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13.03.2001

«Weshalb ich am 10. Juni 2x Nein stimme»

Zwölf zwingende Gründe gegen die Militärgesetz-Revision Artikel vom 13. März 2001 1. Die Schweiz hat eine Widerstandsarmee Schweizer Soldaten sind für den Krieg gerüstet, damit sie notfalls Krieg führen können, um unser Land zu verteidigen. So schafft unsere Widerstandsarmee im eigenen Land Frieden, sie verhindert Krieg. Bundesverfassung Artikel 58: 2 Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Vom Schweizer Soldaten wird verlangt, dass er für den Schutz unseres Landes notfalls sein Leben hergibt. Die Frage ist zu stellen: Sterben wofür? Für fremde Händel und Kriegsabenteuer lässt sich der Einsatz des Lebens nicht rechtfertigen. Mit der Ernsthaftigkeit und den Schrecken des Krieges spielt man nicht. Wir sagen nein zu Kriegsabenteuern. Bundesverfassung Artikel 58: 1 Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert. Bundesverfassung Art. 59: 1 Jeder Schweizer ist verpflichtet, Militärdienst zu leisten. Die Verteidigung des eigenen Landes ist Aufgabe jedes Schweizer Bürgers. Für diesen Zweck haben wir die Milizarmee mit Bürgern in Uniform geschaffen. Eine Armee, welche nur im Notfall aufgeboten werden kann. 2. Schwächung der Landesverteidigung und des Milizarmee Der Selbstbehauptungswille und die militärische Landesverteidigung der Schweiz gründen auf dem Gedanken des Widerstandes. Unsere Widerstandsarmee dient der Verteidigung. Sie mischt sich nicht in fremde Angelegenheiten In der Milizarmee ist der Bürger gleichzeitig auch Soldat und somit Träger des Widerstandes. Auslandeinsätze leisten der Schaffung einer Berufsarmee Vorschub und schwächen die Milizarmee. Sie führen zur Zweiklassenarmee. Der Zusammenhalt in der Armee wäre gefährdet. In der Folge wür-de die militärische Landesverteidigung den Rückhalt im Volk verlieren. 3. Verhinderung einer zukunftsweisenden Reform der Schweizer Armee Die Auslandseinsätze und die Ausbildungskooperation mit der NATO wollen aus der schweizerischen Milizarmee auf verfassungswidrige Art und Weise eine der NATO unterstellungsfähige Interventions-armee schaffen. Es soll eine NATO-Armee im Taschenformat konstruiert werden. Hauptsächlich aus Profis bestehend und von Profis kommandiert, mit Flugzeugen transportierbar und integrierbar in NA-TO-Strukturen, soll sie im Ausland zum Vasallen fremder Befehlshaber werden. Selbstverständlich: die schweizerische Miliz-Armee muss modernisiert und auf neue Formen von Ge-walt und Krieg ausgerichtet werden. Sie hat sich aber strikte auf das eigene Land zu konzentrieren. Wer die Armee mit militärischen Ausland-Einsätzen rechtfertigen will, leistet der Armee-Abschaffung Vorschub. Die beiden Gesetzesvorlagen bilden die Grundalge für die Armee XXI. Die neue Armee ist so gestal-tet, dass wir zwangsläufig von der NATO abhängig werden. Die Armee wird drastisch verkleinert. Tra-ditionsreiche und über Jahrzehnte gewachsene Verbände sollen der NATO-kompatiblen Brigadisie-rung weiche. Die Gebirgstruppen werden faktisch aufgehoben. Ein Gebirgsarmeekorps zum Schutz der wichtigen strategischen Übergänge wird es nicht mehr geben. 4. Auch "friedensunterstützende" Einsätze führen unvermittelt zu Kampfhandlungen Ein UNO-Expertenbericht, der sogenannte Brahimi-Bericht, hat die "Friedenseinsätze" der UNO wäh-rend der letzten 10 Jahre untersucht. Das Resultat ist vernichtend: Die Mehrzahl der Einsätze ist ge-scheitert. Die UNO-Experten und die NATO verlangen auch für "friedensunterstützende" Einsätze eine "robuste Doktrin": UNO-Truppen müssen jederzeit in der Lage sein, den "Kampf zu führen und den Gegner zu besiegen". Solche Forderungen nehmen endgültig Abschied von der naiven Annahme, es könne unterschieden werden zwischen "friedensunterstützenden" und "friedenserzwingenden" Einsätzen. Auch die Schwei-zer Truppen würden demzufolge den Auftrag erhalten, "den Gegner besiegen zu können". Die Schweiz könnte sich der Forderung nach einer UNO-Interventionsmacht (unter NATO-Kommando!) mit Kampfauftrag nicht widersetzen. Deshalb stellt sich die grundsätzliche Frage: Sollen Schweizer Soldaten in ausländischen Konflikt- und Kampfgebieten eingesetzt werden? Es geht nicht darum, ob Schweizer Soldaten für ausländische Kriegshändel zum Selbstschutz ein wenig bewaffnet werden sollen. 5. Eskalationsspirale führt zu Kriegsabenteuern Beispiele wie Bosnien, Ruanda, Ost-Timor, Somalia oder Sierra Leone zeigen, dass "friedensunter-stützende" Einsätze rasch eskalieren können. Auch für Schweizer Soldaten wäre der Griff zur Waffe unvermeidlich. Wer würde nach den Schüssen noch unterscheiden, ob es nun Notwehr der neutralen Schweiz oder eine Aggression der "fremden Interventionsmacht" war? Die Schweiz würde zur Kriegs-partei. Sie würde ihr Ansehen und ihre humanitäre Tradition als neutraler Kleinstaat verlieren. Ausge-rechnet der Depositärstaat des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) würde endgültig zur Marionette der interventionistischen Grossmachtpolitik. 6. Der Krieg und seine Schrecken "Suchst Du den Krieg, dann kommt er zu Dir!" Jeder Krieg ist begleitet von Grausamkeiten, Schre-cken, Tod und Zerstörung. Uranhaltige Munition, Minen, Splitterbomben und Giftgase kommen zum Einsatz. Neue Waffensysteme werden getestet. Wir haben dazu nichts zu sagen. Die Zivilbevölkerung und die Umwelt leiden. Unsere Söhne und Töchter kommen aus den fremden Kriegseinsatz mit Ver-strahlungen, Leukämie, Vergiftungen, körperlichen und seelischen Schäden oder gar als Tote zurück. Wofür? Und wo Truppen im Einsatz stehen, nistet sich die Prostitution ein. Sie will zusammen mit der Dro-genmafia profitieren. Jede Mutter, jede Frau, jede Freundin muss wissen, dass im Ausland eingesetz-te Soldaten diesen Gefahren ausgeliefert sind. Deshalb geht man nicht unter irgendwelchen Vorwän-den freiwillig zum Krieg. Bewaffnete Auslandeinsätze sind keine Abenteuerferien. Auslandeinsätze sind keine Abenteuerferien. 