Für eine freie, sichere und unabhängige Schweiz – Zum Nationalfeiertag 2006
Schriftliche Fassung der Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher an den 1. Augustfeiern 2006 in Mont-sur-Rolle, Uster, Kerns und Oberwald
31.07.2006, Mont-sur-Rolle, Uster, Kerns und Oberwald
Bundesrat Christoph Blocher ging in seinen Reden zum Schweizer Nationalfeiertag auf das Wesen der Schweiz ein. Dazu gehöre der Wille zur Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Direkter Ausdruck davon sei die direkte Demokratie. Diese Werte gelte es am 715. Geburtstag der Schweiz dankbar zu feiern.
Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.
Liebe Miteidgenossen
Liebe Miteidgenossinnen
Liebe Geburtstagsgäste
1. Warum feiern wir heute?
Wir haben uns heute hier versammelt, um in einfacher, aber würdiger Weise Geburtstag zu feiern. Den Geburtstag unseres Vaterlandes. Wir tun es so, wie es uns die Tradition gebietet.
Im Gegensatz zu den Menschen erblicken Länder nicht an einem bestimmten Tag das Licht der Welt. Die Schweiz schon gar nicht. Sie ist vielmehr in langen Zeiträumen entstanden. Als Geburtsjahr wurde das Jahr 1291 bestimmt. Warum? Weil auf dieses Jahr ein wichtiges Dokument datiert wurde: Der Bundesbrief von 1291.
Am Anfang der Eidgenossenschaft steht also dieses Pergamentpapier.
– Es ist nur ein kurzes Schriftstück.
– Ein einziges Blatt.
– 20 cm breit und 32 cm hoch.
– In Latein geschrieben.
– Siebzehn Zeilen Text.
Man kann sich ausdenken, wie heute ein solches Dokument aussehen würde, wie viele hundert Seiten es umfassen würde. Zwar nicht in Lateinisch geschrieben, aber für uns trotzdem unverständlich.
Der Bundesbrief ist zeitlos. Aber zu jeder Zeit – auch heute – aktuell. Weil er für die Schweiz Grundsätzliches enthält:
1. Er beginnt mit der Anrufung Gottes; und stellt sich damit unter dessen Schutz.
2. Es wird beschlossen, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, und keine fremden Richter über sich zu dulden.
3. Man verspricht sich gegenseitig Hilfe zu leisten.
Dieser Bundesbrief ist also das Bekenntnis und der Ausdruck des gemeinsamen Willens zur Unabhängigkeit. Und darum ist es ein zeitloses Geschehen, das wir heute am 715. Geburtstag der Schweizerischen Eidgenossenschaft feiern dürfen.
2. Was ist am Geburtstag zu feiern?
Geburtstage sind Feiern der Dankbarkeit. Dankbar feiern wir, dass wir es wieder ein Jahr weiter gebracht haben. Und das im 715. Lebensjahr!
Wir feiern nicht die Unfehlbarkeit des Landes. Nein. Wir wollen heute mit Dankbarkeit unseres Landes, seiner Geschichte und seiner Menschen gedenken.
3. Was unterscheidet der schweizerische Geburtstag von anderen?
Die Schweiz feiert ihren Geburtstag „flächendeckend“ in ein paar Tausend Gemeinden, in Familien- und Freundeskreisen.
Eine zentrale, offizielle Nationalfeier, wie das in anderen Ländern üblich ist, kennt die Schweiz nicht.
Trotzdem, und ich betone dies: Alle Feiern sind gleichwertig. Damit feiern Sie hier stellvertretend für das Ganze. Und es braucht beileibe keinen Bundesrat dazu. In der Schweiz funktioniert sogar die Bundesfeier ohne obrigkeitlichen Segen.
Drückt sich nicht schon darin eine wesentliche Besonderheit unseres Landes aus? Nicht von oben, nicht durch einen königlichen Gnadenakt ist die Schweiz geprägt worden. Nein, von unten, durch die Bürger, die sich zur Unabhängigkeit verpflichteten.
So soll es auch am Bundesfeiertag nicht anders sein.
4. Das Wesen der Schweiz
Ein wesentliches Merkmal der Schweiz ist der feste Wille zur Unabhängigkeit im Innern wie gegen aussen.
Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gehören untrennbar zusammen.
