«Unschweizerisch? Sie, Herr Blocher?»
06.01.2005, WochenZeitung (Urs Bruderer und Johannes Wartenweiler)
Herr Blocher, redet man in der Schweiz über die richtigen Probleme?
Zunehmend.
Die letzte grosse Debatte war die Hirschhorndebatte.
Die war für Sie gross. Ich habe sie gar nicht bemerkt.
Wie unterscheidet man kleine von grossen Problemen?
Grosse Probleme haben grosse Auswirkungen, wenn man sie löst. Für die Schweiz wären das zum Beispiel die Sanierung des Bundeshaushalts oder die Reduktion von Abgaben.
Das grösste Problem Ihres Departements ist das Asylwesen. Ihre Bilanz dazu nach einem Jahr fiel – mit Verlaub – heuchlerisch aus. Wir sahen Bilder von Ihnen mit grossen Säulendiagrammen im Rücken, die rückläufige Asylzahlen illustrierten. Doch der Rückgang hat nachweislich nichts mit Ihnen zu tun.
Das Bild habe nicht ich verbreitet. Lassen wir den Herrn Blocher einmal weg. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren haben wir beim Eingang der Asylsuchenden eine bessere Entwicklung als die anderen europäischen Länder. Das befriedigt mich, und das scheint – sage ich vorsichtig – einen schweizeigenen Grund zu haben. Wohl die Folge einer restriktiveren Politik, die nicht nur mein Verdienst ist.
Über den Grund könnte man streiten. Erstaunlich ist, dass ausgerechnet Sie sich hinter Statistiken verstecken und den Blick auf die Realität vergessen. Migration findet statt, Sie aber betreiben Bilanzkosmetik und treiben die Leute, die hierher kommen, in die Kriminalität und in die Schwarzarbeit.
Das behaupten Sie. Wir prüfen jeden Monat, wie viele Illegale in der Schweiz aufgegriffen werden, wie viele davon Nichteintretensentscheide sind und wie viele kriminell sind. Sowohl die Zahl der Aufgegriffenen als auch der Prozentsatz der Kriminellen ist kleiner als gesamthaft bei den Asylsuchenden. Die Dunkelziffer, da gebe ich Ihnen recht, können wir nicht kennen und da können auch Sie behaupten, was Sie wollen. Genau wie Kirchen und die Hilfswerke, die uns nie konkrete Namen und Zahlen nennen.
Vielleicht ist die Behauptung statistisch nicht zu belegen. Trotzdem kann man sich die Realität vor Augen führen, wenn man will. Ihr Motto ist doch «Lappi tue d’ Augen uuf»?
Jawohl.
Wieso haben Sie noch nie ein Asylbewerberheim angeschaut? Wieso reden Sie nicht mit Asylbewerbern?
Ich habe schon viel mit Asylbewerbern gesprochen. Auch Asylheime besucht – allerdings nicht in diesem Jahr, weil ich viel anderes anschauen musste.
Wir sprechen jetzt von Ihrem wichtigsten Dossier.
Darum habe ich auch die meiste Zeit meines Departements damit verbracht.
Sie hatten ein Jahr lang keine Zeit für ein Gespräch mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, einem der wichtigen Player.
Die Flüchtlingshilfe will, dass man über das redet, was klappt: Die Aufnahme und Betreuung der Flüchtlinge. Ich kümmere mich um das, was nicht klappt, und das sind die Leute, die Asyl suchen ohne Asylgrund. Das ist nicht das Dossier der Flüchtlingshilfe, auch wenn sie sich da dauernd einmischt. Ich habe das Gefühl, dass diese Leute keinen Unterschied zwischen echten Flüchtlingen und Asylmissbrauch machen wollen .
Sie schirmen Ihre Leute von der Flüchtlingshilfe ab.
Woher haben Sie diese Erfindung?
Der Besuch des Symposiums, das die Flüchtlingshilfe und die UNHCR in Bern organisierten, wurde Ihren Leuten verboten.
Ich habe die Teilnehmerzahl reduziert. Aber dies ändert nichts daran, dass ich bei Kongressen, Symposien etc. zurückhaltend bin.
Beim Thema Migration haben Sie Angst vor der Wirklichkeit.
Symposien und Kongresse sind nicht die Wirklichkeit. Viele Leute aus der Bundesverwaltung gehen sehr gern an sehr viele Kongresse statt die eigentliche Arbeit zu erledigen. Das ist angenehm, es wird viel gesprochen und wenig Konkretes erreicht.
Wieso gehen Sie dem Gespräch mit der Flüchtlingshilfe aus dem Weg?
Es hatte nicht oberste Priorität. Sie meinen, die Flüchtlingshilfe sei so wichtig? Das ist sie leider nicht. Das Treffen ist auf den Januar 2005 geplant. Leider betreibt die Flüchtlingshilfe vor allem Obstruktion gegen jede Massnahme zur Abhaltung von Leuten, die keine Flüchtlinge sind. Konstruktives ist bis heute nicht gekommen.