7. Preisgabe der schweizerischen Neutralität - weniger Sicherheit! Unsere Neutralität hat sich als erfolgreiches Sicherheits- und Friedensinstrument bewährt. Auch für das neue Jahrtausend ist sie hochmodern. Sie verpflichtet unsere Behörden zur konsequenten Nicht-einmischung in fremde Angelegenheiten und zur aussenpolitischen Bescheidenheit. Damit schützt sie Volk und Land davor, ungewollt in internationale Konflikte hineingezogen und erpressbar zu werden. Mit dem Einsatz von Schweizer Soldaten in ausländischen Konflikt- und Kriegsgebieten und mit der Präsenz von ausländischen Soldaten und Kampftruppen in der Schweiz würde die Neutralität ausge-höhlt und schliesslich aufgegeben. Die Sicherheit von Volk und Land würde fahrlässig aufs Spiel ge-setzt. Unsere 200-jährige Friedenstradition auf der Grundlage der Neutralität würde durch Anpasser-tum und modisches Prestigedenken über Bord geworfen. Die Schweizer Armee soll gemäss dem hohlen Schlagwort "Sicherheit durch Kooperation" zusammen mit der NATO 200 bis 300 Kilometer ausserhalb unserer Landesgrenzen den Abwehrkampf führen können. Die Neutralität wäre damit aufgegeben. Und unsere Truppen müssten unter Führung fremder Generäle ihr Leben einsetzen. Im eigenen Land wäre die Armee geschwächt. Möglichen Gefahren auf einheimischen Boden wären wir wehrlos ausgesetzt. Unsere Sicherheit würde fahrlässig aufs Spiel gesetzt. 8. Türöffner-Vorlage für falsche Aussenpolitik Die Militärgesetz-Revision ist die Türöffner-Vorlage für die verfehlte Aussen- und Sicherheitspolitik von Bundesbern: Zunächst soll mit dem Einsatz von Schweizer Soldaten und mit der Präsenz von auslän-dischen Soldaten in der Schweiz der Weg Richtung NATO-Beitritt geebnet werden. Sobald der militä-rische Auslandeinsatz legitimiert ist, wird man auf einen schnellen UNO-Beitritt drängen. Dies mit dem Argument, solche Militäreinsätze würden in der Regel unter UNO-Mandat durchgeführt, und die Schweiz müsse "mitreden" können. Schliesslich soll die Schweiz via politische UNO in die EU einge-bunden werden. Diese falschen aussenpolitischen Ziele werden die Unabhängigkeit, die Souveränität, die direkte De-mokratie und die Neutralität der Schweiz bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln. 9. Preisgabe der Souveränität und Unabhängigkeit Im Widerspruch zur Bundesverfassung setzt die neue Sicherheitspolitik die militärischen Auslandein-sätze an erste Stelle. Die angestrebte sicherheitspolitische Kooperation mit dem Ausland und die NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP) schränken die Handlungsfähigkeit der Schweiz ein. Die Vernetzung wird immer dichter. Die Neutralitätspolitik wird zunehmend abhängig von den Grossmächten. Die Ausrüstung und Bewaffnung sowie die Ausbildungs- und Einsatzdoktrin der Schweizer Armee wird bereits heute aus-schliesslich auf NATO-Interoperabilität (Fähigkeit der Streitkräfte, mit ausländischen Streitkräften zu kooperieren) gedrillt. Schweizer Armeeangehörige sollen die englische Militärsprache lernen. Die Militärgesetzrevision würde die ausenpolitische Kompetenz des Bundesrates auf Kosten der Volksrechte ausweiten. Der internationale Aktivismus, das "Sich-zur-Schau-stellen" und der Bürokra-tismus der Verwaltung werden auf Kosten der Steuerzahler ausgeweitet. Solche Fehlentwicklungen schränken die Souveränität und Unabhängigkeit unseres Landes ein. 10. Missachtung der Bundesverfassung und von Volksentscheiden Das Schweizer Volk hat sich in klaren Volksentscheiden (UNO 1986, EWR 1992, Blauhelme 1994, EU-Beitritt März 2001) zur Unabhängigkeit und zur Neutralität bekannt. Bundesbern wollte ursprüng-lich die Militärgesetzrevision ohne Volksabstimmung durchziehen. Man geht einfach über Volksent-scheide hinweg, als hätten sie nie stattgefunden. Bundesverfassung Art. 173, Weitere Aufgaben und Befugnisse 1 Die Bundesversammlung hat zudem folgende Aufgaben und Befugnisse: a. Sie trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz. Bundesverfassung Art. 185, Äussere und innere Sicherheit 1 Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz. Bundesverfassung Art. 58, Armee 1 Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert. 2 Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Die Vorlage missachtet mit unglaublicher Ignoranz die in der Verfassung definierten Bestimmungen über die Neutralität und Armee: 11. Unverantwortliche Geldverschleuderung Militärische Auslandeinsätze sind eine unverantwortliche Verschleuderung von Steuergeldern. Auf-wand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis. Das Verteidigungsdepartement fordert schon heute Grossraum-Transportflugzeuge, Spezialausrüstungen für Auslandeinsätze, Container usw. - auf Kos-ten der Milizsoldaten und des Auftrages "Landesverteidigung". Der Swisscoy-Einsatz im Kosovo kostete für 15 Monate (bis Ende 2000) gemäss VBS etwa 60 Millio-nen Franken. Ein Swisscoy-Soldat kostet pro Monat gemäss Berechnungen der DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit im EDA) 42'000 Franken, ein Angehöriger des Schweizerischen Katastrophenhilfekorps etwa 12'000 Franken. Für Aufwendungen, die nichts mit den verfassungsrechtlich festgelegten Aufgaben der Schweizer Armee zu tun haben, werden heute schon weit über 100 Millionen Franken pro Jahr ausgegeben. Und dies auf Kosten unserer Verteidigungsarmee. Was für Regierungsmitglieder und reisefreudige Politiker prestigeträchtig erscheinen mag, ist für den humanitären Auftrag der Schweiz kontraproduktiv: Viel wirksamer ist es, die humanitäre Auslandhilfe der zivilen Organisationen - insbesondere der Schweizerischen Katastrophenhilfe - zu verstärken. 12. Der Weg der Schweiz Die immerwährende, bewaffnete Neutralität weist der Schweiz eine besondere aussenpolitische Auf-gabe zu: zivile humanitäre Hilfe, Friedensdiplomatie und jederzeitiger Einsatz des Roten Kreuzes. Es braucht in Europa und weltweit wenigstens ein glaubwürdig neutrales Land, das sich strikte aus frem-den Konflikten und Machtspielen heraushält und unparteiische humanitäre Hilfe leistet, wo Not herrscht. Unser aussen- und sicherheitspolitisches Konzept auf dem Boden der schweizerischen Neutralität muss heissen: - Wir mischen uns nicht in fremde Kriegshändel. - Keine Schweizer Soldaten im Ausland - Keine ausländischen Soldaten in der Schweiz. - Kriegsabenteuer nein - humanitäre Präsenz ja! - 2x Nein zum Militärgesetz

