Zur 1. Augustfeier 2004 – (200 Jahre nach der Uraufführung Willhelm Tells in Weimar)

Rede von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich der Bundesfeier 2004 in Herrliberg

01.08.2004, Herrliberg

Es gilt das gesprochene Wort

Wir Schweizer feiern auch dieses Jahr den Geburtstag unseres Landes. Nicht an einem zentralen Ort, sondern im ganzen Land verstreut; draussen, in den Dörfern, Quartieren, in Familien und unter Freunden. Darum rede ich – um das zu unterstreichen – heuer in meiner Wohngemeinde. Hier, an diesem prächtigen Ort, mit Blick über den See, hinaus ins Limmatthal bis zum Jura, hinüber in die Innerschweiz, hinein in die Berner Alpen, aufwärts zum Tödi und die Ostschweiz wollen wir die Bundesfeier begehen.

Fahrt aufs Rütli

Die Schweiz feiert heute ihren 713. Geburtstag. Da sind ein paar Jahre zusammen gekommen. Aber veraltet ist unser Land deswegen noch lange nicht. Die Idee einer freien Schweiz ist nämlich zeitlos. Und nicht nur eine Idee, sondern eine Tatsache, die man gar nicht genug feiern kann.

Der 1. August ist wichtig. Vor allem für uns Politiker, damit wir wenigstens einmal im Jahr an unsere Geschichte und den gar nicht selbstverständlichen Freiheitskampf erinnert werden. Drei kleine Talschaften – Uri, Schwyz und Unterwalden – schlossen im August 1291 einen Bund, weil sie sich der Willkür eines fremden Herrn nicht weiter beugen wollten. Weil sie ausgenützt wurden. Weil sie wieder frei sein wollten wie ihre Väter.

Daran sollten wir Politiker denken, wenn wir wieder einmal in Versuchung geraten, die Interessen des Staates den Interessen seiner Bürger vorzuziehen.

Ich bin diese Woche aufs Rütli gefahren, um mir den Wilhelm Tell von Friedrich Schiller anzuschauen. 1804 – exakt vor 200 Jahren – wurde dieses Stück in Weimar uraufgeführt. Schiller hat – ohne je in der Schweiz gewesen zu sein – die Entstehungsgeschichte unseres Landes für dieses Freiheitsdrama gewählt. Ich ging tief beeindruckt vom Ort des Geschehens und dachte mir: Tells Geschichte ist unvergänglich. Die Freiheit – sei es 1291, sei es 1804, sei es heute – muss immer wieder neu erkämpft werden.

Ob weise und abgeklärt, wie der alte Attinghausen in Schillers Drama oder rebellisch wie Willhelm Tell: Dieser Freiheitskampf muss dauernd neu geführt werden.

Der Freiheitsrebell

Die rebellische Haltung macht den Kern des Freiheitskampfes aus. Tell ist ja im Grunde ein unpolitischer Mensch, also auch kein Revolutionär, der seiner Welt eine bestimmte ideologische Prägung verpassen will. Er möchte ganz einfach in Ruhe gelassen werden und seine eigenen Wege gehen – und gesteht dieses Bedürfnis auch allen anderen zu. Ein wortkarger Bergbauer, der gegen seinen Willen zum Freiheitshelden wird, weil er innerlich zur Tat gedrängt wird:

« Was ich mir gelobt in jenes Augenblickes Höllenqualen, ist eine heil’ge Schuld, ich will sie zahlen. » Sein Gegenbild im Schauspiel ist der « weltoffene » Schwätzer, der junge Rudenz, der seinem Onkel, dem Freiherrn von Attinghausen zusetzt, sich nun endlich dem grossen, strahlenden Habsburgerreich anzuschliessen:
« Vergebens widerstreben wir dem König, die Welt gehört ihm, wollen wir allein uns eigensinnig steifen und verstocken, die Länderkette ihm zu unterbrechen, die er gewaltig, rings um uns gezogen? » Wie Sie wissen, Habsburg ist mit Glanz und Gloria untergegangen – die kleine Schweiz nicht.

