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02.01.2011
11.12.2010
Blocher plant Berner Geschichtsstunde
Interview in der «Berner Zeitung» vom 11. Dezember 2010 mit Bernhard Kislig Hier geht es um Kultur, um grössere Zusammenhänge, und nicht etwa ums schnelllebige politische Tagesgeschäft, wie SVP-Vordenker Christoph Blocher während eines Gesprächs im Berner „Bellevue“ betont. Wie schon Anfang 2010 wird er auch am 2. Januar 2011 im Kanton Bern wieder über herausragende Berner Persönlichkeiten referieren. Anfang dieses Jahres kamen 1000 Besucher. Nun führt Blocher die Erfolgsstory fort. Für die kommenden Jahre liegen bereits weitere Anfragen aus dem Berner Oberland, den Kantonen Schaffhausen, Aargau und Zürich vor. „Es scheint, als würde die Rede am Bärchtelistag zur Tradition“, meint Blocher. Anfang 2011 würdigt er in der Turnhalle Wynigen den Dichter Jeremias Gotthelf, den früheren Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen und wie schon 2010 den Maler Albert Anker (siehe Kasten). Wer Blocher kennt, weiss, dass der Bezug zur aktuellen Politik nicht fehlen wird. Doch mehr dazu später. Anker-Kenner Blocher wird Gegensätze und Gemeinsamkeiten zwischen dem für Bauern-Porträts bekannten Maler und Gotthelf beschreiben. Dazu eignen sich die Illustrationen vorzüglich, die Anker für eine Prachtsausgabe Gotthelfs lieferte. Der aus Ins stammende Maler tat sich äusserst schwer damit. Anfänglich lehnte er den Auftrag mehrmals ab. Schliesslich liess er sich aber vom damaligen Bundesrat Carl Schenk dazu überreden, den Band mit Zeichnungen zu illustrieren. Das ausschlaggebende Argument von Bundesrat Schenk: „Der berühmteste Berner Maler kann doch nicht verweigern, einen Erzählband des berühmtesten Berner Dichters mitzugestalten“, sagt Blocher. Doch Anker war es nie wohl dabei. Er bezeichnete Gotthelf „als den Goliath von Lützelflüh“. Eine erste Anzahlung vom damals hohen Betrag von 3000 Franken soll er mit folgender Bemerkung postwendend retourniert haben: „Man soll die Haut nicht verkaufen, bevor der Bär erlegt ist.“ Und nachdem der Bär erlegt, respektive das Buch fertig war, habe Anker nie wieder etwas von Gotthelf gelesen, erzählt Blocher. Den Grund für die innere Abneigung sieht Blocher im unterschiedlichen Temperament und Stilmittel. Bei Gotthelf seien die Protagonisten etwas "überhöht und zugespitzt" dargestellt. Die Zeitumstände werden polemisch geschildert. Auch wenn Gotthelf "über dem Ganzen ebenfalls die Gnade Gottes walten lässt" - sagt Blocher. Der ausserordentlich korrekte Albert Anker dagegen, der seinem Vater hoch und heilig versprochen hatte, stets ein rechtschaffener Mensch zu bleiben, konnte sich mit solchen "barocken Darstellungen" nicht anfreunden. Gotthelf und Anker waren verschieden im Ausdruck. Deshalb auch das harte Verdikt des Anker-Kenners Blocher: „Die Illustrationen im Gotthelfband sind nicht vom Besten. Man merkt: Anker hat sich duchgequält". Trotz all dem sieht Blocher Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Berner Künstlern. Und zwar z.Bsp. in der Darstellung der biblischen Verheissung: „Im Schweisse deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“ Mit anderen Worten: Niemand verhungert, auch wenn er für's Wohlergehen arbeiten muss. Bei Anker widerspiegelt sich das gemäss Blocher zum Beispiel im Gemälde, das ein Mädchen zeigt, welches in der Kälte einen grossen Brotlaib nach Hause trägt (siehe Bild). In Ankers Leitsatz „Siehe, die Erde ist nicht verdammt“, findet Blocher eine weitere Bestätigung. Die „moderne Trostlosigkeit“ und die „Verlorenheit, welche die Lebensfreude lähmt“ sind fehl am Platz. „Denn irgendwo geht immer wieder ein Türchen auf.