05.03.2001

«Jetzt bodige ich auch noch die Uno»

Blocher nach dem Sieg in der EU-Abstimmung Interview mit dem Blick vom 5. März 2001 Blocher will den aussenpolitischen Durchmarsch: Der Zürcher SVP-Chef möchte den Schwung des Europa-Neins vom Sonntag ausnützen, um auch die Uno zu bodigen. "Vorher höre ich nicht auf!", sagt Nationalrat Blocher im BLICK-Interview. Von Georges Wüthrich Herr Blocher, ist der EU-Beitritt jetzt vom Tisch? Christoph Blocher: Er ist für den Moment vom Tisch. Wie lange? Blocher: In den nächsten zehn Jahren kommt der Beitritt nicht mehr in Frage. Was muss der Bundesrat jetzt machen? Blocher: Er hätte klar sagen müssen, dass er dieses Resultat in dieser Klarheit auch nicht wollte. Er muss jetzt einsehen, dass das Schweizer Volk nicht in die EU will, auch die Westschweizer nicht. Den EU-Mitgliedstaaten muss er jetzt reinen Wein einschenken und das Beitrittsgesuch zurückziehen. Nützen Sie den Schwung gegen die Bewaffnungs-Abstimmung im Juni und gegen den Uno-Beitritt im nächsten Jahr aus? Blocher: Wir werden den Kampf nahtlos fortsetzen. Im Juni geht es um den Nato-Beitritt, und die Uno widerspricht unserer Neutralität. Dummes Zeug. Im Juni geht es nur um die Bewaffnung in Friedenseinsätzen zum Selbstschutz. Blocher: Das sagt man immer. Bei der EU hat man gesagt, es gehe nur um sofortige Beitritts-Verhandlungen, in Wirklichkeit ging es um den Beitritt. Beim Militärgesetz sagt man jetzt, es geht nur um ein wenig Bewaffnung, dabei will man den Nato-Beitritt. Ich bin gegen die Auslandeinsätze, wir haben uns nicht in fremde Händel einzulassen. Sollen Bundesrat und Parlament die Uno-Frage zurückstellen? Blocher: Ich würde mindestens raten, die Sache nochmals anzuschauen. Wie viel Geld hat die SVP gegen die EU-Initiative aufgewendent? Blocher: Es war relativ einfach, die Sache noch zu kehren, weil die riesigen Nachteile der EU immer sichtbarer werden. Ungefähr eine Million Franken. Sie könnten auf dem Höhepunkt des Triumphs jetzt zurücktreten. Blocher: Ich höre erst dann auf, wenn meine Aufgaben gemacht sind: Wenn die Uno gebodigt ist und die Steuern in unserem Land etwa halbiert sind. Macht Sie der Erdrutschsieg im Kanton Aargau rundum glücklich? Blocher: Ein solch erfreulicher Zuwachs birgt auch Gefahren. Die Aargauer müssen jetzt wahnsinnig aufpassen, dass sie nicht übermütig werden und dass sie ihre Arbeit recht machen. Ich hatte als Zürcher Präsident immer Angst vor solchen Zuwächsen.

03.03.2001

Vom christlich Schwätzen

Meine Kolumne in der Zürichsee-Zeitung vom 3. März 2001 Von Christoph Blocher, Herrliberg, Dr. iur., Unternehmer und SVP-Nationalrat Ohne Diskussion wollte das Parlament letzten Herbst seine eigene Entschädigung erhöhen. Obwohl das Volk 1992 eine Erhöhung der Parlamentsentschädigung wuchtig verworfen hatte, erhöhten sich die Parlamentarier ihre eigenen Taggelder einmal mehr, diesmal von 300 auf 400 Franken, und die jährliche Festentschädigung des Präsidenten auf 40'000 Franken pro Jahr. Es war nicht nach dem Programm der parlamentarischen Regisseure, als der die Sache stets auf den Punkt bringende Parlamentarier Mörgeli aus Stäfa beantragte, das Geschäft in einer Diskussion zu behandeln. Es gehe nicht an, "dass das Parlament seine eigenen Entschädigungen mit äusserster Diskretion, ja beinahe verschämt" behandle. Er rief die Problematik in Erinnerung, dass die Parlamentsentschädigung dem Referendum entzogen werde und dass mit der massiven Erhöhung immer mehr auf ein Berufsparlament hingearbeitet werde. Selbstverständlich wurde der Antrag Mörgeli wuchtig verworfen, denn das Parlament ist sich über alle Parteigrenzen hinweg nie so einig, wie wenn es darum geht, seine eigenen Pfründen zu verbessern. Es war dann der damalige erste Vizepräsident, Peter Hess, der mit einem für ihn untypischen Temperamentsausbruch am Fernsehen die Notwendigkeit der Erhöhung der Parlamentsentschädigungen vertrat. Als Mörgeli sagte, die geltenden Entschädigungen seien für ihn - der das Mandat als Drittelamt ausübe - mehr als hoch genug und übertreffe das Gesamtjahreseinkommen vieler Schweizer erheblich, fuhr Hess den jungen Parlamentarier schulmeisterlich an: Mit einem Drittelamt nehme Mörgeli sein parlamentarisches Amt nicht ernst genug, für ihn - Hess - erfordere das ein wesentlich grösseres Engagement! So wollte er das Parlamentsmandat als eine so unheimliche Belastung darstellen, die bei treuer Pflichterfüllung eine andere Tätigkeit praktisch verunmögliche. Hess vergass allerdings zu erwähnen, dass für ihn die spärlich bemessene Freizeit spielend für die Betreuung von über 40 Verwaltungsratsmandaten ausreichte. Es wurde Dezember, und Peter Hess wurde mit einem Glanzresultat zum Parlamentspräsidenten gewählt. Hätte er die hohen Entschädigungen bekämpft, wäre das Resultat wohl schlechter ausgefallen. In seiner Ansprache beschwor er das Gemeinwohl und verurteilte jede Interessensvertretung. Dann folgte die würdige Feier für den Präsidenten. Mit Kutschen und Schimmeln liess sich der höchste Schweizer durch die Hauptstadt seines Kantons fahren. Das sollte die Würde des Amtes unterstreichen, die Würde des Parlamentes, die Würde, die Würde, die Würde... Zwei Monate später erwähnte ein Zeitungsartikel, dass zwei der Firmen, in denen Hess im Verwaltungsrat sitzt, krimineller Machenschaften im Zusammenhang mit dem Zigarettenschmuggel angeschuldigt seien. Hess trat sofort aus den Verwaltungsräten dieser Firmen aus und versprach scheinheilig, dass das Problem der Nichtdeklaration von Verwaltungsratsmandaten - ein völlig unerhebliches Nebenproblem - angegangen werden sollte. Ich rieb mir die Augen: Entweder ist das Geschäftsgebaren dieser Tabakfirmen nicht kriminell, dann hat man aber auch nicht zurückzutreten. Oder diese Tätigkeit ist wirklich kriminell, dann hat man zurückzutreten - vor allem aber als Nationalratspräsident. Nun geht im Bundeshaus das moralische Reinemachen los. Vom Gemeinwohl ist viel die Rede. Es wird so richtig schön geheuchelt. Besonders gut kann dies die Partei mit dem C davor. Ich werde unweigerlich an Zwingli erinnert: "Christ sein heisst nicht christlich schwätzen..."

