Das Schwabentor
Kolumne in der Zürichsee-Zeitung vom 24. Juni 2000
von Christoph Blocher, Herrliberg
Als siebtes Kind wuchs ich in einer elfköpfigen Kinderschar am Rheinfall auf. Wenn wir Kinder nicht mehr weiter wussten oder unsere Fantasie die Realität entstellte, ermahnte uns der Vater: « Geh zum Schwabentor und lies, was dort steht! » – Gemeint war der Schwabentorturm in der nahen Stadt Schaffhausen, ein mittelalterlicher Turm am ehemaligen Eingangstor der Stadt. Dort findet man am äusseren Torbogen noch heute den Spruch: « Lappi tue d’Augen uf.
Ein Führungsgrundsatz
In meiner wirtschaftlichen Tätigkeit denke ich oft ans Schwabentor: « Lappi tue d’Augen uf! » Wenn wirtschaftliche Modeströmungen die Runde machen – sei es der verlockende Ruf nach « Diversifikation », nach « New Management »; wenn allerlei Globalisierungs-Weisheiten oder immer neue Führungsmethoden mir verlockend den Kopf zu verdrehen beginnen, weil sie die mühsame Lebenswirklichkeit aufzulösen scheinen – dann hat mich der Führungsgrundsatz « Lappi tue d’Augen uf! » wieder auf den Boden gebracht und bis heute vor allerlei Unsinn bewahrt.
Politischer Leitsatz
In der Politik geht es mir ähnlich. Wie oft wird doch – völlig über alle Köpfe hinweg – eine Politik betrieben, die der Lebenswirklichkeit in keiner Weise entspricht. So wird beispielsweise von höchster Stelle verkündet, die Schweiz stehe bezüglich Staatsausgaben weit besser da als andere Staaten. Doch da taucht auf dem Internet eine Statistik der OECD auf, die der Schweiz diesbezüglich einen bedenklichen Platz zuweist. Laut dieser Statistik liegt in der Schweiz der prozentuale Anteil vom Volksvermögen, welcher dem Bürger zur freien Verfügung steht, am negativen Ende der Liste. Wurden in unserem Land 1990 40 % unseres Volkseinkommens durch den Staat der freien Verfügung entzogen, so sind es im Jahre 2000 bereits 50 %! Die Schweiz belegt damit in dieser Bedenklichkeitsrangliste hinter Frankreich mit 52 % und Schweden mit 56 % den dritten Platz. Alle anderen Industriestaaten schneiden weit besser ab. Plötzlich sieht also der « Lappi », der die Augen öffnet, dass die Schweiz in einer wohlstandsgefährdenden Entwicklung steht. Ein Alarmzeichen, müsste man meinen. Eine Einschränkung der Staatsquote drängt sich auf. Staatsausgaben und Steuern sind zu senken. Das verlangt die Aussagekraft dieser Zahlen. Wer die Augen offen hat, erkennt diese soziale Verantwortung. Doch was passiert?
De Lappi tuet d’Auge zue
Wer heute im Internet sucht, findet zwar immer noch die gleiche statistische Darstellung. Doch ein Staat fehlt plötzlich – die Schweiz. Nach Rückfrage auf dem OECD Sekretariat, warum die Schweiz dort nicht mehr erscheine, erhält man die Antwort: Die Schweiz habe diese Statistik ohne Angabe von Gründen zurückgezogen. Also wird selbst der « Lappi », der die Augen auftut, die Wirklichkeit nicht mehr erkennen und bekannt machen können. So können die Politiker weiterhin mit geschlossenen Augen getrost durch das Land ziehen und ihre falsche Politik betreiben in der Hoffnung, die Wahrheit bleibe noch lange unentdeckt. Wir können nur hoffen, dass sie bald am Schwabentor vorbeikommen und wenigstens dort mit offenen Augen lesen: « Lappi tue d’Augen uf! »