgesetzes wahrscheinlich noch in diesem Herbst an das Parlament weiterleiten. Die Gesetzesänderung wird voraussichtlich in der ersten Hälfte 2007 in Kraft treten.

Nun noch ein Wort zu den anderen Vorhaben:

B. Totalrevision der Bundesrechtspflege

Der Bereich Justiz gleicht schon seit einigen Jahren einer Grossbaustelle. Mehrere Verfassungsvorgaben werden auf Gesetzesstufe im Projekt “Totalrevision der Bundesrechtspflege” umgesetzt. Dieses Projekt umfasst – wie anfänglich erwähnt – drei Bundesgesetze:

– das Bundesgerichtsgesetz,
– das Verwaltungsgerichtsgesetz und
– das Strafgerichtsgesetz.

1. Die neuen Gerichtsgesetze

Von diesen drei Gesetzen ist das Strafgerichtsgesetz bereits verabschiedet und in Kraft: Das Bundesstrafgericht hat seine Tätigkeit am 1. April 2004 in Bellinzona aufgenommen. Es dürfte zurzeit wohl eines der wenigen Gerichte unseres Landes sein, das von sich noch nicht sagt, es sei völlig überlastet…

Die beiden anderen Gesetze, das Bundesgerichtsgesetz und das Verwaltungsgerichtsgesetz, sind nach langen und intensiven parlamentarischen Beratungen am 17. Juni dieses Jahres verabschiedet worden. Sie werden nach dem derzeitigen Stand der Planung am 1. Januar 2007 in Kraft treten.

Damit sind die Grundlagen geschaffen, damit:

– das Bundesgericht und das Eidgenössische Versicherungsgericht entlastet werden;
– das komplizierte und unübersichtliche Rechtsmittelsystem im Interesse der Rechtssuchenden vereinfacht wird;
– und die Lücken beim gerichtlichen Rechtsschutz geschlossen werden (Rechtsweggarantie).

Das neue Bundesverwaltungsgericht wird die heutigen rund 34 Rekurskommissionen und Beschwerdedienste ersetzen. Es wird seinen Betrieb am 1. Januar 2007 in Bern aufnehmen und voraussichtlich im Jahre 2010 an seinen endgültigen Standort in St.Gallen umziehen.

Tragende Säulen und politisch schwere Brocken sind das neue Strafprozessrecht und das neue Zivilprozessrecht.

2. Vereinheitlichung des Strafprozessrechts

Die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts ist ein Anliegen, das älter ist als der Aargauische Anwaltsverband. Nun sollen die 26 kantonalen Strafprozessordnungen, die kantonalen Bestimmungen über das Jugendstrafverfahren und der Bundesstrafprozess noch in diesem Jahrzehnt durch eine einheitliche schweizerische Strafprozessordnung und eine schweizerische Jugendstrafprozessordnung abgelöst werden. Es ist geplant, dass der Bundesrat die Botschaft im Herbst dieses Jahres verabschieden wird, so dass im nächsten Jahr mit dem Beginn der parlamentarischen Beratungen gerechnet werden kann.

3. Die Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts

Die dritte Säule, die ich hier erwähnen möchte, ist die Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts. Der Bundesrat wird seine Botschaft dem Parlament voraussichtlich in der ersten Hälfte des nächsten Jahres (2006) vorlegen.

C. Entwicklungen im Gesellschaftsrecht

Abgesehen von der Aktienrechtsrevision von 1991 wurde das Gesellschaftsrecht seit 1936 praktisch nicht mehr überarbeitet. Die Wirtschaft ist jedoch in den letzten Jahrzehnten viel dynamischer geworden.

Auch die bekannten Unternehmensskandale am Anfang dieses Jahrtausends (ich erinnere an Enron, Swissair etc.) haben einen Reformstau aufgezeigt. Das Gesellschaftsrecht wird daher in den nächsten Jahren modernisiert.

Einige Projekte haben wir bereits zum Abschluss gebracht: Das Fusionsgesetz beispielsweise ist seit 2004 in Kraft und hat sich in der Praxis gut eingespielt. Andere Vorhaben stehen vor ihrer Verwirklichung.

1. Das neue GmbH-Recht

Das geltende GmbH-Recht stammt wie gesagt aus dem Jahr 1936 und entspricht den heutigen wirtschaftlichen Bedürfnissen nicht mehr. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Rechtsform hat erheblich, ja fast explosionsartig zugenommen: waren es im Jahre 1992 noch ca. 3’000 GmbH, gab es im Jahre 2004 bereits annährend 77’000.

