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History

03.12.2012

«Ich stand ja eher am Rande der Partei und musste immer drohen»

Interview Migros-Magazin Online vom 3.12.2012 mit Ralf Kaminski zum Thema 20 Jahre EWR/EU-Nein Christoph Blocher, Sie waren vor 20 Jahren der grosse Sieger der EWR-Abstimmung. In einem anderen Interview haben Sie aber eingestanden, dass Sie im Abstimmungskampf manchmal auch Zweifel hatten, ob Ihr Kurs richtig war. Vor allem nachts. Was war es, dass Sie zweifeln liess? Versetzen Sie sich zurück in die Zeit damals. Der Wirtschaft ging es schlecht, Anfang 1992 zeigten Umfragen, dass 80 Prozent der Bevölkerung für den EWR-Vertrag war, ebenso wie alles, was Rang und Namen hatte in Politik, Wirtschaft und Medien. Auch meine Partei war eher dafür. Die Schweiz gehe unter, wenn man nicht zustimme, hiess es überall. Ich stand anfänglich gemeinsam mit Otto Fischer ganz alleine dagegen. Da lag ich schon manchmal nachts im Bett und dachte: Das kann doch gar nicht sein, dass wir allein Recht haben und alle anderen falsch liegen. Aber wenn die Sonne aufging, wusste ich dann schon wieder, wer Recht hat. Wieso hat die Sonne geholfen? Nachtstunden sind die schlimmsten Stunden für intuitive Menschen wie ich einer bin. Da werden alle Entscheide immer und immer wieder hinterfragt. Und nachts, wenn alles schwarz und man allein ist, dann kommen die Zweifel. Das ist auch bei anderen Fragen so, aber bei dieser besonders, mit Angsträumen und allem drum und dran. Der Tag heilt aber viel. Nun, 20 Jahre später liegt der Beweis auf dem Tisch: Wir sahen klar. Es war richtig. Weshalb waren Sie schon damals überzeugt, dass Sie Recht hatten? Ich war mir einfach sicher, dass das Konstrukt der Europäischen Gemeinschaft –  wie die EU damals noch hiess –, nicht funktionieren kann. Man kann nicht so viele Länder über den gleichen Leisten schlagen, das ist eine intellektuelle Fehlkonstruktion. Ausserdem ist die Unabhängigkeit eine der Staatssäulen der Schweiz. Seit 1848 ist fest verankert: Wir bestimmen selbst, wo es lang geht. Mit dem EWR wäre das nicht mehr gegangen. Auch das hatte also viel mit Gefühl und Intuition zu tun. Aber auch mit Erfahrung. Ich kannte doch schon damals vom Geschäftsleben her die Italiener, ich konnte einfach nicht glauben, dass sie all die Regeln einhalten, welche die EG ihnen auferlegt. Genauso wie ich wusste, dass viele in Griechenland keine Steuern zahlen. Das sollte sich plötzlich ändern? Und dass die Deutschen viel zahlen müssen in den „Nachkriegsjahren“, das muss ja auch einmal aufhören. Europa ist der Kontinent der diversifizierten Staaten. Die Verschiedenheit macht es aus. Es ist ein Fehler zu glauben, das alles vereinheitlichen zu müssen. Wieso ist Ihnen eine Mehrheit der Stimmbürger am Ende gefolgt? Wir haben an unseren Vorträgen und Veranstaltungen klar gemacht, was ein EWR-Beitritt tatsächlich bedeuten würde, nämlich einen enormen Verlust an Einfluss und Mitsprache des Volkes - und schlussendlich den EU-Beitritt. Die Versammlungen wurden dann immer grösser, oft kamen so viele, dass gar nicht mehr alle Platz hatten. Ich kann mich erinnern, im Toggenburg hat mir der Abwart den Zugang zu einer Turnhalle verweigert, weil dort schon doppelt so viele Menschen drin waren als erlaubt. Ich sagte: „Aber Sie, ich muss doch da rein und reden.“ Wir einigten uns dann drauf, dass wir Lautsprecher auf die Fenstersimse stellten, damit die draussen auch hören konnten, was drinnen gesagt wurde. Rudolf Strahm sagte uns, es sei Ihnen damals gelungen, ein im Volk schon lang aufgestautes Unbehagen zu Ausländerfragen und Globalisierung anzuzapfen und zu bündeln. Ein Unbehagen, das alle anderen nicht wahrgenommen oder ignoriert haben. Wie sehen Sie das? Das ist etwas zu einfach. Die Classe politique hat die Schweiz schlecht gemacht, an der Weltausstellung hiess es La Suisse n’existe pas“, der Sonderfall Schweiz wurde zum Sonderling gestempelt. Nach dem Fall der Mauer wurde gepredigt: Grenzen gibt es nicht mehr, Krieg auch nicht. Alle sind gleich. Und die kleine Schweiz kann eigenständig gar nicht überleben. Das alles löste Unbehagen aus. Aber auch die Idee, den Schweizern mittels übergeordnetem Recht die Selbstbestimmung wegzunehmen. Wenn man das als globalisiertes Recht interpretiert, hat Strahm Recht. Weltoffenheit ist schon gut, aber wir dürfen nie die Entscheidungsfreiheit aus der Hand geben. Weshalb haben Sie die Stimmung im Volk so viel besser gespürt als die anderen? Dass es eine solche Stimmung gab, war auch mir am Anfang nicht klar. Otto Fischer und ich haben auch nicht geglaubt, dass wir gewinnen können. Aber wir haben getan, was wir für richtig hielten. Als internationaler Unternehmer hatte ich einen Riesenvorteil: Ich war beruflich unabhängig, und niemand konnte mir vorwerfen, ich sei für eine Abschottung der Schweiz, weil unsere Firma ihr Produkte zu 90 Prozent im Export absetzte, zwei Drittel in der EU. Als weltläufiger, vielgereister Mensch bin ich sehr überzeugt vom Schweizer Modell der direkten Demokratie – für die Schweiz. Ich konnte nicht wissen, ob die Leute das auch so sehen, aber ich war zuversichtlich, dass sie es so sehen würden, wenn ich es ihnen richtig erkläre. Ihr Gespür für die Sorgen der so genannten „kleinen Leute“ war ja letztlich auch Teil des Erfolgsrezepts für den Aufstieg der SVP, der mit dem EWR-Nein seinen Anfang genommen hat. Im Voraus weiss man ja nie, ob das eigene Gespür richtig ist. Es war auch nie mein