Diese drei Säulen haben die Schweiz stark und wohlhabend gemacht, weil sie auch dem Einzelnen genügend Raum boten, stark und wohlhabend zu sein. Denn ein Staat ist immer die Summe seiner Bürger.
Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind nicht nur bequem. Es gilt die Instrumente und die Mentalität, die das fördern und aufrechterhalten, bereit zu stellen. Neben Bürgerpflichten auch eine Armee. Wohl ist der Wille zur Selbstbestimmung immer wieder im Laufe der Geschichte bedroht worden. Nicht, dass die Schweizer stets ein tugendhaftes Völklein gewesen wären. Nein, oft genug haben sie gegen ihre eigenen Grundsätze verstossen. Sie haben geliebäugelt mit den europäischen Grossmächten, ihre Neutralität vergessen, sich angebiedert.
Die Gefahr kommt heute auf leiseren Sohlen. Unsere Unabhängigkeit ist weniger von aussen bedroht. Internationalismus, die Lust nach grossen Zusammenschlüssen, Teilnahme an überstaatlichen Organisationen sind angesagt – und dahin drängen politische Eliten. Aber dies sind Irrwege für die Schweiz. Weltoffen Ja. Einbindung und Einschränkung der Handlungsfreiheit Nein.
Wer die 715jährige Geschichte verfolgt, wird sehen: Zum Glück hat das Land immer wieder zu seinem Weg zurückgefunden. Wir haben uns immer wieder auf die Freiheit, die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung besonnen. Auf die eigene Staatsidee ist Verlass.
Mit Freude stellen wir fest, dass angesichts der Realitäten in dieser Welt, die Menschen in unserem Lande wieder vermehrt merken, was es bedeutet, im eigenen Lande bestimmen zu können.
5. Ein Volk von Minderheiten
In der Schweiz gehört man ja immer gleichzeitig verschiedenen Mehrheiten und Minderheiten an. Man ist Deutschschweizer, Romand, Tessiner, Rätoromane, Innerschweizer, Schaffhauser, Städter, Landbewohner, Katholik, Reformierter, Konfessionsloser, Unternehmer, Handwerker, Arbeiter, Staatsangestellter, Vater, Mutter, Steuerzahler, Rentner, Automobilbenutzer, Velofahrer, Konservativer, Sozialist, Liberaler – aber eines sind wir alle gemeinsam: Bürger dieses Landes.
Wie können wir alle diese Interessen, Meinungen, Konfessionen, Sprachen, Altersgruppen unter einen Hut bringen? Dann sage ich: Sicher nicht unter den Hut Gesslers. Was wir brauchen, ist mehr Freiheit für den Einzelnen. Was die Bürger wollen, ist möglichst wenig Gängelung, Bevormundung und moralistische Besserwisserei. Und zwar nicht Bevormundung von aussen aber auch nicht von innen.
Was verbindet denn diese vier Gemeinden, die ich im Rahmen der 1. Augustfeierlichkeiten besuchen durfte?
Der gemeinsame Wille, in einem Land zu leben, das seinen Weg in Freiheit und Selbstbestimmung beschreitet.
Eine Selbstbestimmung, die ihren unmittelbarsten Ausdruck in der direkten Demokratie gefunden hat.
In keinem anderen Staat der Welt hat der einzelne Bürger so viel zu sagen wie hier. Vier mal jährlich sind die Schweizerinnen und Schweizer aufgerufen, auch zu Sachfragen ihre Meinung zu bilden. Das mag mühsam sein, ist aber eine wunderbare Einrichtung, gerade weil sie uns so viel abverlangt. Mit „uns“ meine ich uns alle.
Die Bürger müssen sich orientieren und zu einer Entscheidung kommen.
Die Parteien sind aufgefordert Position zu beziehen und Abstimmungskämpfe durchzustehen.
Die Politiker müssen sich immer wieder neu prüfen und bestätigen lassen.
Die Politiker sollen auch nach den Wahlen hinstehen vor die Wählerinnen und Wähler und ihre Vorlagen den Menschen erklären und so reden, dass man sie versteht. Auch das gehört zu den Aufgaben und Anforderungen einer direkten Demokratie.