Mit dem neuen GmbH-Recht wird die GmbH als “personenbezogene Kapitalgesellschaft” ausgestaltet. Die GmbH ist für Betriebe gedacht, in denen die persönlichen Qualitäten der Gesellschafter im Vordergrund stehen – dies im Unterschied zur AG, wo in erster Linie die rein finanzielle Beteiligung der Aktionäre massgebend ist. Die GmbH ist also insbesondere auf die Bedürfnisse von KMU ausgerichtet.

Das neue GmbH-Recht wird zahlreiche Instrumente dispositiver Natur zur Verfügung stellen. Damit sollen sich die Gesellschafter ihr Unternehmen “mass-schneidern” können. Durch die Aufhebung unnötiger Hürden – zum Beispiel durch die Ermöglichung der “Einmann-GmbH” – erleichtert und fördert der Entwurf die Gründung von Jungunternehmen. Die Vorlage befindet sich momentan in der Differenzbereinigung und wird voraussichtlich 2007 in Kraft treten.

2. Das neue Revisionsrecht

Der Entwurf für ein neues Revisionsrecht stellt zusammen mit den Regeln zur Offenlegung der Kaderlöhne ein erstes wichtiges Paket zur Verbesserung der Corporate Governance dar. Die Vorlage bringt vor allem zwei Neuerungen: Für die Revisionspflicht ist neu nicht mehr die Rechtsform, sondern die wirtschaftliche Bedeutung eines Unternehmens entscheidend. Künftig wird auf die Grösse eines Unternehmens abgestellt. Dann wird die Schaffung einer staatlichen Aufsichtsbehörde vorgesehen, die über die Zulassung von Revisoren entscheidet und gewährleistet, dass Revisionsdienstleistungen nur von qualifizierten Personen erbracht werden. Auch diese Vorlage befindet sich in der Differenzbereinigung und dürfte voraussichtlich 2007 in Kraft treten.

3. Die anstehende Aktienrechtsrevision

Ein weiteres Grossprojekt im Bereich des Gesellschaftsrechts ist die erneute Revision des Aktienrechts. Sie soll namentlich die Corporate Governance und die Rechnungslegung verbessern. Auch hier besteht Revisionsbedarf: Die Vorlage wird diverse Vorschriften enthalten, die insbesondere die Stellung der Aktionäre stärken und die gesellschaftsinterne Transparenz verbessern. Neu geregelt wird zudem auch die institutionelle Stimmrechtsvertretung. Die Eröffnung der Vernehmlassung zur Reform des Aktienrechts ist für Ende 2005 geplant.
D. Haager Trust-Übereinkommen

Zum Schluss möchte ich Sie noch kurz über das Haager Übereinkommen über das auf Trusts anzuwendende Recht informieren. Dieses Abkommen soll nach dem Willen des Bundesrates ratifiziert werden.

Der Trust ist insbesondere in Staaten angelsächsischer Rechtstradition verbreitet. Der Begriff bezeichnet ein Rechtsverhältnis, bei dem bestimmte Vermögenswerte treuhänderisch auf eine oder mehrere Personen (trustees) übertragen werden, welche diese zu verwalten und für einen vom Treugeber (settlor) vorgegebenen Zweck zu verwenden haben.

Auch in der Schweiz liegen zahlreiche zu Trusts gehörende, beziehungsweise im Namen von Trusts verwaltete Vermögenswerte. Immer mehr Banken haben eigene Trust-Abteilungen. Daneben spezialisieren sich immer mehr in der Schweiz niedergelassene Firmen auf die Verwaltung von Trusts. Auch Treuhandgesellschaften sowie Anwältinnen und Anwälte sind zunehmend im Bereich der Trust-Planung und –Administration tätig.

Auch die Trust-Gesetzgebung trägt also dazu bei, die Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Tätigkeit in der Schweiz zu verbessern.

Das EJPD ist nun dabei, die Vorlage unter Auswertung der Vernehmlassungsergebnisse zu überarbeiten und einen Entwurf für eine bundesrätliche Botschaft zu erstellen. Mit dieser ist bis zum Ende des Jahres zu rechnen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Gesetzgebungsbaustellen in meinem Departements sind derer viele. Ich hoffe, dass Sie nun nicht völlig erschöpft, sondern für die weiteren Teile des Festakts gestärkt sind.

Ich jedenfalls bin froh, für den Rest des Abends meinen Kopf aus den gesetzgeberischen Schlingen zu ziehen und hier in Freiheit und gesellschaftlichem Freiraum mit Ihnen einen Jubiläumsabend verbringen zu dürfen.

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