16.02.2001

«Jetzt predigen Sie wieder den Untergang»

Streitgespräch im Tages-Anzeiger vom 16. Februar 2001 Christoph Blocher im Streitgespräch mit den Initianten Stefan Läubli und Thomas Christen über die Schweiz und die Europäische Union Von Luciano Ferrari Herr Blocher, müssten Sie im Grunde nicht für die Initiative "Ja zu Europa" sein? Christoph Blocher: Wer, ich? Ja, denn gemäss Bundesrat Couchepin ist das Schlimmste, was passieren kann, ein Ja zur Initiative: Dann müsste bereits in 3 bis 4 Jahren über den EU-Beitritt abgestimmt werden, was gemäss Couchepin unweigerlich zu einem Nein führen würde. Blocher: Es wird so viel Taktisches dahergeredet. Richtig ist: Die Initiative muss abgelehnt werden. Sie will die Schweiz in einem Verfassungsartikel verpflichten, "den Beitritt zur Europäischen Union anzustreben". Das heisst, die Befürworter der Europa-Initiative wollen in die EU und zwar sofort. Selbst wenn sie dann hinzufügen, man könne am Ende doch wieder Nein zum Beitritt sagen, dieser Artikel bliebe in der Verfassung. Es geht doch aber zunächst darum, Verhandlungen aufzunehmen. Die Initiative verlangt nicht den EU-Beitritt. Blocher: Doch. Jemand der den EU-Beitritt anstrebt, soll nicht in die EU wollen? Ich verstehe nicht, dass es immer noch Leute gibt, die auf so eine Argumentation hereinfallen. Es ist mir auch nicht klar, weshalb die Initianten nicht dazu stehen, dass sie möglichst schnell der EU beitreten wollen. Stefan Läubli: Wir sagen ganz offen: Wir sind für die EU und wollen ihr auch langfristig beitreten. Wenn man das aber will, muss zuerst verhandelt werden, innere Reformen sind nötig. Das alles braucht Zeit. Mindestens fünf Jahre, wenn nicht noch länger. In dieser langen Zeit können wir noch genauer herausfinden, warum wir - auch Sie - dafür oder dagegen sind, und dann das Volk in Kenntnis der Tatsachen entscheiden lassen. Blocher: Es gibt mit der EU gar nicht viel zu verhandeln. Man kann nur ganz beitreten oder nicht. Man kann über Übergangsfristen oder über die Kommissions-Zusammensetzung reden, aber das ist nicht entscheidend. Wesentlich ist: Ein Beitritt der Schweiz zur EU heisst, den Acquis Communautaire, das heisst das europäische Recht - das heutige und das künftige - zu übernehmen. So steht zum Beispiel fest, dass die Schweizer eine Mehrwertsteuer von mindestens 15 Prozent zu bezahlen haben werden. Thomas Christen: Herr Blocher, Sie reden immer von der Mehrwertsteuererhöhung. Die andere Seite der Medaille aber erwähnen Sie nicht. Die Finanzordnung des Bundes läuft 2006 aus. Auf diesen Termin hin soll es ohnehin zu einer Verschiebung der direkten zur indirekten Bundessteuer kommen. Sie müssen doch konsequent sein und sagen, es wird zu einer Erhöhung der Mehrwertsteuer kommen, aber sie kann sozial verträglich kompensiert werden, etwa durch eine Verminderung der Bundessteuer. Wieso betonen Sie immer nur die Nachteile? Blocher: Wollen Sie denn wirklich, dass die Mehrwertsteuer verdoppelt und die Bundessteuer gesenkt wird? Da würde ja der grösste Teil der Bevölkerung mehr Steuern bezahlen. Zudem glauben Sie doch nicht wirklich, dass diese Mehrwertsteuererhöhung kompensiert würde. Wir müssten ja auch noch jährlich 5 bis 7 Milliarden EU-Mitgliederbeiträge eintreiben. Das sind über 10 Prozent vom heutigen gesamten Bundeshaushalt zusätzlich. Läubli: Richtig ist, dass wir rund 3 Milliarden Franken zahlen müssten. Blocher: Schon 1992 hat der damalige Bundesrat Otto Stich 5 Milliarden berechnet. Heute, neun Jahre später, dürften es mehr sein - wohl eher 7 Milliarden. Läubli: Der Bundesrat kommt im Integrationsbericht auf einen Nettobetrag von 3,125 Milliarden Franken, und es ist klar, dass man in den Verhandlungen über diesen Preis reden müsste - übrigens nur ein Beispiel dafür, dass in Verhandlungen durchaus wichtige Punkte zur Diskussion stehen. Sie betonen aber dauernd die Kosten des Beitritts. Wir müssen doch auch sehen, was die EU in Europa erreicht hat. Die Versöhnung von Frankreich und Deutschland, die Aufnahme von Spanien, Portugal und Griechenland: Das hat zu Wirtschaftswachstum und zu einem generellen Stabilitätsgewinn in Europa geführt, von dem auch wir profitieren. Blocher: Ob der Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg durch die EU gewährleistet wurde, da mache ich gewaltige Fragezeichen. Der Frieden wurde durch die grosse Aufrüstung des Westens gesichert. ich will aber die EU nicht in Frage stellen. Die Mitgliedländer können machen, was sie wollen. Der Fortschritt in Spanien und Portugal ist durch die Demokratisierung und den Fall der Diktaturen ermöglicht worden. Aber auch die Schweiz hat eine Erfolgsgeschichte, die aus der direkten Demokratie und einer eigenen Wirtschaftsordnung besteht, die sie bei einem Beitritt preisgeben müsste. Dazu gehört zum Beispiel der Zinsvorteil gegenüber den anderen europäischen Staaten. Das hiesse heute etwa 2 Prozent höhere Hypothekarzinsen. Christen: Erstens hat sich die Zinsdifferenz zwischen den EU-Ländern und der Schweiz in den letzten Jahren immer mehr angeglichen. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen. Zweitens können weder wir noch Sie heute sagen, was für eine Zinsdifferenz im Jahr 2006 herrschen wird, dem frühestmöglichen Zeitpunkt für einen Beitritt. Aber selbst wenn dann noch eine Zinsdifferenz besteht, gibt es immer Verlierer und Gewinner. Von einem Zinsanstieg könnten alle Sparer, wie etwa die grossen Pensionskassen, profitieren. Auch hier fokussieren Sie auf ein Thema, aber die grossen Zusammenhänge schieben sie einfach ab. Läubli: So profitieren wir schon heute von den Errungenschaften der EU, ohne einen Beitrag zu zahlen. Diese auf das Nehmen beschränkte Haltung aber führt zu einer schleichenden Isolierung der Schweiz und schadet unserem Wirtschaftsstandort. Gerade Sie wissen doch, wie wichtig heute die Netzwerke in Europa sind. Die Schweiz ist nicht mehr gut eingebunden. Ich erinnere etwa an die nachrichtenlosen Vermögen, ans Bankgeheimnis oder an die verzögerte Ratifizierung der bilateralen Verträge. Wenn man wie Sie an die Stärke der Schweiz glaubt, Herr Blocher. Wieso dann diese grosse Angst, sich selbstbewusst in diese Gemeinschaft einzubringen? Blocher: Wir leben ja nicht auf dem Mond in der Schweiz. Das Erfolgsgeheimnis der Schweizer Aussenpolitik ist doch, mit allen Staaten wirtschaftlich, politisch und kulturell freundschaftlich eng zu verkehren. Aber eines dürfen wir nicht tun: die Entscheidungsfähigkeit aus der Hand geben. Die Schweiz kann nur selbstbewusst sein, so lange sie selbst entscheiden kann. Herr Christen, die Hochzinsen führen zu Rezessionen, Wirtschaftseinbrüchen, Arbeitslosigkeit. Der höhere Wohlstand ist weit gehend auch die Folge des Selbstständigseins. Sie sind beides junge Leute: Auch für Sie ist entscheiden können, bestimmen können, zentral. Wären wir in der EU, könnten wir in wesentlichen Sachen nicht mehr selbst entscheiden. Vielleicht können der Bundesrat, Beamte und Diplomaten mitreden. Entscheiden kann, aber sicher nicht das Volk. Christen: Sie sagen, man dürfe die Entscheidungsfähigkeit nicht aus der Hand geben. Aber gerade deshalb muss man dort mit entscheiden können, wo die für uns wichtigen Fragen gelöst werden. Blocher: In Europa mitreden - um in der Schweiz nicht mehr entscheiden zu können! Nehmen wir die Aufhebung des Bankgeheimnisses oder die Sanktionen gegen Österreich: Hätte die Schweiz diese Beschlüsse nicht beeinflussen können, wenn sie EU-Mitglied gewesen wäre? Blocher: Wissen Sie, was im Fall Österreich passiert wäre? Die Schweiz hätte auch mitgemacht. Es ist ja für einen Schweizer unerträglich, wie hier die demokratische Entscheidung missachtet wurde: Da haben die EU-Staaten den Österreichern gesagt: "Diese Regierung dürft ihr nicht einsetzen, sonst boykottieren wir euch." Das tönt doch nach "Kauft nicht bei Juden". Wäre die Schweiz Mitglied gewesen, so hätte bestimmt auch der Bundesrat mitgemacht. Er hätte nicht die Kraft gehabt, sich zu widersetzen. Genauso, wie die Dänen diese Kraft auch nicht hatten. Sie wussten genau, wenn sie nicht mitmachen würden, wären sie an einer anderen Stelle zur Kasse gebeten worden. Denn in der EU geht es permanent um "Kuhhändel". Christen: Zu Österreich gilt es festzuhalten, dass es doch problematisch ist, wenn jemand an die Macht kommt, der mehrmals die nationalsozialistische Politik verharmlost hat. Das schieben Sie immer zur Seite. Mit dem Vorgehen der 14 EU-Staaten waren hingegen auch wir nicht einverstanden, befanden uns aber in sehr guter Gemeinschaft mit den Institutionen der EU. Sowohl die Kommission als auch das EU-Parlament haben von Anfang an gesagt, das Vorgehen sei falsch. Blocher: Nicht die EU-Gremien, sondern die EU-Staaten haben Österreich boykottiert, weil zu einem solchen EU-Beschluss Einstimmigkeit nötig gewesen wäre. Österreich hätte ja in den EU-Gremien selbst auch zustimmen müssen. Das Vorgehen ist undemokratisch. Sie sind ja gar keine Demokraten mehr, wenn Sie so etwas in Schutz nehmen. Christen: Diesen Vorwurf kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Blocher: Bringen Sie den Gegenbeweis. Christen: Als Demokrat will ich doch dort mitbestimmen, wo die wichtigen Entscheide gefällt werden. Ich begreife nicht, dass Sie diese Ebene einfach ausschliessen. Durch die Globalisierung sind die Probleme so gross geworden, dass sie eben nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden können. Deshalb lösen die EU-Staaten diese Probleme gemeinsam, und die Schweiz, mitten drin, muss dann einfach nachziehen. Wir werden fremdbestimmt. Läubli: Wir sehen dies doch jetzt bei der zweiten Runde der bilateralen Verträge. Da hat die EU in den Bereichen organisierte Kriminalität, Flüchtlingsströme und Asylpolitik in den Verträgen von Schengen und Dublin eine Lösung gefunden. Jetzt muss die Schweiz darum betteln, dass Sie diese fixfertigen Lösungen übernehmen kann. Hat so unser Volk noch einen Einfluss? Blocher: Ja, sie ist entwürdigend, diese Bettelei. Aber wir sind nicht gezwungen nachzuziehen. Erst wenn wir in der EU sind, werden wir fremdbestimmt. Das Schengener Abkommen wäre schlecht für die Schweiz. Wir können die Probleme im Flüchtlingsbereich ohne weiteres allein lösen. Dort, wo die Schweiz versagt hat, ist sie selber schuld. Wenn Politiker ein Problem nicht lösen können oder wollen, schieben sie es einfach auf die EU. Ich freue mich zwar über Ihre Schwärmerei, ich war nach dem Krieg auch ein grosser Anhänger dieser Einigungsbewegung, nur hatte ich natürlich ein anderes Europa vor mir. Heute erklärt Kommissionspräsident Romano Prodi, die EU müsse eine Grossmacht werden. Die Schweiz ist in ihrer Geschichte immer gescheitert, wenn sie sich einer Grossmacht anschliessen wollte. Christen: Jetzt predigen Sie wieder den Untergang der Schweiz. Sie sagen, Sie hätten sich die europäische Einigung anders gewünscht und stilisieren die EU zu einer undurchsichtigen Grossmacht herauf. Es ist doch eine Tatsache, dass zumindest die Gründerstaaten der EU seit fast 50 Jahren zusammenarbeiten, und