6. Vier Gemeinden – vier Geschichten. Einheit in der Vielfalt.
Wir sind zusammengekommen, um über die Schweiz und ihr Wesen und über ihre Werte nachzudenken. Wir tun es freudig an dieser Geburtstagsfeier. Wir tun es freiwillig – weil uns niemand dazu zwingen kann. Viele Länder haben andere Zeiten erlebt. Sie haben ihren Geburtstag sorgenvoll und unfreiwillig begangen.
Wenn ich an die vier Orte (Mont sur Rolle, Uster, Kerns, Oberwald) denke, die ich gestern und heute besuche, dann steht jeder von ihnen in seiner ganzen Einzigartigkeit und speziellen Geschichte da. Und trotzdem gehören wir zusammen. Diesem „trotzdem“ sollten wir an einem Tag wie dem 1. August nachgehen – und doch die Vielfalt nicht schmälern.
6.1. Mont sur Rolle
Ich kann mir vorstellen, dass die Waadtländer ein anders Verhältnis zum Rütlibund pflegen als die Zürcher, Obwaldner oder Walliser. Vielleicht denken die Waadtländer besorgt an die Herrschaft, welche die alten Eidgenossen und namentlich die Berner ausgeübt haben. Vielleicht ist den Waadtländern das Jahr 1798 (Einmarsch der Franzosen) oder 1803 (die Waadt wird ein eigenständiger Kanton) oder 1848 (der neue Bundesstaat) weit wichtiger als 1291.
Doch so weit sind alle diese Gedenkjahre vom Bundesbrief gar nicht entfernt, wie es zuerst scheinen mag:
Unsere Bundesverfassung von 1848 (auch in der jüngsten, revidierten Fassung) beginnt mit den Worten: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ – „Au nom de Dieu Tout-Puissant!“.
Und gleich darauf folgt das Bekenntnis zum Fundament, auf dem die Schweiz steht: Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit und Neutralität.
Welches Ereignis, welche Jahreszahl wir auch immer herausgreifen: Der Geist der Freiheit und Selbstbestimmung ist als verbindende Klammer in allem erkennbar. Ob in der Romandie, ob in der Innerschweiz, ob im „Züribiet“ oder im Oberwallis! Und heisst es nicht im Wappen des Kantons Waadt „liberté et patrie“? Steht dieser Wahlspruch nicht für die ganze Schweiz, für uns alle? Ist dieser Geist nicht Ausdruck des Bundesbriefes von 1291?
6.2. Uster
Uster hat nicht nur den 1. August als Gedenktag an den Bundesbrief von 1291. Nein. Uster möchte vielleicht lieber an den Ustertag vom 22. November 1830 erinnern. Aber wie der Rütlischwur steht auch der Ustertag in einer Reihe aufmüpfiger Ereignisse. Solche innereidgenössische Auseinandersetzungen haben eine lange Tradition. Was forderten die rund 10’000 Menschen, die sich in diesem späten Herbsttag 1830 zusammenfanden? Was wollten sie?
Wieder sind wir bei den Ursprüngen der Eidgenossenschaft angelangt: Sie forderten nicht mehr und nicht weniger als mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Einer der Redner des Uster-Tages begann mit einem Zitat Schillers: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würd’ er in Ketten geboren…“ Und diese Freiheit war auch ganz nüchtern, ganz konkret zu verstehen. Die damals zusammen getragenen Forderungen verlangten vor allem auch das Recht, frei über die eigenen Einkünfte zu verfügen. Man wollte Steuererleichterungen, weniger Zinsen, Ablösung der Lasten des Grundbesitzes. All das spielte selbstverständlich auch in der alten Eidgenossenschaft eine Rolle. Und die gleichen Forderungen wie 1830, wie 1291 treiben die Bürger heute um. Mehr Freiheit, weniger staatliche Bevormundung. Sie sehen: Der Bundesbrief ist hochaktuell. Auch heute. 715 Jahre später im Kanton Zürich.
6.3 Kerns
Der Innerschweizer Kulturhistoriker Linus Birchler schrieb über die Obwaldner (in Abgrenzung gegenüber dem benachbarten Nidwalden): „Die Obwaldner sind kühler und bedächtiger, oft auch geschäftstüchtiger. Ihre Aufgeschlossenheit erklärt sich teilweise aus dem Verkehr über den Brünigpass, der die Einwohner schon früh mit Fremden in Berührung brachte.“
So blieb der Kanton vorerst auch dem neuen Bund der Eidgenossen von 1291 zögernd fern – ganz nach dem Motto: zuerst einmal abwarten und schauen, ob sich dieses Abkommen bewährt und auch lohnt.