“ Die Welt ist eben nicht verloren. Blocher räumt zwar ein, dass seine Abwahl als Bundesrat vor drei Jahren schmerzhaft gewesen sei. Doch rückblickend sei das eine Episode im politischen Schaffen Blochers und habe der SVP bei den kantonalen Wahlen sogar geholfen, sagt Blocher, während er seine Hand ballt. Erst recht bestätigt – hier kommt der Parteistratege in Fahrt – findet er diesen Leitsatz bei der Abspaltung der BDP: Nun könne die SVP geschlossener auftreten. „Das hat für Wahlen wie auch Abstimmungen Vorteile – mit einer lavierenden Berner SVP hätten wir zum Beispiel die Ausschaffungsinitiative nicht gewinnen können.“ Der Übergang von Kultur zur Politik ist bei Blocher fliessend. Als dritten „grossen Berner im Emmental“ würdigt er den früheren Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen. Bei dieser Figur geht es Blocher um die Idee, dass auch ein kleiner Staat wie die Schweiz einen eigenen Weg geht und internationalem Druck widersteht. Wahlen habe dies während des zweiten Weltkriegs getan, indem er den Selbstversorgungsgrad der Schweiz erhöhte. „Der Widerstandswille ist ein schöner Gedanke“, fügt Blocher an. Dieser Wille fehle im heutigen Bundesrat. Aktuelles Beispiel: Die Landesregierung wolle in vorauseilendem Gehorsam eine milliardenschwere Aufstockung des Kredits für den Internationalen Währungsfonds zur Finanzierung bankrotter EU-Staaten durchpauken. Weitere aktuelle Bezüge zur aktuellen Politik wird Blocher am 2. Januar 2011 nachreichen. Dass Blocher zum Jahresauftakt einen ehemaligen Berner Bundesrat würdigt, ist nur eine von mehreren Parallelen zwischen der Rede von 2010 und jener von 2011. So fiel die Rede vor elf Monaten zwischen den SVP-Sieg bei der Antiminarett-Abstimmung und die Berner Wahlen, bei denen die SVP ihre Sitzverluste nach der BDP-Abspaltung wieder wettmachen musste. Anfang 2011 hält Blocher seine Rede zwischen dem Abstimmungssieg bei der Ausschaffungsinitiative und der Nationalratswahl 2011, bei der die SVP im Kanton Bern erneut um Sitze kämpfen muss, welche an die BDP verloren gegangen sind. 2010 ist die Rechnung für die SVP bestens aufgegangen: Trotz Abspaltung konnte sie ihren Wähleranteil im Kanton Bern nahezu halten. Im Seeland schnitt sie stark ab. Also ausgerechnet in der Hochburg des abtrünnigen alt-BDP-Bundesrats Samuel Schmid. Das ist die gleiche Region, in der Blocher Anfang Jahr über Seeländer Grössen wie den früheren Bundesrat Rudolf Minger referierte, der die SVP-Vorläuferpartei BGB mitgegründet hatte. Blochers Auftritt dürfte der SVP wahltaktisch nicht geschadet haben. „Einzelne Leute meinen gar, dieser Wahlerfolg sei zu einem grossen Teil auf die Neujahrsveranstaltung 2010 zurückzuführen“, sagt Blocher und lacht schelmisch.
25.11.2010
«Ich renoviere seit 30 Jahren»