Nun hat kürzlich ein Professor für mittelalterliche Geschichte festgehalten, der Tell sei eine erfundene Gestalt und historisch « nicht nachweisbar ».

Das ist keine besonders neue Erkenntnis und letztlich eine unbedeutende Frage. Ansonsten halten wir uns an die Verse Gottfried Kellers über das freiheitliche Wagnis der Tellenschüsse:

« Ob sie geschehen? Das ist hier nicht zu fragen;
Die Perle jeder Fabel ist der Sinn,
Das Mark der Wahrheit ruht hier frisch darin,
Der reife Kern von aller Völker Sagen. »

Tell hat die Fantasie der Menschen auch so beflügelt. Sein Freiheitsdrang beseelte die Generationen aller Jahrhunderte. Sei es um 1500, als die Eidgenossenschaft auf dem Höhepunkt ihrer Macht stand, oder im 20. Jahrhundert, als sich in den dreissiger Jahren die Frage nach Anpassung und Widerstand unter ganz dramatischen Vorzeichen erneut stellte.

Ich habe diese Woche auf dem Rütli erleben dürfen, dass auch die heutige Generation sich der Kraft dieser Geschichte nicht entziehen kann.

Nicht nur Schweizer haben sich für diese Figur entflammt. Viele, die sich gegen Unterdrückung und Zwang wehrten, sahen in Tell ein Vorbild und Geistesverwandten. So beschreibt auch der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti seine Begeisterung, wie er als Elfjähriger die Geschichtsbücher von Öchsli verschlingt. Dies geschah mitten im Ersten Weltkrieg. Der Knabe war mit seiner Mutter von Wien nach Zürich geflohen und er las die Schweizer Geschichte ganz unter dem Eindruck seines persönlichen Schicksals.

Canetti schreibt: « Die Freiheit der Schweizer erlebte ich als Gegenwart und empfand sie an mir selber: weil sie über sich bestimmten, weil sie unter keinem Kaiser standen, hatten sie es fertig gebracht, nicht in den Weltkrieg hineingezogen zu werden. » Und kam zum Schluss: « Es war möglich, einen Kaiser loszuwerden, man musste um seine Freiheit kämpfen. »

Freiheitskampf mit sich selber

Es ist schon so: die Freiheit fällt einem nicht einfach zu. Sie muss stets neu errungen werden. Der Kampf für die Freiheit beginnt zuallererst im Kampf mit sich selber. Schillers Stauffacher ringt innerlich um den Wert der Freiheit. Dann bringt ein Gespräch mit seiner Frau Gertrud seinen Unmut und seine Sorgen zutage.

Sie bestärkt Stauffachers inneren Aufstand und gibt ihm den Mut, etwas für die Freiheit des Volkes zu unternehmen. Erst jetzt begibt er sich nach Uri, um mit Gleichgesinnten zu beraten, wie man die Freiheit gegen die Obrigkeit verteidigen könnte. Auch der bittere Monolog Tells in der Hohlen Gasse zeugt von inneren Kämpfen. Hier ist nichts von kommenden Triumphgefühlen zu spüren. Tell vollendet, was ihm Gessler mit seinem Verhalten aufgezwungen hat: Er wehrt sich für die Familie, tötet den Tyrannen und befreit so das Land von seinem Unterdrücker:

« Ich lebte still und harmlos – Das Geschoss
war auf des Waldes Tiere nur gerichtet,
meine Gedanken waren rein von Mord –
Du hast aus meinem Frieden mich heraus-
geschreckt…
Wer sich des Kindes Haupt zum Ziele setze,
der kann auch treffen in das Herz des Feinds. »

Friedrich Schiller schrieb diese Zeilen vor gut zweihundert Jahren. Von Krankheiten geplagt, trotzte er sich den Stoff in seinen letzten Lebensjahren ab. Er wusste sehr wohl um die Sprengkraft seines Stücks und fürchtete deshalb eine Aufführung, weil sie « politisch anstössig » sein könnte.