Ziel, mit dem EWR-Nein die SVP zu stärken. Ich stand ja eher am Rand der Partei und musste immer drohen: Wenn ihr das nicht macht, dann gehe ich und gründe eine eigene Partei. Die Stimmung war ziemlich feindlich. Aber es ist tatsächlich kein Zufall, dass derzeit in vielen Kantonen die SVP-Sektionen ihr 20-Jahr-Jubiläum feiern, St. Gallen oder Zug zum Beispiel. Bis 1992 war die SVP nur in der Hälfte aller Kantone vertreten, vor allem in den protestantischen. Während unseres Abstimmungskampfs gab es aber viele unzufriedene Bürgerliche, die sich von ihren Parteien nicht mehr vertreten fühlten, weil die alle in die EU wollten. Darum kamen sie zur SVP oder gründeten neue Parteien. Aber dass es so viele Unzufriedene gibt, realisierten Sie erst im Laufe des EWR-Abstimmungskampfs? Richtig. Am Anfang dachte ich, wir seien isoliert, die ersten Versammlungen waren klein. Aber sie wuchsen, und es gab immer wieder Abende, nach denen ich zutiefst gerührt nach Hause gegangen bin, wenn ich spürte wie viele Menschen es gab, die sich für ihre Rechte und die Eigenständigkeit der Schweiz einsetzten. Und das trotz all der Kampagnen gegen mich in jener Zeit. Als Unternehmer gehörten Sie doch eigentlich auch einer Elite an, weshalb waren Sie am Ende glaubwürdiger als die anderen Politiker und Wirtschaftsführer? Vielleicht weil ich bei Null angefangen habe. Meine Familie war nicht wohlhabend, was ich habe, habe ich selbst aufgebaut, mit eigener Arbeit. Aber auch mit viel Glück, für so was braucht es immer Glück. Die Firma wurde erfolgreich und zum grössten Unternehmen in Graubünden, das vergessen die Leute nicht. Und natürlich kannten mich dort auch alle, so war ich das genaue Gegenteil von einem abgehobenen Manager. Jahrelang ist die SVP von Sieg zu Sieg gestürmt, schliesslich sassen Sie selbst sogar im Bundesrat, waren also im Herz des politischen Establishments angekommen, gegen das Sie immer gekämpft hatten... ...leider. Und nicht lange (lacht). Wieso waren Sie so erfolgreich? Als ich die Partei im Kanton Zürich 1977 übernommen habe, steckte die SVP in ihrer grössten Krise. Sie kümmerte sich bis anhin nur um Landwirtschaft, Finanzpolitik und Militär, alles andere hat sie den anderen überlassen. Es brauchte eine Neuorientierung, die Berner bevorzugten eine liberal-progressive Ausrichtung, ich eine liberal-konservative Ausrichtung. Am Ende setzte sich diese durch, auch weil die anderen realisierten, dass das Wähler brachte. Politiker sind ja Feiglinge. Sie gehen immer dorthin, wo die Stärkeren sind. Zusätzlich gab es Zulauf durch die neugegründeten Kantonssektionen. Und solange die SVP unbeirrt auf dem Kurs einer eigenständigen Schweiz bleibt, wird sie auch Erfolg haben. Weltoffen, aber eigenständig. Ihr vieles Geld hat vermutlich auch geholfen, oder? Wie viel haben Sie über die Jahre in die SVP und ihre Anliegen investiert? Ich habe nie die Partei finanziert, das will ich nicht, sonst wird sie von meinem Geld abhängig. Auch für Wahlen habe ich nie Geld ausgegeben. Geholfen habe ich bei Abstimmungskampagnen, über die Jahre dürften das vielleicht so 10 bis 15 Millionen Franken gewesen sein, ein Klacks verglichen mit den Beträgen, die die Wirtschaftsverbände einsetzen. Aber Geld ist bei Abstimmungen nicht alles. Und gerade beim EWR hat die Gegenseite mindestens drei- bis viermal so viel Mittel eingesetzt wie wir. Wie viel haben Sie eingesetzt? Beim EWR übernahm ich eine Defizitgarantie von drei Millionen persönlich. So viel ist mir die Schweiz sicher wert. Am Ende musste ich davon aber nur ein bis zwei Millionen einsetzen. Eindrücklich war für mich, wie viele Leute Geld geschickt haben, Zehner- und Zwanzigernoten teilweise. Auch Leute, die sich so was kaum leisten konnten. Jetzt allerdings scheint der Stern der SVP ein wenig am Sinken, die breit zersplitterte bürgerliche Mitte wird dafür wieder stärker. Was ist heute anders als noch vor wenigen Jahren? Ziehen die klassischen SVP-Themen nicht mehr so wie auch schon? Wir sind jetzt wieder etwa auf dem Niveau von 2003, nachdem wir 2007 – als Bundesratsbonus – enorm zugelegt hatten. Die neuen Mitteparteien haben uns sicher ein paar Stimmen abgenommen. Aber die Partei ist auch etwas bequem geworden, hat ein grösseres Bedürfnis nach Harmonie. Es schadet also nichts, dass sie mal eins aufs Dach bekommt, dann merkt sie wieder, was es braucht. Jetzt legt die SVP ja bereits wieder zu, die neue Mitte stagniert. Schwierig wird es nur für uns, wenn die anderen Parteien sich uns inhaltlich annähern und die Schweizer Eigenständigkeit genauso unbeugsam vertreten. Aber das wäre dann auch okay, dann brauchts uns nicht mehr. War es nicht immer ein schwieriger Spagat für Sie, den weltoffenen, wirtschaftsfreundlichen Kurs, den Sie als Unternehmer brauchen, mit dem tendenziell eher isolationistischen Gedankengut der SVP-Basis unter einen Hut zu bringen? Nein: Weltoffenheit und Eigenständigkeit tun einander nicht weh. Ich kann doch meine Produkte in der EU verkaufen, und umgekehrt, ohne dass ich mein Selbstbestimmungsrecht aus den Händen gebe. Klar gibt es in jeder Partei Leute, die nicht weltoffen sind, aber wir als Partei haben uns nie gegen die Weltoffenheit eingesetzt, lediglich dagegen, dabei unsere Eigenständigkeit aufzugeben. Die Schweiz ist auch keinesfalls isoliert: Wo ich hinkomme mit meiner Firma, sind die Schweizer beliebt, sie gelten als zuverlässig, qualitätsbewusst, seriös und weltoffen. Verglichen mit den anderen Ländern Europas geht es