Christoph Blocher im Schloss Rhäzüns Beitrag im «Haus Club Magazin» vom 25. November 2010 mit Filippo Leutenegger Der Alt-Bundesrat öffnet exklusiv für Haus Club Magazin-Leser die Tore zur mittelalterlichen Burg in Rhätien. Es sei ein Bild des Jammers gewesen, meint Christoph Blocher: «Als die Ems-Chemie das Schloss übernahm, war alles in einem ziemlich schlechten Zustand». Diverse Umnutzungen waren schuld: Vor dem 2. Weltkrieg wurde das Schloss, damals in Privatbesitz, jungen Auslandschweizern als Ferienlager zur Verfügung gestellt – und die respräsentativen Räume im Laufe der Geschichte ohne Rücksicht auf antike Kassettendecken und Wandmalereien unterteilt und zerstückelt. «Vor der Kosmetik waren aber zunächst handfestere Arbeiten nötig. Das Dach musste als Erstes gemacht werden.» Jetzt sind neu ungefähr hundertjährige Ziegel drauf, «weil das Schloss ja nicht geschleckt wirken darf. Wenn das so neu renoviert aussieht, gefällts mir nicht.» Christoph Blocher weiss genau, was er will und was es am Schloss Rhäzüns zu bewahren gilt. Das Fassadenfresko «Die Bärenhatz» aus dem 14. Jahrhundert an der Wehrturmaussenwand beispielsweise: «mühsam und risikoreich war das!» Erst musste natürlich ein Gerüst her – keine einfache Sache an solch einem stotzigen Hügel. Aufgrund eines alten Drucks war die Originalmalerei der «Bärenhatz» bekannt. «Drei bis vier Restauratoren sassen dann monatelang bei Wind und Wetter auf dem Gerüst und applizierten mit Tupfpinseln das neue Fresko.» Christoph Blocher lässt gleich noch eine Anekdote folgen: «Die Farbe hatten sie in winzigen Kaffeerahmbehälterli, stellen Sie sich das einmal vor! Um die Farbe möglichst originalgetreu aufzutragen!» Ob das nicht ein Vermögen gekostet habe? «Ach wissen Sie, die Einzelheiten darf man bei einem solchen Gebäude nicht zählen.» Trotzdem lässt sich Christoph Blocher dazu bewegen, eine ungefähre Zahl zu den bisherigen Investitionen zu nennen: «Wenn man alles zusammenrechnet, komme ich Handgelenk mal Pi auf ungefähr eine halbe Million im Jahr für Renovationen und Unterhalt.» Es sei ein Fass ohne Boden, man müsse Kompromisse machen: «Sehen Sie, das Bärenhatz-Fresko, das haben wir vor dreissig Jahren machen lassen. Jetzt ist es schon wieder verblasst, eigentlich steht jetzt schon die Restauration von der Restauration an – eine endlose Geschichte.» Die Christoph Blocher aber nach wie vor Freude macht. «Wissen Sie, die Aufgabe, wenn man die Mittel hat, ist es doch, solche Räumlichkeiten für die Nachwelt zu bewahren.» Weshalb das Schloss dann nicht öffentlich zugänglich sei? Der Alt-Bundesrat reagiert zum einzigen Mal an diesem Nachmittag ungehalten: «Sie würden auch nicht Krethi und Plethi durch Ihre Stube trampen lassen! Ausserdem wäre dann die Exklusivität des "Emser Gästehauses" weg, so bleibt das Schloss geheimnisvoll und speziell.» Ganz verschliesst Christoph Blocher die Räumlichkeiten aber nicht. Jedes Jahr dürfen die Rhäzünser Viertklässler einmal durch die Repräsentationsräume trapsen. Anstrengende Denkmalpflege Für die jährliche halbe Million für Renovationen und Unterhalt werden keine Subventionen bezogen. Auf Beiträge von der Denkmalpflege oder vom Kanton verzichten er und die Ems-Chemie lieber – und findet markige Worte: «Die reden sonst nur drein!» Am schlimmsten sei das im Raum mit dem Tristan-und-Isolde-Fresko gewesen: «Da meinten sie doch tatsächlich, die Mitte des Freskos sei weiss zu lassen!» Grund für das Loch im Fresko wäre gewesen, dass einst ein Durchgang durch die Wand gebrochen worden war und die Malerei deshalb nicht mehr originalgetreu restauriert werden könne. «Dabei hatten wir Referenzmaterial! Und auch sonst hätten sie mir diesen schönen Raum zerstört!» Ein Stützbalken an der Decke sei nämlich morsch gewesen und habe ersetzt werden müssen. «Jetzt stellen Sie sich vor: Da meinten die doch wirklich, statt einen neuen, ähnlichen Holzbalken