ein Italiener immer noch ein Italiener ist, ein Deutscher immer noch ein Deutscher. Es ist wie 1848, als die Kantone sahen, dass sie die Probleme nicht mehr allein würden lösen können. So entstand die Schweiz, und ein Thurgauer blieb ein Thurgauer, ein Berner ein Berner. Man beschloss einfach, diejenigen Probleme, die man nicht für sich lösen konnte, gemeinsam, auf Bundesebene anzugehen. Jetzt steht nichts anderes zur Diskussion, als eine weitere, europäische Ebene anzufügen, ohne dabei die Schweiz als Staat in Frage zu stellen. Blocher: Damit geben Sie die Selbstbestimmung unseres Landes weit gehend auf. Wenn Sie wollen, dass die Schweiz ein Kanton der EU werden soll, dann sagen Sie das. Wer will die Kompetenzen, die die Kantone an den Bund abgegeben haben, an Brüssel abgeben? Die Schweizer Kantone waren damals - nach einem Bürgerkrieg - nicht überlebensfähig. Die Schweiz aber kann überleben, sie ist wirtschaftlich und freiheitlich sehr gesund. Da geht man doch nicht hin und sagt, wir geben uns auf und werfen uns in die Arme derer, die eine ganz andere Konzeption haben als wir. Darf man ein Nein zu dieser Initiative als Nein zum EU-Beitritt interpretieren oder muss man nicht fairerweise sagen, dass ein Teil des Neins sich nur gegen die sofortige Aufnahme von Verhandlungen richtet? Blocher: Ich hoffe, dass auch viele grundsätzliche EU-Befürworter Nein stimmen werden, wie dies ja auch Bundesrat und Parlament empfehlen. Wichtig ist, dass die Europa-Initiative am 4. März abgelehnt wird. Sicher wird dann das Ergebnis verschieden interpretiert. Die Europa-Initiative will einen sofortigen EU-Beitritt. Wird sie abgelehnt, ist der Beitritt für die nächsten Jahre vom Tisch. Läubli: Richtig, Herr Blocher, wenn die Initiative abgelehnt wird, ist der EU-Beitritt vorerst vom Tisch. Aber die Diskussion über das Verhältnis der Schweiz zur EU wird unweigerlich weitergehen - weil sich zeigen wird, dass sich eine Isolierung der Schweiz nicht auszahlt.

08.02.2001

«Herr Blocher, helfen Sie mit beim Bau von Europa»

Christoph Blocher und Daniel Cohn-Bendit im Streitgespräch über die Schweiz und ihre mögliche Rolle in der Europäischen Union Streitgespräch mit Daniel Cohn-Bendit in der Weltwoche vom 8. Februar 2001 Das Interview wurde von Marc Comina und Jean-Claude Péclet für die Genfer Tageszeitung «Le Temps» geführt und auf Französisch am 28. Januar publiziert. Leicht gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung von «Le Temps». Übersetzung: Jacqueline Meier Daniel Cohn-Bendit, Sie stehen der Europäischen Union wegen ihres Demokratiedefizits kritisch gegenüber. In einem gemeinsam mit François Bayrou erfassten Aufruf schreiben Sie: "Das ist keine Demokratie." Sie behaupten, dass die Bürger Europas nicht mitbestimmen könnten, dass die Distanz zu denen, die sie regieren, zu gross sei, und so weiter. Weshalb sollten die Schweizer ihr Privileg aufgeben und einem Gebilde beitreten, in dem diese Nähe fehlt? Daniel Cohn-Bendit: Wenn die Schweiz der Europäischen Union beiträte, würde ihre politische Kultur deshalb nicht verschwinden, so wenig wie diejenige Frankreichs, Schwedens, Luxemburgs, Dänemarks und anderer verschwunden ist. Zudem handelt es sich beim Gebilde Europa um ein neues, sich im Bau befindendes politisches System. Der Text, auf den Sie anspielen, beruht auf der Tatsache, dass die EU verfassungsähnliche Verträge erstellt hat, die aber nicht den Charakter eines grundlegenden Konsenses aufweisen. Christoph Blocher hat Recht, wenn er die Werte aufzählt, auf denen die Schweiz aufgebaut ist: direkte Demokratie, Dialog zwischen den Minoritäten und so weiter. Genau dies wünsche ich mir für Europa. Im Kampf um eine Verfassung für Europa hätte die Schweiz einen positiven Beitrag zu leisten: Wie kann man dieses politische Gebilde Europa verbessern, damit die Bürger mehr Einfluss auf die Entscheidungen nehmen können, die ihren Alltag bestimmen? Christoph Blocher: Sie sagen, das europäische Gebäude befinde sich im Bau. Während meines Studiums nach dem Krieg war auch ich ein überzeugter Befürworter einer Annäherung der Länder Europas, aber ich habe mich für eine Lösung eingesetzt, die die Identität der Staaten bewahrt. Es ist leider anders gekommen. Cohn-Bendit: Wenn man eine politische Union wie diese schafft, muss man sich immer die Frage nach der Machtverteilung von unten nach oben oder von der Peripherie zum Zentrum stellen. Nichtsdestotrotz: Faszinierend am Erfolg Europas ist die Tatsache, dass es gelungen ist, eine der kriegerischsten Regionen der Welt in einen Hafen des Friedens zu verwandeln. Es hat mehrere Versuche gegeben, Europa zu vereinigen, aber das geschah immer unter der Führung eines Staates mit hegemonialem Anspruch. Nach der Niederlage Deutschlands 1945 und nach dem Zusammenbruch der Kolonialmächte in den fünfziger Jahren hat die EU zum ersten Mal die Voraussetzungen geschaffen, damit eine demokratische Allianz entstehen konnte. Blocher: Das bestreite ich nicht. Aber ich frage mich, ob Europa nicht auch ohne die EU friedlich geworden wäre.Als Churchill nach 1945 zur Annäherung der Völker aufrief, meinte er bestimmt nicht die heutige Form einer Union, und dass Grossbritannien dazugehört, hätte er schon gar nicht gewollt. Er wollte, dass etwas unternommen wird, um den - um in Ihrer Terminologie zu bleiben - Vormachtgelüsten auf allen Seiten ein Ende zu setzen. In diesem Sinne haben Sie Recht: Genau das ist eingetreten. Aber wäre es ohne die EU anders gekommen? Diese Frage muss offen