Noch heute lässt sich diese schlaue Bedächtigkeit der Obwaldner nachweisen.
Das neue Steuergesetz führte zuerst Schaffhausen ein. Übrigens jener Kanton, woher der SP-Parteipräsident stammt, der dann Obwalden verklagen wollte, als dieses ein noch verbessertes Steuergesetz mit grossem Volksmehr angenommen hatte.
Ich kann Ihnen nur raten: Knicken Sie nicht ein. Lassen Sie sich nicht beirren. Bestimmen Sie über Ihre Geschicke. Das steht Ihnen in unserer föderalistischen Schweiz – Gott sei Dank – noch zu, was Sie übrigens schon der alte Bundesbrief von 1291 lehrt. Darum darf ich Sie besonders am Geburtstag der Eidgenossenschaft ermuntern, ihren eigenen Weg weiter zu gehen.
6.4. Oberwald
Das Wallis hat seine eigene Geschichte. Den Oberwaldnern mag der Bundesbrief von 1291 fremd sein. Tatsächlich? Gerade die Geschichte des Wallis ist ein dauernder Kampf um Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung.
Das Wallis passte darum 1815 hervorragend in die Schweiz. Doch wenn ich die Oberwaldner höre, gehört nicht das Wallis zur Schweiz, sondern die Schweiz zum Wallis. Wie sagen Sie doch zum Rest der Schweiz: „D’Üsserschwiiz“!
Doch im ersten Jahrhundert ihrer Mitgliedschaft zur Eidgenossenschaft gab es im Wallis – wie in vielen anderen Kantonen auch – Armut und Arbeitslosigkeit. Viele – auch aus dem Wallis und aus der Gemeinde Oberwald – sind darum im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert. Was brachten sie mit? Viel Hoffnung, aber auch die Bereitschaft, durch Leistung und Einsatz etwas zu erreichen.
Heute ist es anders geworden. Die Schweiz ist vielmehr zu einem Einwanderungsland geworden. Dieser Tatsache haben wir uns zu stellen. Mit über 20 Prozent Ausländern gehört die Schweiz zu den Staaten mit den höchsten Ausländeranteilen. Und das bei einer Einbürgerungsquote, die an vierter Stelle weltweit liegt. Es ist ein gutes Zeichen für die Schweiz, dass sie der eigenen Bevölkerung und dazu so vielen Ausländern Arbeit bietet.
Auch hierher kommen nun Menschen mit Hoffnung. Wenn sie diese Hoffnung mit dem Willen zur Leistung und Integration kombinieren und wir Ihnen einen Arbeitsplatz bieten können, sind sie herzlich willkommen. Das haben wir immer wieder gezeigt. Wer aber glaubt, die Zuwanderung könnte ohne Regeln und Kontrolle vor sich gehen, ist naiv und gefährdet das Zusammenleben in der Schweiz. Wir sind weltoffen – das heisst aber nicht, dass wir nicht das Wohl und das Interesse der eigenen Bevölkerung zum Massstab unserer Politik nehmen sollten. Wir stehen zu einer langen humanitären Tradition – das heisst aber nicht, dass wir die offensichtlichen und eklatanten Missbräuche im Asylwesen nicht bekämpfen sollten.
7. Zum Schluss
Ob Stadt oder Land, ob Berggemeinde oder Weltdorf, ob deutschsprachig oder französisch sprechend, welche konfessionelle Ausrichtung auch immer: Es muss uns etwas verbinden, was über den alltäglichen Dingen, über wandelbaren Gesetzen, über den Niederungen der politischen Grabenkämpfe, über den profanen Interessen einzelner Gruppierungen steht. Die Schweiz schafft ihre Identität nur über die Geschichte. Umso bedeutsamer ist ihre ständige Bewusstwerdung. Und umso schöner ist ein solcher Tag wie heute, wo wir erkennen, was uns dieses alte Bekenntnis gemeinsam geschenkt hat – und zwar überall, ob in Mont-sur-Rolle, Uster, Kerns oder Oberwald: Unsere freie Schweiz.
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