einzusetzen, müsse man zeigen, dass das nicht mehr der Originalzustand sei – und stattdessen einen rot gestrichenen Metallträger einbauen! Da sträuben sich einem doch alle Haare!» Christoph Blocher hat noch weitere Ankedoten zum kantonalen Amtsstellen parat – und zeigt dabei auch gleich Selbstironie: Das Eingangsfresko über dem Tor zeigt sämtliche Wappen der vergangenen Schlossherren. Mitten drin ist der Habsburger-Adler abgebildet – «die waren ja auch am längsten Schlossbesitzer. Als es um die Restauration ging, meinte eine Amtsstelle doch tatsächlich, da dürfe der Habsburger-Adler nicht mehr drauf! Da müsse stattdessen der Bündner Steinbock hin! Aber solche Geschichtsklitterung, da weigere ich mich! Da mache ich nicht mit! Am Schluss hat das Amt – nach Ordner füllender Korrespondez – gemeint: ‹Herr Blocher, machen Sie was Sie wollen, wenn Sie nur das Blocher-Wappen nicht draufmalen!› Jetzt ist der Adler wieder drauf!» In den Sessel im grossen Napoleon-Zimmer setzt er sich aber doch gern – auch wenn es historisch nicht erwiesen ist, ob der französische Kaiser jemals hier war. «Aber für die chinesischen Kunden der Ems, für die ist das Napoleon-Zimmer das Grösste, auch wegen der Aussicht, sehen Sie: Da fliesst der Rhein direkt auf uns zu!» Und da in der chinesischen Tradition die Häuser als die glücklichsten gälten, auf welche Wasser zufliesst, geraten die Chinesen regelmässig komplett aus dem Häuschen: «Die staunen dann immer ganz begeistert, ich müsse der glücklichste Mann auf der Welt sein!» Den ganzen Hügel gesichert Die Restaurierung von Fresken ist aber eher das Dessert. Als die Ems-Chemie die Burg übernahm, galt es zunächst, die Räumlichkeiten sicher und überhaupt wieder bewohnbar zu machen. Neben einem neuen Dach war deshalb zunächst auch ein noch grundlegenderer Eingriff vonnöten: «Das Schloss steht auf dem Fels eines Bergsturzes», erklärt Blocher. Das ganze war nicht mehr stabil: «Man erzählt, ein Teil des Schlosses sei im Mittelalter einmal mitsamt dem Hang abgerutscht.» Um die Liegenschaft zu sichern, musste deshalb zunächst der ganze Hügel mit Ankern «geklammert» werden, was Querbohrungen durch den ganzen Hügel erforderte. Erst dann, sowie nach der Restaurierung des Dachs, ging es daran, die Räumlichkeiten wieder wohnbar zu machen. Diverse Böden mussten ausgetauscht, sanitäre Anlagen – «da hielten wirs einfach und simpel, es ging vorallem darum, die Raumstrukturen nicht zu zerstören» – und ein Heizsystem installiert werden. «Erdwärme kam nicht in Frage, wir stehen ja auf einem Geröllfels.» Das Schloss wird deshalb mit einigen antiken Kachelöfen, die noch in Betrieb sind, sowie, wo nötig, mit Elektroöfen geheizt. «Im Winter ist es trotzdem kalt», meint Silvia Blocher. Sie sitzt deshalb am liebsten im gemütlichen grünen Salon, den sich die Blochers in einer bequem ausgebauten Dreizimmerwohnung im Schloss eingerichtet haben. Christoph Blocher hält sich derweilen gern im Saal mit dem blauen Kachelofen auf. «Dieser Raum hat schon hitzige politische Diskussionen gehört», meint Blocher: «Unter anderem haben der damalige Präsident der Nationalbank Paul Stopper und der Ems-Chemie-Gründer Werner Oswald in den siebziger Jahren auf dem Ofenbänkli über die Währungspolitik verhandelt.» Blocher schreibt hier auch seit Jahren seine Albisgüetli-Rede. «Die 700 Jahre, die der Raum schon erlebt hat, die übertragen sich beim Schreiben!»
13.11.2010
Abgeschottet oder Insel der Glückseligkeit?