bleiben. Cohn-Bendit: Überhaupt nicht. Die grossen Europäer, die Väter und die Mütter der EU, haben dafür gesorgt, dass es zu einem Austausch zwischen den Ländern kam. Sie waren davon überzeugt, dass die Menschen im Alltag zusammenleben, Geschäfte machen, ihre Kultur austauschen sollten, kurz, dass sie sich im Alltag gegenseitig beeinflussen sollten. Nur so konnte neben ihrer nationalen Identität auch eine gemeinsame Identität und Kultur entstehen, die die Frage nach Krieg oder Frieden immer mehr in den Hintergrund treten liess. Blocher: Es reicht nicht, dass sich Menschen verschiedener Nationalität treffen, damit ewiger Friede herrsche. Anfang der neunziger Jahre hat Jacques Delors, der einer der führenden Europäer war, eine Erklärung abgegeben, die mir die Augen geöffnet hat: Er sagte nämlich, dass die EU mit der direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz kennen, nicht operieren könne und dass ein gewisses Mass an Zentralismus notwendig sei, da sonst die grossen Ziele der Union unerreichbar blieben. Da wurde mir klar, dass es sich hier um einen Franzosen handelt, der so dachte, um jemanden mit einem zentralistischen Denkmuster, dem Föderalismus nicht viel bedeutet. Denken Sie, dass sich die EU in Richtung Föderalismus entwickeln kann? Cohn-Bendit: Der Kampf um eine föderalistische Verfassung ist eröffnet. Im Moment findet die politische Diskussion statt. Es gibt unterschiedliche politische Kulturen, die es zusammenzubringen gilt, um zu einer grundsätzlichen Übereinstimmung zu gelangen. Es ist schwierig, den Ausgang dieses Prozesses vorauszusagen. Ich kann nur meine Position wiederholen: Ich kämpfe für ein föderalistisches Europa, und deshalb halte ich den Beitrag der Schweiz für wichtig. Ich persönlich könnte nur profitieren, wenn Christoph Blocher beim Bau Europas mitmachen würde. Blocher: Wenn die Schweiz EU-Mitglied wäre, würden wir auf derselben Seite kämpfen. Damit hätte ich kein Problem. Aber ich möchte auf den Erfolg Europas zurückkommen, den Sie erwähnt haben, und einen Vergleich anstellen: Auch die Schweiz ist ein Erfolg! Auf politischer Ebene basiert er auf der Freiheit, auf dem umfassenden Stimmrecht, auf dem breiten Spielraum an Entfaltungsmöglichkeiten der Bürger. Unsere direkte Demokratie garantiert dem Bürger ein maximales Mitbestimmungsrecht. Das ist unsere Stärke. Sogar wenn die Regierung schwach war oder den falschen Weg einschlug oder gar Dummheiten machte, gab es immer Bewegungen aus dem Volk, die die Dinge wieder ins Lot brachten. Wunderschön haben das die Schweizer ja während des Zweiten Weltkrieges demonstriert. Cohn-Bendit: Ohne mich auf eine Debatte über diese Zeit einlassen zu wollen, möchte ich doch festhalten, dass damals nicht alles zum Besten stand. Blocher: Jedes Land hat Fehler gemacht, da sind die Schweizer nicht besser als andere. Aber als die Regierung zu wanken begann und sich dem Druck der Achsenmächte beugen wollte, hat das Volk reagiert. Der zweite Faktor ist die Wirtschaft. Wie erklärt man den wirtschaftlichen Aufschwung eines derart armen kleinen Landes? Der Grund ist unsere Verfassung, die wirtschaftliche Ordnung, die wir uns gegeben haben und die typisch ist für ein kleines Land - so konnten wir den Wohlstand für möglichst viele garantieren. Ein EU-Beitritt würde auf beiden Ebenen grosse Opfer verlangen. Cohn-Bendit: Ich möchte mit dem Ende beginnen: Die Welt sieht sich mit Problemen konfrontiert, die kein Land allein lösen kann. Das Klima beispielsweise. Die Schweiz schlägt eine interessante, in gewisser Hinsicht vorbildliche Politik vor zur Reduktion des CO2-Ausstosses. Auch die Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene ist vorbildlich. Aber die Klimakatastrophe kann nur verhindert werden, wenn auf globaler Ebene ein radikales Umdenken stattfindet. Welche umweltbewussten Kräfte können eine kritische Masse bilden, um diese Umkehr herbeizuführen? Ich setze meine grösste Hoffnung in eine entschiedene Haltung der EU, um die Vereinigten Staaten und die südostasiatischen Länder dazu zu bringen, stärker einschränkende Massnahmen in den internationalen Abkommen zu akzeptieren. Wenn die Schweiz EU-Mitglied wäre, würde die EU in diesem Sinne gestärkt. Allein kann die Schweiz in Rio oder Kioto nichts, absolut nichts erreichen, wie vorbildlich ihre Politik auch sein mag. Ihr Einfluss beträgt 0,01 Prozent. Und wenn es uns nicht gelingt, die gegenwärtige Entwicklung des Klimas umzukehren, wird auch der Schnee in den Alpen schmelzen, und zwar für immer. Es geht hier auch um die Identität der Schweizer. Blocher: Es ist richtig, dass der Einfluss der Schweiz auf die Welt trotz ihrer klugen Politik gering ist. Für diese Art Probleme braucht es Koalitionen. Deswegen dürfen wir nicht aufgeben, denn wenn jeder sich hinter seinem Unvermögen versteckt, die Probleme allein zu lösen, unternimmt keiner mehr etwas. Ich möchte hinzufügen, dass wir zu den wenigen gehören, die ihren Verpflichtungen nachkommen. Cohn-Bendit: Aber das bringt nichts. Sie müssen verstehen, dass wir angesichts der Globalisierung verpflichtet sind, Möglichkeiten zur Regulierung zu entwickeln. Der grösste aller Liberalen, Adam Smith, hat schon festgestellt, dass sich die Märkte nicht selbst regulieren. Sie folgen ihrer eigenen Logik, das ist eine Tatsache, die wir berücksichtigen müssen. Die Aufgabe der Politiker ist es, Gesetze einzubringen, damit möglichst viele Leute davon profitieren können. Die Welt funktioniert heute nach den Gesetzen der amerikanischen Wirtschaft, die