der Schweiz relativ gut, das EWR-Nein scheint uns also zumindest nicht geschadet zu haben... ...was heisst nicht geschadet? Wir sässen in der Tinte hätten wir Ja gestimmt! Der Schweiz geht es aber auch deshalb so gut, weil die wirtschaftlichen Nachteile, die das EWR-Nein zur Folge hätte haben können, durch die WTO-Abkommen und die Bilateralen aus dem Weg geräumt wurden. WTO ja, da waren wir auch nicht dagegen. Aber welche bilateralen Verträge haben denn die grossen Nachteile vermieden? Die Personenfreizügigkeit hat sicher geholfen. Nein. Es stimmt, dass wir Industriellen dank ihr aus einem grossen Reservoir aussuchen können, wen wir anstellen wollen, und das zu tieferen Löhnen. Das ist momentan ein Vorteil und hat geholfen, das starke Wachstum zu bewältigen. Aber diese Leute hätten wir alle auch so kriegen können. Und falls es zu einer Rezession kommt, wird es unsere Sozialsysteme enorm belasten. Aus meiner Sicht ist der wichtigste Vertrag, gerade für die EU, der Verkehrsvertrag. Ich bin nicht gegen ihn, habe ihn auch nicht bekämpft, aber er hat kaum dazu beigetragen, allfällige wirtschaftliche Nachteile eines EWR-Neins – die es nicht gibt – auszugleichen. Die bilateralen Verträge gelten heute gemeinhin als Sackgasse im Verhältnis zur EU, man will noch mehr abschliessen und kann aber nicht... ...wieso will man eigentlich noch mehr abschliessen? Wir brauchen doch gar nichts mehr! Zumindest nichts Lebensnotwendiges. Das Stromabkommen? Das ist nice-to-have, mehr nicht. Die Schweiz überlebt auch gut ohne den Vertrag. Und eine allfällige institutionelle Anbindung für diesen und weitere Verträge sowie die europäische Gerichtsbarkeit für die Schweiz wäre ein Riesenschaden. Da wären wir dann wieder beim EWR und schliesslich in der EU! Und gerade der EWR wird heute von einigen als mögliche Lösung aller Probleme mit der EU gepriesen. Immer der gleiche kleinliche Geist. Die Banken- und Steuerprobleme haben ja nicht wir, die haben die anderen mit uns. Die wollen etwas von uns. Also müssen wir Bedingungen stellen, Themen miteinander verknüpfen. Aber das passiert nicht, weil sich immer Einzelinteressen durchsetzen. Das habe ich auch im Bundesrat so erlebt. Niemand will etwas von seinem Gärtchen beim Verhandeln abgeben. Dann sagen Sie: Es ist gut so wie es ist, wir brauchen gar nichts zu verhandeln? Nein, verhandeln immer, aber nicht nachgeben. Nicht immer einknicken. Wir sollten viel öfters sagen: Bis hierher und nicht weiter. Der EWR wäre jedenfalls heute noch genauso fatal wie vor 20 Jahren. Das sieht ja laut aktuellen Umfragen auch eine grosse Mehrheit der Bevölkerung so. Was, wenn es damals ein EWR-Ja gegeben hätte? Dann wären wir heute sicher in der EU. Damit hätten wir, anders als im EWR, wenigstens ein bisschen mitreden können. Aber so oder so hätten wir unsere bewährten Stärken aus der Hand gegeben. Aber ist es nicht so, dass wir heute Vieles haben, das ein EWR-Ja auch gebracht hätte? Die enge wirtschaftliche Verzahnung, eine starke rechtliche Angleichung dank dem „autonomen Nachvollzug“, viele EU-Einwanderer. Sind wir denn wirklich noch so unabhängig wie Sie und die SVP das immer gerne behaupten? Wir haben – gegen den Willen der SVP – zu viel nachvollzogen. Aber die eigentlichen Sündenfälle waren die Personenfreizügigkeit und das Schengen-Abkommen. Da wurde das Volk massiv über den Tisch gezogen, und wir können in diesen Bereichen nicht mehr selbst bestimmen. Klar kann man auch diese Abkommen kündigen, aber das ist faktisch sehr schwierig. Wie würden Sie denn mit der Personenfreizügigkeit umgehen? Man muss sie neu aushandeln, so wie das die Initiative der SVP verlangt. Wir brauchen wieder mehr Autonomie. Würde die EU denn dazu Hand bieten? Wenn nicht, müsste man sie halt kündigen. Oder mit der Kündigung drohen, nur dann wird man etwas herausholen können. Davor hätte die EU Angst: Es arbeiten jetzt fast eine Million Europäer in unserem Land. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in ihren Heimatländern, wären bei einer Rückkehr vermutlich eine Million mehr arbeitslos. Die Personenfreizügigkeit ist ein wichtiger Vertrag für die EU. Zu uns kämen die Leute auch ohne diesen Vertrag, weil die Schweiz so attraktiv ist. Und Sie würden wirklich die bilateralen Verträge als Ganzes riskieren? Soweit würde es nicht kommen, es wäre nicht im Interesse der EU. Ich möchte sehen, wie die EU damit klarkäme, wenn sie den Verkehrsvertrag kündigen müsste. Als der Gotthard für ein paar Wochen geschlossen war wegen Unwetterschäden, hatten sie in Norditalien Versorgungsprobleme. Wagen Sie eine Prognose wie sich das Verhältnis der Schweiz zu Europa und der EU entwickeln wird? Es wird sicher schwieriger. Der Druck auf die Schweiz wird stärker, also müssen wir uns wehren. Historisch gesehen ist das nichts Neues, wir mussten uns immer wehren. Aber unser Selbstbestimmungsrecht und die direkte Demokratie sind die Gründe, weshalb wir weniger Schulden und niedrige Steuern haben. Wir haben nämlich nicht die besseren Politiker, sie haben bei uns einfach weniger zu sagen. Christoph Blocher (72) ist SVP-Nationalrat und Unternehmer. Er bekämpfte 1992 fast im Alleingang den EWR-Beitritt und setzte sich schliesslich in der Volksabstimmung durch. Anschliessend führte er die SVP über Jahre von Erfolg zu Erfolg und sass von 2004 bis 2007 im Bundesrat. Blocher ist verheiratet, Vater von vier erwachsenen Kindern und Grossvater von acht Enkeln. Er lebt in Herrliberg sowie auf Schloss Rhäzüns.