Die Schweiz in Europa Meine Replik auf den Beitrag von Adolf Muschg für die "BaZ" vom 13.11.10 Beitrag von Adolf Muschg, BaZ 6.11.10 In einem Streitgespräch entfuhr Adolf Muschg kürzlich der Ausspruch, die EU sei etwas für „intelligente Leute“. Die Missfallenskundgebung im Publikum galt wohl dem versteckten Vorwurf, dass sich die Dummen für eine unabhängige Schweiz entschieden hätten. In den letzten Monaten sprach ich nicht nur mit Dichtern und Professoren, sondern gerade auch in der Europäischen Union mit Unternehmern, Gewerbetreibenden, Taxifahrern, Rentnern. Sie sind wütend über andere EU-Staaten, ihre Zukunftssorgen sind gross, das Ansehen ihrer Politiker ist klein. Sie sehen die Schwäche des Euro, die unglaubliche Verschuldung der meisten EU-Staaten und die hilflosen Rettungsaktionen mit Milliarden, die niemand besitzt. Und sie beneiden die Schweiz, weil sie nicht dabei sei. Der angeblich abgeschottete Sonderfall wird plötzlich zum Vorbild und zur "Insel der Glückseligkeit" – aber leider auch zum Objekt des Neides. Fehlkonstruktion Was sich gegenwärtig in der Europäischen Union zeigt, ist mehr als eine Krise. Die EU offenbart nun mit aller Deutlichkeit ihre intellektuelle Fehlkonstruktion. Sie harmonisiert, behandelt gleich, was ungleich ist, verteilt um, merzt den Wettbewerb aus – kurz: Sie verletzt ständig die liberalen Grundsätze. Der schlimmste Sündenfall war die Schaffung des Euro, einer gemeinsamen Währung für Länder mit völlig unterschiedlichen Finanz-, Steuer- und Wirtschaftsordnungen. Lange konnte man die Mangelhaftigkeit dieses Euro-Konstruktes überspielen und verdecken. Doch jetzt ist der Traum der europäischen Eliten in Politik, Verwaltung, Medien, Kultur und Gesellschaft gescheitert. Das Experiment, verschiedenste volkswirtschaftliche Mentalitäten und Kulturen unter ein einheitliches, gleichmacherisches Recht und unter eine gleiche Währung zu zwingen, konnte nicht erfolgreich sein. Dramatische Folgen Die Folgen der gewaltigen Umverteilung sind dramatisch. Der Tüchtige finanziert jene, die über ihre Verhältnisse leben. Die Empfänger verliessen und verlassen sich auf die Geber, sie tricksten und fälschten Statistiken und Bilanzen, arbeiteten immer weniger, gingen immer früher in Rente und schufen statt Arbeitsstellen in der Wirtschaft massenhaft Staatsstellen. Kommt es zum Kollaps, werden Milliarden von Euros bereitgestellt, um den Bankrott von EU-Mitgliedsländern vorläufig abzuwenden – was andere zu noch splendiderem Verhalten in der Zukunft animiert. Einschreiten kann niemand. Seit Jahren ist der Euro für die einen Länder zu stark und für die andern zu schwach. Weil eben alle verschieden sind, aber trotzdem die gleiche Währung haben. Das musste bald zu gewaltigen Fehlentwicklungen führen. Kein Staat konnte durch die eigene Notenbank und eine eigene Währung eingreifen; man hat ihnen ja beides genommen. Ein Ausstieg aus der Währung ist in der EU nicht vorgesehen. Es zeigt sich die alte Weisheit: Politische Währungen ohne wirtschaftlich solides Fundament waren in der Geschichte noch nie über längere Zeit erfolgreich. Und die Schweiz? Noch steht die Schweiz wesentlich besser da. Doch unsere Politiker brauchen sich darauf nicht allzu viel einzubilden. Dass die kleine Schweiz nicht im Schlamassel der EU versinkt, ist nicht der weit vorausschauenden Weisheit von Politikern, Verwaltung, Wirtschaftsfunktionären, Medien oder „Intellektuellen“ zu verdanken. Denn diese wollten und wollen mehrheitlich in die EU und haben auch ein Beitrittsgesuch in Brüssel deponiert. Grosse, zentralistische, gleichmacherische Systeme üben auf die Eliten ihre Faszination aus. Nein, die bessere Stellung der Schweiz verdanken wir allein der besonderen Staatsform der Schweiz, einer freiheitlichen Verfassung, die auf der Basis der Souveränität und der Neutralität eines direktdemokratischen Kleinstaats mit betont föderalistischer Struktur beruht. Sie gibt den Bürgern und den 26 Kantonen die letzte Entscheidungsmacht. Europa begreifen Es waren denn auch Volk und Stände, die in der wichtigsten Volksabstimmung des letzten Jahrhunderts – am 6. Dezember 1992 – mit ihrem Nein zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) den Politikern den Eintritt in den Vorhof zur EU versperrten. Wir verdanken die bessere Situation also dem liberalen, bürgerfreundlichen, föderalistischen Sonderfall Schweiz. Und heute wollen alle in die Schweiz: die Reichen, die Armen, die Flüchtlinge, die Erwerbstätigen, die Selbständigerwerbenden, die legalen und illegalen Einwanderer. Unser Kleinstaat steht immer noch da. Denn unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben vielleicht mehr von Europa begriffen als Generationen von Brüsseler Bürokraten. Sie haben sich instinktiv an einen grossen Schweizer Denker gehalten, dem möglicherweise nicht einmal Professor Adolf Muschg die Intelligenz absprechen könnte. Der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt schrieb schon vor über hundert Jahren: „Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangseinheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den vielartigen Reichtum seines Geistes, bedroht.“
03.11.2010