Wer setzt Recht in unserem Land?
«Christoph Blocher: Die Tendenz, dem Volk schleichend Rechte wegzunehmen, muss gebremst werden.»
14.08.2007, Aargauer Zeitung, Peter Buri, Christoph Bopp
Herr Bundesrat Blocher, kann man ein bisschen schwanger sein?
Nach meiner Erfahrung als Vater nicht.
Die Frage stellen wir deshalb, weil Ihnen etwas in dieser Richtung vorschwebt. Sie stellen den Vorrang des Völkerrechts gegenüber dem nationalen in Frage und plädieren für eine Beachtung nach dem Prinzip: “Internationales Recht ist, was uns recht ist”. Wird die Schweiz damit nicht zu einem unzuverlässigen, unglaubwürdigen Partner?
Nein, das wird sie nicht. Es gibt in anderen Staaten die Praxis, dass internationales Recht erst gilt, wenn es ordnungsgemäss ins nationale Recht überführt worden ist. Die Juristen nennen ein solches System Dualismus. Demgegenüber haben wir heute in der Schweiz ein monistisches System. Das bedeutet, dass völkerrechtliche Normen in der Schweiz direkt anwendbar sind und keine Überführung ins nationale Recht brauchen. Früher bestand das internationale Recht aus einigen unbestrittenen Normen. Mit der Globalisierung haben wir aber einen Katalog von teilweise diffusen Grundsätzen bekommen, deren Interpretation gelinde gesagt strittig ist. Und worauf ich besonders Wert lege: Es ist Mode geworden, Volksanliegen auszuhebeln, indem man sich auf internationales Recht beruft. Dem könnte man entgegen wirken, indem internationales Recht in der Schweiz erst gilt, wenn es ordnungsgemäss ins nationale Recht durch den Gesetzgeber übernommen worden ist.
Sie wollen für die Schweiz quasi ein übergeordnetes Recht à la carte zusammenstellen?
Es gibt das so genannte zwingende Völkerrecht und es gibt internationale Verträge, die rechtmässig abgeschlossen worden sind, die man einhalten muss. Werden diese Verträge vom Gesetzgeber ausdrücklich übernommen, so werden dadurch Unklarheiten ausgeräumt und Interpretationsspielräume eingeschränkt. Mit übergeordnetem Recht à la carte hat das nichts zu tun.
Und wenn bei uns die Kantone Bundesrecht à la carte anwenden würden?
Da muss man unterscheiden. Die Schweiz ist ein Bundesstaat, hier bricht Bundesrecht kantonales Recht. In Bezug auf das internationale Recht sind die Verhältnisse viel weniger klar. Dadurch droht Expertokratie: Experten sagen uns, wie wir dieses internationale Recht anwenden müssen, und die Richter legen es aus und schaffen damit neues Recht.
Sie kritisieren ja auch das Bundesgericht. Widerspricht das nicht unserem Grundsatz der Gewaltentrennung?
Nein, sicher nicht. Bei meiner 1.-August-Rede hatte ich auch nicht die Justiz speziell im Visier, sondern alle Gewalten, die Regierung, die Verwaltung, das Parlament und natürlich auch die Gerichte. Entscheide, auch wenn sie einem nicht passen, muss man akzeptieren; aber das heisst nicht, dass man sie nicht kritisieren darf. Montesquieu hat ja den Grundsatz der Gewaltentrennung eingeführt, damit die Gewalten sich gegenseitig kontrollieren und hemmen. Besonders störend ist, wenn bei uns etwas nicht gehen soll, was in anderen Staaten gang und gäbe ist.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Bei uns hat der Ständerat zunächst beschlossen, dass abgewiesene Asylbewerber, die nicht kooperativ sind, die ihre Identität nicht preisgeben und die sich illegal hier aufhalten, keine Nothilfe erhalten sollen. Das Bundesgericht hat das gestützt auf die Grundrechte abgelehnt. So konnte der verfassungsmässige Gesetzgeber diese Norm nicht verwirklichen. Aber andere Länder handhaben dies anders, obwohl diese die gleichen Konventionen und Abkommen unterschrieben haben.
Auf welche Grundsätze hat sich das Bundesgericht berufen?
Das Gericht meinte, so etwas würde der Bundesverfassung widersprechen. Also hätte man die Verfassung ändern müssen. Aber da haben die Völkerrechtler argumentiert, dass man damit das Völkerrecht umgehen wolle. Dadurch wird eine Verfassungsänderung zum vornherein verunmöglicht.
Gibt es noch andere Beispiele als aus dem Asylbereich?
Volk und Stände haben die Verwahrungsinitiative angenommen. Nun hat die Rechtskommission des Nationalrats beschlossen, dass sie nicht umgesetzt werden könne, weil sie der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspreche. Das sind Missbräuche. Man beruft sich auf Normen, die nur schwer fassbar sind. Verschiedene Völkerrechtler äussern sich oft kontrovers.
Halten Sie das Völkerrecht für uneinheitlich?
Ich habe erst im Lauf meiner Amtszeit als Vorsteher des EJPD gemerkt, dass das meiste Völkerrecht ausserordentlich schwammig ist. Da gibt es so viele Meinungen, dass man am Schluss auf unklarer Grundlage entscheiden muss. Wir leben in einer Demokratie. Ein möglicher Volksentscheid darf nicht leichtfertig als völkerrechtswidrig erklärt werden. Das ist undemokratisch, die Demokratie, wo der Bürger entscheidet, wird damit ausgehebelt.
Aber gerade Sie und Ihre Partei werden bei heiklen Abstimmungen über internationale Abkommen und Gesetzesinitiativen nicht müde zu betonen, dass hier internationales Recht ohne Volksentscheid nachvollzogen werden müsse. Das Volk weiss das, aber es hat sich trotzdem eine Mehrheit gefunden.