28.11.2012

La question européenne pas réglée

Interview avec Christa Markwalder et Christoph Blocher dans „La Liberté“ du 28 novembre 2012

01.08.2012

1. August-Gedanken 2012

Ansprache von Nationalrat und a.Bundesrat Christoph Blocher, gehalten am 1. August 2012 Manuskript für die 1. August-Reden 2012 im Degenried (Zürich) und Reinach /AG) Es gilt sowohl die mündliche wie die schriftliche Fassung. Der Redner behält sich vor, stark vom Manuskript abzuweichen. Wie feiert die Schweiz Geburtstag? In gut eidgenössischer Tradition! D.h. bescheiden, in zahllosen Gemeinden, Quartieren, mit kurzen Festansprachen, Höhenfeuern, mit Landeshymne, in Freude, in Dankbarkeit! Eine zentrale staatliche Feier mit viel staatlichem Pomp mit Auftritten der Regierung wäre unschweizerisch. Die Geburtstagsfeiern zeigen: Die Schweiz ist unten entstanden. Im Zentrum des Landes steht das Unten: Die einzelnen Bürger, die Familie, die Gemeinde, der Kanton. Nicht die Zentralregierung, nicht die Classe politique, nicht Protzerei, nicht staatliche Machtdemonstration zählt. Jede Feier ist stellvertretend die Feier für das ganze Land. Warum feiern wir 1291? "Arglist der Zeit" Bundesbrief 1291: Wille zur Unabhängigkeit und Selbstbehauptung Bundesbrief = Freiheitsbrief!       -  25 cm hoch 32 cm breit -  eine Pergamentseite -  Beginn: "Im Namen Gottes Amen"  -  (heute in der BV "im Namen Gottes des Allmächtigen") Landsleute der Innerschweiz schwören:       -  in Zukunft keine Fremdherrschaft zu dulden -  keine fremden Richter (Obrigkeit) -  keiner solle straflos gegen Ruhe und Ordnung vorgehen hohe charakterliche Anforderungen an die "Richter", d.h. an die Obrigkeit 1291: nach dem Tod des Habsburgers Rudolf II waren die Zeiten in Europa bewegt. Die bis anhin verliehenen Freiheitsrechte für die Talschaften rund um den Gotthard waren bedroht. Fremde Mächte – damals Habsburg – wollte sich diese Schweiz unterjochen, fremd bestimmen; sagen, was in diesen Gebieten zu tun sei! Dieser äussere Druck bewirkte ein Zusammenstehen mit Schwur, ein Bündnis zu schmieden für       -  Freiheit -  gegen fremde Richter -  für Selbstbestimmung -  gegen Steuervögte -  für Eigenverantwortung -  für Ordnung und Ruhe Zeichen der Zeit Mit Recht wird dieser Bundesbrief von 1291, dieser Freiheitsbrief, als Geburtsurkunde unseres Landes bezeichnet. Beschlossen in der Arglist der Zeit. Doch solche arglistige Zeiten erlebte die Schweiz in ihrer über 720-jährigen Geschichte mehrmals. Meist, weil die "Regierenden versagten. Und leider müssen wir heute wieder sagen: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne!". Und so fragen wir besorgt: Werden wir auch in Zukunft Grund zur Dankbarkeit haben, denn immer wieder konnte sich die Schweiz behaupten und ihre Freiheit verteidigen. Dafür sind wir unseren Vorfahren dankbar. Für das Erreichte dürfen wir dankbar sein. Aber beschäftigen wir uns nicht zu lange mit der Geschichte. Wie 1291 trachten auch heute Grossmächte danach, die Eigenständigkeit der Schweiz einzuschränken. Und – wie oft in der Schweizer Geschichte – ist gerade die Obrigkeit, welche die Freiheit, Unabhängigkeit, den Sonderfall, verteidigen sollte, nicht bereit, für das Land hinzustehen. Die Führungslosigkeit und Oberflächlichkeit der leitenden Personen sind Grund zur Sorge. Auch wenn es nicht offen gesagt wird: Regierung, Bundesverwaltung und die Mehrheit des Parlaments sind  bereit, die Unabhängigkeit, Freiheit, Volksrechte, Selbstbestimmung, Neutralität preiszugeben, um die Schweiz in die EU einzugliedern – und damit diese 721-jährige Schweiz aufzugeben! Nicht dass sie dies zugeben würden, aber es ist eine Tatsache! Kampf für die Freiheit – Gebot der Stunde! dank unserer besonderen Staatsform dank der stärkeren Mitsprache der Bürger aber noch vielmehr: dank der Misswirtschaft der grossen staatlichen Machtgebilde wie USA und der EU hat die Schweiz an Attraktivität gewonnen. Zehntausende wollen in der Schweiz arbeiten. Die Wirtschaft wächst. Die Schweiz gilt als Hort der Stabilität. Sie ist gesucht! Dank der stärkeren Mitsprache der Bürger konnten bis anhin die Politiker weniger Dummheiten machen als im Ausland. Und man sollte meinen, es fiele den Verantwortlichen nicht schwer das zu verteidigen. Aber, weit gefehlt: Die Classe politique zeichnet sich aus durch Kleinmut, nachgeberischen Verhaltens. Sie hat das Wesen der Schweiz vergessen, aus Bequemlichkeit Minderwertigkeitsgefühl oder Grössenwahn. So will sie den Grossen nacheifern, wohl wissend, dass dies für die Schweiz schädlich, ja letztlich den Untergang bedeutet, aber für die persönlichen Interessen der Verantwortlichen nützlich wäre. Nur so ist es zu erklären, dass sich die Schweiz in unbegreiflicher Weise in einen globalen "Wirtschaftskrieg" verwickeln liess. Schlachtfelder sind: Bankkundengeheimnisse, die tieferen Steuern in der Schweiz, Solidaritätsbeiträge für Staaten, die sich mit Schulden alles leisteten und zwar in Milliardenbeträgen. Erhöhung von Entwicklungshilfe, Asylmisswirtschaft, massiv steigende Kriminalität, Korruptionszunahme etc. etc. entspringen diesem Geist. Widerstand oder Anpassung? Das war die dauernde Frage in der 721-jährigen Geschichte der Eidgenossenschaft. Doch Bundesverwaltung und Regierung kennen diese Frage nicht mehr. Für sie gilt nur noch Anpassung. Dass sie die Schweiz in die EU einverleiben wollen, das getrauen sie sich zwar nicht zu sagen, (denn auch in Bundesbern hat man gelesen, dass lediglich nur noch 17 % der Schweizer Bevölkerung dieses Ziel gutheissen!) Also geschieht es hinten herum. Man arbeitet im Dunkeln, verschweigt, beschönigt, schwindelt, lügt. Nachgeben, anpassen ist die Devise: Man