faszinierende, aber auch abscheuliche Aspekte hat. Es ist für jede Demokratie auf diesem Planeten inakzeptabel, wenn eine Macht die anderen dominiert und ihr ihre Denkweise aufzwingt. Gegen eine solche Macht, die in der Lage ist, ihre Interessen aggressiv zu verteidigen, hätte eine lockere Allianz von Ländern, die sich von Fall zu Fall zu einem Zusammengehen entscheiden, keine Chance. Wollen wir ein Gleichgewicht herstellen in der Welt, brauchen wir eine politische Allianz, die, im Rahmen einer Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten, ein Gegengewicht darstellt. Wie wichtig ist der Euro für die EU? Cohn-Bendit: Ich bin überzeugter Anhänger des Euros. Weshalb? Weil ich es längst nicht mehr lustig finde, dass unsere Länder vom Dollar und der amerikanischen Wirtschaft abhängig sind. Ich bin absolut überzeugt, dass der Euro die dritte oder vierte grosse historische Errungenschaft der EU bedeutet. Wer aber eine gemeinsame Währung will, muss auch eine gemeinsame politische Verantwortung tragen. In dieser historischen Phase befinden wir uns jetzt. Blocher: Ich halte den Euro für den grössten Fehler der EU. Weshalb? Es reicht nicht zu sagen, dass ihr alle nun dieselbe Währung habt. Heute macht jedes Land seine eigene Geldpolitik, die mehr von der Wirtschaft als von der Regierung bestimmt wird. Ich schätze die Währungsautonomie der Schweiz, denn diese ist das Instrument, mit dem wir die Inflation, die Konjunktur und damit den Wirtschaftslauf beeinflussen können. Wenn Sie auf einem heterogenen Gebiet wie Europa nur noch eine einzige Geldpolitik anwenden müssen, haben Sie eine für wohlhabende Gebiete zu schwache Währung und vice versa. Das bringt in beiden Fällen Beschäftigungsprobleme mit sich. Cohn-Bendit: Ich will hier keinen neuen Marxismus predigen und behaupten, dass mit dem Euro alles bestens sein wird. Ich sage, dass der Euro ein erster Schritt in Richtung eines föderalistischen Europa ist. Blocher: Um die Union wieder ins Gleichgewicht zu bringen, werden Sie ein Finanzausgleichssystem einführen müssen. Wollen Sie das? Cohn-Bendit: Ja, das will ich! Blocher: Dann sind Sie nur auf dem Papier ein Föderalist. Cohn-Bendit: Ich bin für den Föderalismus und gegen den Egoismus. Ich bin nicht für einen Föderalismus der Wohlhabenden gegen die Armen. Ich will, dass die reichen Regionen Verantwortung übernehmen für die benachteiligten. Blocher: Um Ihr Ziel zu erreichen, wird der Euro nicht genügen. Sie müssen die einheitliche Währung mit weiteren Massnahmen begleiten. War die Intervention der EU in Österreich richtig? Cohn-Bendit: Ja, sie war eine notwendige Katastrophe. Die einzige Konsequenz war, dass die anderen vierzehn Länder keine bilateralen Kontakte mehr mit ihm hatten. Einfach gesagt heisst das, dass in dieser Zeit weder Jörg Haider noch Wolfgang Schüssel im Elysée beziehungsweise im Berliner Kanzleramt zum Dinner geladen waren. Sonst nichts. Darin liegt die Macht der Europäischen Union: Österreich hat weiterhin teilgenommen am Leben innerhalb der Organisation. Zur Katastrophe: Das Beispiel Österreich hat uns gleichzeitig auf ein Problem hingewiesen, dessen Tragweite erst im Hinblick auf die EU-Osterweiterung ersichtlich wird: Was geschieht, wenn ein Mitglied den demokratischen Konsens verletzt, auf dem die Union basiert? Es ist uns bewusst geworden, dass die europäischen Verträge für solche Fälle keinen Spielraum offen lassen. Stellen Sie sich die Situation vor, dass ein Land der EU beitritt und am nächsten Tag beschliesst, einen Teil seiner Bevölkerung auszuschliessen. Es ist klar, dass die EU in diesem Fall einschreiten können muss. Blocher: Für den Bürger eines kleinen demokratischen Landes wie der Schweiz ist das, was da geschehen ist, unhaltbar. Es hat gezeigt, dass die schönen Werte, die die EU verteidigt, nur eine Fassade waren. Was ist geschehen? Ein Land hat gewählt, es kamen zwei Parteien an die Macht, die den anderen Staaten nicht gepasst haben - unter ihnen solche, die in ihre eigene Regierung Faschisten und Kommunisten aufgenommen haben, also Leute, die moralisch verantwortlich sind für die schlimmsten Verbrechen an der Menschheit. Darüber hat sich niemand aufgeregt. Aber dem kleinen Österreich hat man mit Boykott gedroht, Belgien hat seinen Bürgern empfohlen, nicht mehr in Tirol Ski fahren zu gehen. Entschuldigen Sie, aber eine solche Haltung ist nicht mehr weit von derjenigen entfernt, wo empfohlen wird: "Kauft nicht bei Juden!" Christoph Blocher, wo steht die EU in fünf Jahren? Blocher: In fünf Jahren wird die EU nicht viel anders aussehen als heute. Die Verhandlungen für die Osterweiterung werden im Gange sein, aber die neuen Mitglieder werden noch nicht zugelassen sein. Längerfristig gesehen, in zwanzig Jahren etwa, hat sich die EU möglicherweise, aber nicht sicher in einen viel lockereren Zusammenschluss von Staaten verwandelt, dem in diesem Fall die Schweiz wahrscheinlich angehören würde. Cohn-Bendit: In fünf Jahren werden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik wahrscheinlich EU-Mitglieder sein. In zwanzig Jahren werden wir eine föderalistische EU mit einer Verfassung haben. Es wird etwas Neues sein, mit den Vereinigten Staaten von Amerika nicht vergleichbar, etwas zwischen einem Staat und einem Bündnis. In fünf Jahren wird die Debatte um den EU-Beitritt in der Schweiz in vollem Gange sein. In zwanzig Jahren wird die Schweiz Vollmitglied der EU sein, und Christoph Blocher wird vielleicht sagen: "Es ist ja gar nicht so schlimm, wie ich dachte."