Ich weiss nicht recht, wie das mit der Mehrheit steht. Ich habe ja auch erst in den drei Jahren an der Spitze des EJPD gemerkt, wie das geht. Die Fälle haben sich gehäuft, wo man einfach zur Kenntnis nehmen musste, dass etwas nicht geht, weil internationales Recht dagegen spricht. Aber ich habe gemerkt, dass das vielen sehr willkommen ist. Es ist ein klassischer Gegensatz zwischen Obrigkeit und Volkswille. Es geht darum, ob der Volksentscheid bindend ist oder ob die Verwaltung sagt, was aus Gründen des Völkerrechts geht und was nicht.
Ist es nicht Legitimation genug, wenn diese Punkte im Volk vor Abstimmungen eingehend diskutiert worden sind?
Wenn das Volk über die Aufnahme von internationalem Recht ins schweizerische abstimmen kann, dann habe ich nichts dagegen. Im Gegenteil. Aber immer mehr Dinge werden dem Volk gar nicht vorgelegt und dem Volksentscheid entzogen, weil gesagt wird, es sei – wirklich oder angeblich – völkerrechtswidrig. Und dann gibt es Auslegungen von Konventionen, die wir unterschrieben haben, mit denen niemand gerechnet hat. Gegen die Menschrechte kann man ja nicht sein. Aber das Vorgehen ist nicht demokratisch.
Sollen wir dann die Menschenrechtskonvention künden? Oder Artikel per Artikel darüber abstimmen?
Es gab ja einmal einen Vorstoss im Ständerat, die Konvention zu künden und mit Vorbehalt zu unterzeichnen. Eben weil man nicht weiss, wohin sich das alles entwickelt. Aber bei diesen Missständen ist es immer das Gleiche: Man muss sie aussprechen und die Leute dafür sensibilisieren. Was mich stört, ist die Leichtfertigkeit, mit der man sich auf das Völkerrecht beruft. Da stimmen mir sogar meine Kritiker zu.
In den meisten Punkten stimmen Ihnen die Kritiker aber nicht zu?
Das Echo ist eben das Interessante. Man will gar nicht hören, wo das Problem liegt, sondern sagt sofort: “Blocher ist gegen das Völkerrecht!” Und unterstellt mir alles Mögliche, was ich gar nicht gesagt habe. Ich habe nie gesagt, das Völkerrecht sei schlecht. Es geht darum, wer im Land bestimmt. Die Obrigkeit oder das Volk.
Können wir da überhaupt etwas machen? Das Völkerrecht hat sich gewandelt. Es regelt nicht nur den Verkehr von Staaten miteinander, sondern bestimmt immer mehr auch, welche Rechte Individuen im zwischenstaatlichen Raum haben? Das muss doch international festgelegt und ausgehandelt werden?
Wir haben doch jetzt ein neues Asylgesetz erlassen. Das zeigt, dass wir national einen Spielraum haben. Ich bin ja nicht gegen das Völkerrecht. Aber gegen den Automatismus, mit dem “übergeordnetes Recht”, wie man es vorzugsweise nennt, ins Spiel gebracht wird, und gegen die Leichtfertigkeit, mit der internationales Recht unbesehen übernommen wird, um Landesrecht auszuschliessen.
Und an die Wahlen haben Sie nicht gedacht?
Wir befinden uns stets vor den Wahlen. Wir stehen am Anfang eines grossen Themas: Die Bedeutung des eigenen Rechts vor fremdem Recht. Vielleicht ist dies ein Thema für die Wahlen 2011. Schön wärs. Für dieses Jahr wird die Zeit nicht reichen, um die Menschen zu sensibilisieren.
Sensibilisieren ist das Eine, aber haben Sie auch eine Lösung?
Zuerst muss man das Problem anerkennen, das ist bereits 50 Prozent der Lösung. Wenn man zu früh mit einer Lösung kommt, wird diese Lösung bekämpft. Weil man das Problem nicht wahrhaben will. Die Sensibilität für das Problem schaffen bringt schon viel. Immerhin habe ich am Anfang unseres Gesprächs einen möglichen Lösungsansatz skizziert – nämlich die Umsetzung völkerrechtlicher Normen im nationalen Recht durch den Gesetzggeber.
Um die Tendenz zu brechen, müsste man aber bereits jetzt etwas tun. Eine “Lösung”, mit der Sie einverstanden sein könnten, könnte darin bestehen, dass man internationales Recht “portionenweise” und falls es kompatibel ist mit dem nationalen, übernehmen würde? Und: Wer anders als der Justizminister könnte eine Lösung aufzeigen?
Wenn es eine rechtliche Lösung braucht, dann schon. Vielleicht reicht es, vor allem die Behörden zu sensibilisieren. Das mahnt zur Vorsicht beim Abschluss von internationalen Verträgen und beim leichtfertigen Umgang mit dem Völkerrecht.
Ist noch keine Arbeitgruppe an der Arbeit?
Nein. Aber natürlich diskutieren wir immer über solche Probleme.
Wir sehen – als Medienleute – ein Muster: Bundesrat Christoph Blocher, mit dem Feuerzeug in der einen Hand, der Feuer macht, damit es Rauch gibt; und einen Bundesrat Christoph Blocher mit dem Feuerlöscher, der wieder abschwächt und differenziert. Auch ein Blocher-Prinzip?
(Lacht) Das steht aber nicht im Buch „Das Blocher-Prinzip“. Aber Sie müssen doch sehen: Einen Missstand aufzeigen heisst, den Finger auf den wunden Punkt zu legen. Bedroht ist etwas Urschweizerisches: Die Selbstbestimmung unseres Landes
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