lieferte den USA  Dokumente von Bankkunden aus: Ein rückwirkender, schwerwiegender Rechtsmissbrauch. Dann brachen die Dämme: Erpressung folgte auf Erpressung. Grundsatz- und führungslos faselt man von Abgeltungssteuern, "Weissgeldstrategie", direktem Informationsaustausch. Zugeständnisse reihen sich an Zugeständnisse. Das Einknicken ist für die Bundesräte zur täglichen Gymnastikübung geworden. Die Schweizer Regierung tritt im Ausland als eine schwache Regierung auf. Sie erweckt nicht nur den Eindruck, dass sie die Interessen anderer Staaten besser vertritt als die der Schweiz, sondern es ist so. Daher wird schlecht verhandelt. Man gibt sofort nach, auf leisesten Druck hin wird "nachgebessert": (Man beachte die Sprache: Schweizer reden von "Nach-Besserung", was zum Nachteil der Schweiz und zum Vorteil des fremden Staates gereicht. An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen!) EU-Beitritt vor der Tür Ohne dass es die Bevölkerung realisiert, werden die freien Schweizer plötzlich zu "Knechten" ausländischer Fiskalpolitiker. Es passt ins Bild, dass Tausende von Bankangestellten der Willkür ausländischer Staaten preisgegeben werden. Die Banken, verraten ihre Mitarbeiter mit der ausdrücklichen Zustimmung der Finanzministerin: Alle wissen: Sie verletzen schweizerisches Recht und die Souveränität. Ungestraft handelt der Bundesrat gegen Gesetz und Verfassung. Wollen wir wirklich in die Knie gehen, wenn die fremde Kavallerie droht oder wenn der frühere Präsident der deutschen SP (Herr Müntefering), sich zurücksehnt indem er drohte: früher habe man "für solche Fälle (wie die Schweiz) die Armee geschickt"? Aber der entscheidende Schachzug wird jetzt in Bern vorbereitet: Heimlich in den Hinterzimmern: Der Bundesrat, und noch viel mehr seine Beamten, haben der EU versprochen, auf das Begehren, in Zukunft das künftige EU-Recht zu übernehmen, und der Forderung nach fremden Richtern entgegen zu kommen. Man gibt schon nach, bevor man verhandelt. So soll – ohne dass es die Bürger merken – der EU-Beitritt unausweichlich gemacht werden. Damit folgen zwangsläufig: fremde Herren, fremde Richter, fremde Vögte, Unfreiheit, staatliche Willkür, der Boden für Arbeitslosigkeit und Armut, für Knechtschaft statt Freiheit. Rückbesinnung auf den Bundesbrief Doch so weit darf es nicht kommen! Die Bürger sind aufgerufen, das Heft in die Hand zu nehmen. Die Schweizer haben sich in der "Arglist der Zeit" oder besser – der Classe politique – auf die Werte des Bundesbriefes zu besinnen: Es braucht Bürger, welche hinstehen um -  in der heutigen Arglist der Zeit Widerstand zu leisten -  den Rütlischwur zu erneuern -  den Kleinstaat Schweiz zu stärken. Auf dass die Schweiz -  im Namen Gottes des Allmächtigen frei sei -  ohne fremde Obrigkeit, -  ohne Kolonialherren, die Recht setzen über die Köpfe ihrer Untertanen, -  die Volksrechte und Neutralität schütze. Überwindung von Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit im Wohlstand Wir alle wissen – der Schweiz geht es heute besser als den anderen Staaten. Unter anderem auch weil die Schweiz bis heute die Werte des Bundesbriefes hochhielt: Unabhängigkeit (Nicht-Mitglied der EU), Selbstverantwortung, weniger Schuldenwirtschaft dank vielen obligatorischen Volksbefragungen. Aber, weil es der Schweiz heute gut geht, ist sie auch gefährdet. Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe guter Tagen. Die schweizerische Besonderheiten werden von der Bevölkerung als selbstverständlich hingenommen. So merken viele Schweizer nicht, wie am Ast gesägt wird, auf denen sie hocken: Darum sei am 1. August den Bürgern zugerufen: -  Wachet auf! -  Wehrt Euch für Euer Freiheitsrecht! -  für Ruhe und Ordnung! Zuversicht Oft in der Schweizer Geschichte haben wir das Versagen von führenden Familien und Regierungen erlebt. Aber immer wieder ist es von unten durchgerochen, von unten, das in Wirklichkeit in unserem Staate oben ist. Ich glaube, diese Kräfte werden sich durchsetzen. Erinnern Sie sich an die Abstimmung vor 20 Jahren? Nach einer beispiellosen Kampagne durch alles, was Rang und Namen hatte, leisteten die Volks- und Kantonsmehrheit Widerstand gegen die anpasserischen Kreise, die die Schweiz zuerst in den Europäischen Wirtschaftsraum und dann in die EU führen wollten. Es war ein schwerer Entscheid für die Bürger, weil Bundesrat, Parlament, alle Kantonsregierungen, die Economiesuisse, den Untergang des Landes voraussagten, wenn die Schweiz selbständig bliebe. In einer damals schweren, wirtschaftlichen Rezession hatte die Schweiz – d.h. die Bürgerinnen und Bürger, nicht die Regierenden, nicht die Classe politique, nicht die organisierte Wirtschaft – nein, das Volk, die Stimmbürger, der Souverän hatte die Kraft, Nein zu sagen. Auch heute gilt Wache zu halten. Nicht die Institutionen des Landes sind veraltet oder schlecht. Aber die, die sie bekleiden, müssen zur Vernunft gebracht werden. Wir wollen keine Classe politique, die den Rechtsstaat und das Land verrät. Nur so wird das Land auch wirklich in Frieden, Freiheit und Wohlfahrt leben. Wir wollen auch die kommenden Geburtstagsfeiern in Freiheit und Dankbarkeit feiern können. Schauen und hören Sie hinaus in die Welt. Sie werden sehen, dass Jakob Burckhardt recht hatte: "Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen Sinne sind... Denn der Kleinstaat hat überhaupt nichts, als die wirkliche tatsächliche Freiheit, wodurch er die gewaltigen Vorteile des Grossstaates, selbst dieses Machtideal, völlig aufwiegt." Zuversichtlich auf diese tiefe innere Kraft des Volkes – nicht der Regierung – hoffend, wünsche ich Ihnen allen einen schönen Tag. 1-August-Gedanken_2012.pdf