Der Tell wird dann 1804 doch noch in Weimar inszeniert. Im gleichen Jahr krönt sich Napoleon zum Kaiser der Franzosen, kurz bevor er seine Armeen nach Osten, nach Deutschland, nach dem russischen Zarenreich führte.

Jede Zeit hat ihre « Kaiser »

Napoleon wollte Europa die französischen Ideale « Freiheit und Brüderlichkeit » schenken. Aber zu welchem Preis? Er nahm dafür den Völkern ihre Selbstbestimmung und stürzte seine Nachbarn in einen blutigen Bruderkrieg.

Das war vor zweihundert Jahren. Jede Zeit hat ihre selbst ernannten Kaiser, die man loswerden möchte. Jede Zeit hat ihre « Visionäre », die den Menschen ihre Selbstbestimmung, ihre Freiheit rauben um ihrer vollmundigen « Visionen » willen. Jede Zeit hat « Kaiser », die verführerisch mit Ansehen, Ruhm, Ämtern und Geld winken. Und jede Zeit braucht widerständige Rebellen, die sich keinem Diktat und keiner Versuchung von aussen beugen. Auch dies lehrt uns der Nationalfeiertag, der im Gedenken an den Bundesbrief von 1291 entstanden ist.

Welcher « Kaiser » regiert denn unsere Zeit? Das Streben nach Grösse und Anerkennung, der Wunsch, auch dazuzugehören, der Glanz der Macht, vordergründiges Ansehen – dafür werden viele Kniefälle gemacht, im privaten wie im öffentlichen Leben – auch heute.
Ich überlasse es Ihnen – liebe Mitlandsleute – die Augen offen zu halten. Als Bundesrat kann ich nicht alles sagen, was ich denke, also denken sie ruhig alles, was ich Ihnen jetzt nicht sage.

Schiller hat den ewigen Konflikt – zwischen standhafter Freiheit und übereifriger Anpassung – in zwei Personen verdichtet, im alten Attinghausen und seinem jungen Neffen Rudenz, der sich bereits herausputzt wie ein Habsburger. Einer, der die einfachen Landsleute verachtet und von der grossen neuen, kommenden Zeit träumt, die da am Hofe Österreichs entstehen solle. In diesem Sinne klagt Rudenz seinen Onkel an:

« Habt Ihr nicht höheren Stolz, als hier,
Landammann oder Bannerherr zu sein
Und neben diesen Hirten zu regieren? »

Und es folgen weitere verführerische Worte: Rudenz bezichtigt seinen Onkel, er und seine Mitstreiter handelten egoistisch, sie seien « verstockt » und selber schuld an der Not, die doch so schwer auf den Menschen laste. Ein Wort nur würde genügen und sie fänden Gnade « wie ringsum alle Lande », die auf Habsburg geschworen haben und nun bei den « Edelleuten » sitzen dürfen. Doch der alte Attinghausen widerspricht energisch:

« Wirf nicht für eiteln Glanz und Flitterschein
Die echte Perle deines Wertes hin – . »

Rudenz wird sich am Ende für seine Landsleute, für die Freiheit und gegen Habsburg entscheiden. Auch hier gab eine Frau den Ausschlag, nämlich die von Rudenz geliebte Bertha von Bruneck. Und so schwören schliesslich auf dem Rütli die einfachen Landsleute gegen die verlockenden Herrenbänke, gegen die Unterdrückung und für die Freiheit.

Dichterisch – aber in Übereinstimmung mit dem alten Bundesbrief – tönt dies so:

« Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen. »

Was heisst Freiheit?