28.07.2012

«Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel sie ähnlich macht wie ich»

Interview im Tages-Anzeiger vom 28. Juli 2012 mit Iwan Städler Frau Martullo, was ist das Wertvollste, das Sie von Ihrem Vater geerbt haben? Martullo: Sicher unser Unternehmen, die Ems-Chemie. Auch wenn wir Kinder ja nur einen kleinen Teil erbten und uns für den Rest verschulden mussten, ist es schon einmalig, wenn man eine solch innovative Firma übernehmen kann. Und vom Materiellen abgesehen? Um welche vererbten Eigenschaften sind Sie besonders dankbar? Martullo: Das Unternehmerische. Ob über die Gene oder in der Erziehung – irgendwie haben wir es alle vier Geschwister mitbekommen. Haben Sie auch Dinge geerbt, die eher mühsam sind? Martullo: Mühsam sind die Journalisten mit ihrer Christoph-Blocher-Manie und ihren Vorurteilen. Welchen Vorurteilen denn? Martullo: Wir seien engstirnig und konservativ. Dabei sind wir gerade unkonventionell und deshalb oft auch innovativ und offen. Wir trauen uns, das Bestehende zu hinterfragen und denken heute schon an die Zukunft. Blocher: Ich habe nie darauf hingearbeitet, dass die Kinder dem Vater folgen. Man muss sie sich frei entwickeln lassen. Bis jetzt ist es bei allen gut gekommen, was aber nicht heisst, dass sie nicht darunter leiden, einen bekannten Vater zu haben. Wie war es als Kind, Blocher zu heissen? Martullo: Von den anderen Kindern gab es immer wieder blöde Sprüche.  Dahinter stecken ja meist die Eltern. Blocher: Am ersten Kindergartentag eines meiner Enkelkinder sagten alle Eltern: «Schau mal, das ist jetzt Blochers Enkel». Darauf konterte er: «Dann heisse ich jetzt eben Christoph Blocher». Gut gemacht! Man muss es mit Humor nehmen. Martullo: Mein Sohn ist acht Jahre alt und hat für seinen ersten kleinen Vortrag in der Schule das Thema Ems-Chemie gewählt. Das hat mich überrascht. Bis jetzt hatte er noch nicht viel mit der Firma zu tun. Lediglich an unserer Generalversammlung müssen er und seine ältere Schwester jeweils teilnehmen. Müssen? Martullo: Ja, das ist eine Pflicht für sie. Wobei die Generalversammlung bei uns eher einem grossen Volksfest gleicht. Mitarbeiter demonstrieren neue Entwicklungen, junge Musiker treten auf und bei den rund 1’500 Anwesenden herrscht Feststimmung. Blocher: Die Kinder nehmen mehr auf, als man denkt. Das war auch bei meinen Kindern so. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Magdalena ähnlich macht wie ich seinerzeit. Zum Beispiel, dass sie in der Silvesternacht ins Werk in Domat/Ems geht, um dort den Schichtarbeitern ein gutes neues Jahr zu wünschen. Das zeigt die Einstellung, welche die Kinder wohl unbewusst übernommen haben: Man lebt fürs Unternehmen, nicht in erster Linie vom Unternehmen. Wie haben Sie, Frau Martullo, Ihren Vater als Kind erlebt? Fanden Sie, er sei zu wenig zu Hause? Martullo: Nein, diesen Eindruck hatte ich nie. Dies hilft mir natürlich heute bezüglich meiner eigenen Kinder. Wie mein Vater früher, verbringe auch ich die Wochenenden vor allem mit der Familie. Und wie haben Sie Ihren Vater erlebt? Martullo: Ganz anders als in den Medien dargestellt. Welche Facetten sind in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt? Martullo: Zum Beispiel sein Humor. Blocher: Den verträgt es im Privaten eben besser als in der Politik. (lacht) Viele Politiker haben ja keinen Humor. Martullo: Er kann es auch sehr gut mit Kindern, erzählt theatralisch Geschichten und bringt sie zum Lachen. Er ist stets die grosse Attraktion. Sie sollen an Familienfesten auch gezaubert haben, Herr Blocher? Blocher: Ja, das stimmt. Aber es war stets derselbe Trick: Ich zauberte Gummibänder von einem Ort zum andern. Ich musste die Kinder bloss genügend ablenken. Ihnen selbst hat ein Zauberer später einmal die Krawatte vom Hemd weg gezaubert. Blocher: Ja, dieser Zauberer war der Bessere! (lacht) Er klaute anderen Portemonnaies und Kugelschreiber. Da dachte ich, das passiert mir bestimmt nicht, und konzentrierte mich stets auf diese Gegenstände. Bis er mich darauf aufmerksam machte, dass meine Krawatte fehlte. Das war hohe Klasse. Aber das Prinzip beim Zaubern ist immer dasselbe: Man muss darauf achten, dass alle in die andere Richtung schauen. Auch in der Politik wird das oft so gehandhabt. Sie haben politische Reden vor Ihren Kindern geprobt. Warum? Blocher: Weil ich immer schon so sprechen wollte, dass mich die Leute verstehen. Wenn die Kinder mich nicht verstanden, mussten sie aufstrecken. Dadurch merkte ich, wo ich mich zu wenig einfach ausdrückte. Besonders exponiert haben Sie sich 1992 durch Ihr Engagement gegen den EWR. Wie haben Sie, Frau Martullo, dies als Tochter erlebt? Martullo: Ich studierte damals an der Hochschule St. Gallen, wo alle Professoren und Studenten der EU-Euphorie erlagen. Besonders schlimm wurden die Anfeindungen nach der EWR-Abstimmung. Da wurde ich wirklich schlecht behandelt. Man sah unsere Familie als Verräter an der europäischen Vision. Selbst im Hörsaal fielen von den Professoren wüste Töne. Aufgrund meiner Herkunft wollte man mich gar nicht in die Studentenverbindung eintreten lassen, was durch eine Sonderabstimmung aber  korrigiert wurde. Blocher: Das war eine enorm intensive Zeit. Otto Fischer und ich kämpften ja anfänglich ganz alleine gegen die Classe politique und die Medien. Ein Jahr vor der Abstimmung stellten wir fest, dass wir persönlich an die Leute gelangen müssen und hielten jeder jeden Tag mindestens einen Vortrag. Das Interesse und der Andrang waren riesig. Aber die Belastung natürlich auch. In der Folge hatte ich am Abstimmungssonntag einen Nervenzusammenbruch und zog mich daraufhin für mehrere Wochen zurück. Ich musste sogar Medikamente nehmen. Noch schlimmer erging es dem herzkranken Otto Fischer, der eigentlich längst ins Spital hätte gehen sollen. Doch er kämpfte weiter. In den letzten fünf Wochen vor der Abstimmung konnte er nicht mehr liegen, sondern stand jeweils an die Wand, um zu schlafen! Kurz, nachdem die Schweizer Nein sagten zum EWR-Beitritt, verstarb er. Sie sagten einmal, Sie hätten nebst der Politik und dem Unternehmen keine Zeit für Ferien gehabt und deshalb Ihre Familie einfach auf Geschäftsreisen mitgenommen. Wie war das? Blocher: Interessant. Als China sich öffnete, reisten wir schon anfangs der 80er Jahre in die abgelegensten Orte des noch geschlossenen Chinas. Meine Frau und die vier Kinder (die jüngste  neun Jahre alt!). Die neue Regierung wollte damals vor allem die unterentwickelten Gebiete entwickeln. Also reisten wir dorthin. Martullo: Es gab kein fliessendes Wasser und keinen Strom. Die Autos mussten wir importieren. Blocher: Meine Frau und die Kinder hatten leider noch monatelang danach Magenbeschwerden. Aber es waren Erlebnisse, die geblieben sind. Nehmen Sie Ihre Kinder auch mit auf Geschäftsreisen, Frau Martullo? Martullo: Bis jetzt nicht, aber sie bestürmen mich immer. Vor allem China interessiert sie sehr. Ihre Mutter gab ihren Beruf als Lehrerin auf, um die Kinder aufzuziehen. Sie selbst sind beruflich voll engagiert, während vor allem Ihr Mann und eine Nanny zu den Kindern sehen. Was ist besser? Martullo: Da gibt es keine allgemeingültige Regel. Das muss jede Familie für sich entscheiden. Für mich war immer klar, dass ich weiterarbeiten möchte. Als Hausfrau und Mutter wäre ich nicht geeignet. Mir fällt die Decke schnell auf den Kopf. Das sagte ich meinem Mann auch als erstes, als wir uns kennenlernten. Ihr Vater hat Sie gleich zweimal während einer Schwangerschaft ins kalte Wasser geworfen: Beim ersten Kind mussten Sie Ems-Dottikon in einer Krisensituation übernehmen. Während Ihrer zweiten Schwangerschaft wurde Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt, worauf Sie alleinige Chefin der ganzen Ems-Gruppe wurden. Wie gingen Sie damit um? Martullo: Man arrangiert sich eben. Mir war es wichtig, nach dem Ausscheiden meines Vaters Präsenz zu zeigen. Alle drei Schwangerschaften waren medizinisch kritisch. Beim dritten Kind stellten die Ärzte gar die Prognose, es werde nicht überleben. Zum Glück kam aber alles gut und wir haben drei fröhliche gesunde Kinder. Dafür sind wir dankbar, das ist nicht selbstverständlich. Blocher: Als wir eine etwaige Wahl in den Bundesrat und die Übernahme besprachen, machte sie mich drauf aufmerksam, dass sie in drei Monaten das zweite Kind erwarte. Ich sagte: Das macht doch dem Kindchen nichts. Martullo: Am Freitag hielt ich meine erste Medienkonferenz ab und am Montag darauf gebar ich unseren Sohn. Wenn es nötig ist, ist viel möglich. Herr Blocher, Sie schenkten Ihren Kindern die Ems-Aktien nur zu einem Drittel. Für den Rest mussten sie sich verschulden. Warum? Blocher: So mussten sie vom ersten Tag an darauf achten, dass das Unternehmen rentiert. Das Dümmste, was man machen kann, ist jemandem ein Unternehmen zu schenken. Da besteht die Gefahr, dass sich der Beschenkte zurücklehnt und dann nur noch vom statt für das Unternehmen lebt. Bei Ihrer Tochter hat es offenbar funktioniert. Sie hat den Gewinn und den Aktienkurs im Vergleich zu Ihrer Zeit massiv gesteigert. Was macht sie besser als Sie? Blocher: Magdalena macht es sicher sehr gut, wie die anderen Kinder übrigens auch. Sie machen vieles besser als ich. Sie sind ja auch besser ausgebildet und kennen sich mit der modernen Kommunikation aus. Martullo: Ich habe auch mehr Zeit als du. Du hattest immer noch die Politik. Wer würde die Ems übernehmen, wenn Ihnen etwas zustossen würde? Martullo: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen das jetzt mitteile, oder? Dieser Fall ist bei uns aber selbstverständlich vorbereitet. Ihr Vater hat ja einmal gesagt, er wäre als Bundesrat zurückgetreten, um bei der Ems einzuspringen, wenn es nicht gut gelaufen wäre. Blocher: Das stimmt. Aus Verantwortung dem Unternehmen gegenüber. Peter Bodenmann ist ja auch aus der Walliser Regierung ausgetreten, als sein Hotel-Projekt in Schwierigkeiten geriet. Nur hat er dann einem primitiven Brief der CVP die Schuld gegeben. Ich glaube, ich wäre in einem solchen Fall zum Rücktrittsgrund gestanden. An einer Medienkonferenz der Ems haben Sie, Frau Martullo, die chinesische Regierung als «die kompetenteste Exekutive der Welt» bezeichnet. Muss man sich in China so einschmeicheln oder meinen Sie das im Ernst? Martullo: Ich sagte dies nicht für die Chinesen, sondern für die Schweizer. Meine Beurteilung bezieht sich nur auf die Wirtschaftspolitik. Diesbezüglich agiert die chinesische Regierung wirklich äusserst kompetent – vor allem wenn man sie zum Beispiel mit europäischen Regierungen vergleicht. Letztere wollen ja in erster Linie sich selber profilieren und handeln nicht aus Verantwortung für ihr Land. Ungeliebte Probleme gehen sie deshalb oft nicht an. Die chinesische Regierung hingegen denkt und handelt sehr fundiert, professionell und sehr langfristig ausgerichtet. Der Erfolg gibt ihr recht. Finden Sie nicht, in China gebe es etwas gar wenig Demokratie und Menschenrechte? Martullo: Man kann China diesbezüglich natürlich nicht mit der Schweiz vergleichen. Aber was nützt Europa deren Demokratie: Da werden den Leuten Leistungen versprochen, die nicht bezahlbar sind. Das Volk wird hinters Licht geführt. Der Chinese ist in wirtschaftlicher Hinsicht heute besser bedient, die Regierung orientiert sich nämlich an seinem langfristigen Wohlergehen. Und wo stehen Sie selbst politisch? Wählen Sie stets SVP? Martullo: Ja, je länger je exklusiver. Parteimitglied sind Sie aber nicht? Martullo: Nein. Blocher: Ich begreife das. Meine Kinder denken in den Grundsätzen gleich: Sie sind für eine freiheitliche und unabhängige Schweiz. Aber sie engagieren sich parteipolitisch nicht. Das wäre für sie auch schwierig, weil man sie nicht als eigenständige Personen wahrnehmen würde, sondern immer als Kinder von Christoph Blocher. Könnten Sie, Frau Martullo, sich vorstellen, irgendwann wie Ihr Vater in die Politik einzusteigen? Martullo: In gleichem Ausmass? Nein. Ihr Nein zum Einstieg in die Politik scheint aber nicht definitiv zu sein. Jedenfalls hängten Sie auch schon den Nachsatz an: «Ausser ich muss.» Wie darf man dies verstehen? Martullo: Wenn es für die Schweiz notwendig und sinnvoll ist. Ich müsste schon eine gewisse Zuversicht haben, etwas zum Vorteil der Schweiz bewegen zu können. Herr Blocher, hätte Ihre Tochter das Zeug zur Politikerin? Blocher: Sie hat sicher eine starke Meinung und eine gute Grundhaltung – und auch Durchsetzungsvermögen. Sie führt aber bereits ein grosses, internationales Unternehmen und hat eine noch junge Familie. Ich kann nachvollziehen, dass es sie zur Zeit nicht in die Politik zieht. Kommt dazu, dass die eidgenössischen Räte derart bürokratisch geworden sind, dass ich mich selbst manchmal frage, was ich dort noch bewirken kann. War es ein Fehler, nach 24 Jahren Nationalrat und 4 Jahren Bundesrat nochmals ins Parlament zurückzukehren? Blocher: Ich weiss es noch nicht. Aber ich merke, dass der Anteil an Berufspolitikern nochmals massiv zugenommen hat. Heute sind diese in der Mehrheit, was auch mit den zu hohen Entschädigungen zu tun hat. Nun geht es im Nationalrat steriler zu und her. Aber die Legislatur machen Sie noch fertig? Blocher: Ja, ja, selbstverständlich. Sie fürchten offenbar den sogenannten Blair-Effekt. Was verstehen Sie darunter? Blocher: Plötzlich hat man genug von Politikern, die lange etwas zu sagen hatten – vor allem auch in den eigenen Reihen. Tony Blair machte eigentlich nichts Schlechtes. Allein wegen des Irakeinsatzes musste er nicht gehen. Man hatte einfach genug von ihm, wollte einen Wechsel. Das könnte Ihnen auch passieren? Blocher: Natürlich. Aber vielleicht gehe ich vorher. Ich politisiere ja nicht für mich, sondern für die Schweiz. Damit sie gesund bleibt. Sie haben einen Auftrag? Blocher: Ja. Von wem denn? Blocher: Von den Wählern. Aber diese haben Sie ja nicht gezwungen zu kandidieren. Irgend etwas treibt Sie an. Was? Blocher: Natürlich habe ich eine eigene Verpflichtung für die Schweiz. Ich sehe: Ich bin noch einer der wenigen, die unabhängig politisieren können. Ich bin weder vom Staat, der Presse, noch von einem Amt abhängig. Wer ausser mir hätte sonst erfolgreich gegen den Blender Philipp Hildebrand vorgehen können? Niemand. Da sage ich mir: Wenn du schon diesen Vorteil hast, musst du ihn auch nutzen. Gott spielt da keine Rolle? Blocher: Sie und ich stehen beide unter der Gnade Gottes. Ich habe ein gesundes Gottvertrauen. Aber ich bin kein Frömmler. Ich versuche einfach, das Richtige zu tun. ZUM ORT Christoph Blocher und seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher wählten für dieses Gespräch die Büros der EMS-Gruppenleitung in Herrliberg. Sie befinden sich direkt unterhalb der Villa von Christoph Blocher und sind heute Magdalena Martullos Arbeitsort. Vor seiner Wahl in den Bundesrat wirkte hier Christoph Blocher als Konzernchef der Ems-Chemie. Um keine Zeit mehr fürs Pendeln zu verlieren, hatte er sein Büro von Zürich nach Herrliberg gezügelt. Das war 2001. „Zwei Jahre später arbeitete ich dann in Bern“, scherzt Blocher. Seine Tochter übernahm mit der EMS-CHEMIE auch die repräsentativen Räumlichkeiten an der Zürcher Goldküste mit Blick bis in die Berner Alpen - und behielt sie auch nach Christoph Blochers Abwahl als Bundesrat. Er selber bezog bescheidenere Büros in Männedorf. (is.)