Friedrich Schiller hat ein eindrückliches Schauspiel geschrieben, das zumindest mir unter die Haut geht. Als hauptsächlichen Zeugen aus jener Zeit gilt der Bundesbrief von 1291. In diesem stehen die Eidgenossen ein für Freiheit und für Wohlergehen. Ja, für das Wohlergehen des ganzen Völkleins. Und dazu gehört eben auch die Verantwortung. Zuallererst die Verantwortung für sich selbst, so wie Tell es bei Schiller ausspricht: « Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst ».

Es heisst sicher auch Verantwortung tragen für den Rest des Volkes. Im Bundesbrief wird wenig geregelt, nur das Nötigste: Keine fremden Mächte im Land, nur selbst gewählte Richter und gegenseitige Hilfe. Und sonst gilt die Freiheit

Was heisst Freiheit für den Bürger, was für den verantwortungsvollen Politiker? Zum Beispiel für einen Bundesrat? Freiheit heisst Vertrauen in den einzelnen Bürger: Mach, was Du für richtig hältst. Gestalte Dein Leben selber. Der Staat muss sich nicht als Schulmeister aufführen, der die Menschen wie unmündige Zöglinge anweist, was sie zu tun haben, welchen Genüssen sie wo, wie lange frönen dürfen, der sie im Denken kontrolliert, ihre Meinungen vor Gericht zerrt, fünfzig Prozent ihrer privaten Einkünfte wegsteuert, das Schützenwesen kriminalisiert, das Rauchen verbietet, die Werbung beschränkt, das Kinderkriegen zum Politikum macht, die Erziehung verstaatlicht, den Verkehr auf die Schienen zwingt, die Volksrechte an Behörden delegiert, das Gesundheitswesen dem Markt entzieht, sich ungefragt in ausländische Konflikte mischt, kurz: die Freiheit seiner Bürger dermassen einengt, dass sich jeder vorkommt, als ob er in einer verordneten Zwangsjacke leben müsste.

Wenn es schon keine leichte Sache ist, die Freiheit zu erkämpfen, so erscheint es noch viel herausfordernder, die Freiheit mit ihrer ganzen Last der Verantwortung zu tragen und zu erhalten. Sie wird bedroht, nicht bloss von fremden Mächten und Armeen, nein, vielmehr von der eigenen Bequemlichkeit und dem Drang, sich in die Arme eines vermeintlich Grösseren oder Stärkeren zu begeben.

Freiheit heisst auch die Absage an eine staatliche oder politische Ideologie. Freiheit heisst eben auch Freiraum für verschiedenste Lebensformen. Der eine mag es gemütlich, der andere wild. Der eine mag Erdbeeren mit, der andere ohne Schlagrahm. Der eine geht in die Berge wandern, ein anderer reist nach Südfrankreich und ein Dritter zieht eine Schifffahrt auf dem Rhein vor. Der eine mag den 1. August nicht und bleibt zu Hause, der andere kommt sogar nach Herrliberg und sei es nur um eine gute Bratwurst zu erhalten.

Die Höhenfeuer

Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, so werden wir jetzt dann das Höhenfeuer entfachen und viele Höhenfeuer werden in allen Himmelsrichtungen als Zeichen der Verbundenheit grüssen und unser Feuer wird die anderen Dörfer grüssen.

Die Landeshymne wird uns daran erinnern, dass – wer einen 713. Geburtstag feiert – wohl nicht nur die Verdienste auf sich selbst nehmen kann. Wer hier hinausblickt in den Sommerabend, wird erkennen: « Denn die fromme Seele ahnt, Gott im hehren Vaterland. »

Dankbarkeit ist Inhalt jeder Geburtstagesfeier. Dankbar, dass wir es weitergebracht haben. Trotz vieler Schwächen und Versagen. Auch wir haben heute Grund zu danken!

So wollen wir zuversichtlich ins nächste Lebensjahr schreiten. Ich bin überzeugt, dass wir – wenn wir unseren Werken treu bleiben – auch die Geburtstage der kommenden Jahre in Dankbarkeit feiern dürfen.

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