11.05.2012

Der schwarze Montag

Zitate von Herr Dr. Blocher für ein Interview mit der Handelszeitung … Im Verlauf des Tages war durch eine Indiskretion bekannt geworden, dass der Bundesrat an einer Sitzung beschlossen hatte, bei der Europäischen Union (EU) ein Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu stellen. Christoph Blocher: «Damit hat die Landesregierung offen ausgesprochen , dass der Beitritt zum EWR nur ein erster Schritt auf dem Weg zur EG-Mitgliedschaft sein könnte. Otto Fischer und ich sahen plötzlich eine geringe Chance, dass Volk und Kantone den EWR-Beitritt ablehnen könnten». …. Unbestritten ist, dass der EWR/EU-Beitritt den Aufstieg der SVP in den 1990er Jahren massiv gefördert hat. «Damit war klar: Man hatte über die Unabhängigkeit unseres Landes abzustimmen », sagt Christoph Blocher. Nur wie ist die Rekordstimmbeteiligung vom 6. Dezember 1992 zu erklären. Mit ihrem Widerstand sei es der SVP gelungen, sich gerade in den konservativen Kantonen der Innerschweiz und der Ostschweiz, wo sie bis dahin praktisch nicht existent war, als die Partei zu profilieren, «welche für die Erhaltung der schweizerischen Souveränität kämpft».