Die Flüchtlingshilfe kritisiert einige Ihrer Massnahmen als widerrechtlich.
Wir haben die Kritik geprüft. In einigen Punkten war sie angebracht, da haben wir korrigiert, in anderen Punkten war sie falsch.
Wenn die Flüchtlingshilfe tatsächlich Obstruktion betreiben würde…
Viel Obstruktion, ja.
…dann müssten Sie sich erst recht mit ihr an einen Tisch setzen, um das zu verhindern.
Sie meinen, das sei so. Man muss nicht jede Obstruktion verhindern. Auch darf man sich nicht durch Obstruktion von den Prioritäten abbringen lassen. Bei einem Treffen im Januar werden wir auch darüber sprechen müssen.
In Ihrer Bilanz nach einem Jahr im Bundesrat scheint Sie ihre sonst gesunde Skepsis verlassen zu haben. Kaum kritische Töne, kaum ein Eingeständnis, dass nicht alles lief, wie geplant. Dabei sank zum Beispiel die Glaubwürdigkeit des Bundesrats nach Ihrer Wahl auf ein historisches Tief. Wie erklären Sie sich das?
In meiner Bilanz habe ich fast nur Probleme aufgezählt und allenfalls von ersten Lösungsansätzen gesprochen, euphorisch war das nicht. Zur Glaubwürdigkeit des Bundesrates: Ich glaube das nicht. Man ist für eine Führung oder man ist gegen sie, ihre Glaubwürdigkeit ist nie messbar. Und Glaubwürdigkeit bekommt eine Regierung, die Offenheit zeigt, sagt, was sie denkt und tut, was sie sagt. Dies ist besser geworden!. Der Bundesrat ist offener, man merkt etwas von Auseinandersetzungen.
Der Bundesrat hat die zentralen Abstimmungen verloren. Das Steuerpaket war eine Kanterniederlage.
Für Sie vielleicht.
Nein, für Sie.
In den letzten zwei Jahren hat die Bevölkerung praktisch alles verworfen, was eine Veränderung gebracht hätte. Die sozialdemokratischen Initiativen im Jahr 2003 wurden im Multipack verworfen, aber auch sowohl die Steuersenkungsvorlage als auch die Mehrwertsteuererhöhung.
Die Mutterschaftsversicherung wurde angenommen.
Interessanterweise erstaunlich knapp, obwohl keiner mehr diese Vorlage bekämpfte. Eher eine Blamage.
Sie deuten einen Sieg in eine Blamage um.
45 Prozent und eine Mehrheit der Deutschschweizer war gegen eine Mutterschaftsversicherung, die eigentlich etwas Angenehmes ist für die Menschen. Warum sind die Leute bei allen Veränderungen skeptisch? Vielleicht, weil alles, was in den letzten Jahren beschlossen wurde, schlecht herausgekommen ist. Auch die Einbürgerungsvorlagen hat das Volk übrigens zum dritten Mal verworfen.
Darüber sollte man doch besser schweigen, Herr Blocher.
Natürlich sagen Sie das.
Das haben Sie nach der Abstimmung gesagt.
Ja, und zu Recht, weil das Volk entschieden hat.
Also bleiben wir dabei.
Weil Ihnen das unangenehm ist und sie das Ihren Lesern nicht zumuten wollen!
Sie haben dem Bürokratismus den Kampf angesagt. Das ist sicher nicht falsch, und wahrscheinlich können Sie das auch gut. Aber erstens nervt, wie laut Sie das tun. Und zweitens ist das kein politisches Programm.
Sie übersehen die Ernsthaftigkeit des Anliegens. Ich kämpfe für eine bürgernähere Verwaltung, die weniger Leerlauf produziert. Das gehört zur Führung. Auch eine meiner Aufgaben. Die Presse hat dies anscheinend besonders interessant gefunden.
Kein Wunder, wenn Sie den Journalisten den Begriff der «geschützten Werkstatt» vorwerfen.
Ich habe seit ich in Bern bin, das Gefühl, dass ich in einer geschützten Werkstatt arbeite.
Geschützte Werkstätten sind Einrichtungen für Leute, die auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance haben.
Ich gebe zu, dass es ein lustiger Begriff ist und ich ein Wortspiel gemacht habe. Ich meine den Begriff wörtlich: Abgeschirmt von aussen, von der Realität geschützt. Ihre Auslegung können mir nur böswillige Menschen unterschieben. Wenn ich – um von einem Bereich zu reden, den ich kenne – sehe, welche Massnahmen zur Wirtschaft beantragt oder beschlossen werden, dann muss ich sagen, darauf kann man nur in einer geschützten Werkstatt kommen. Man kann alles beschliessen, wenn man die Welt draussen nicht sehen will.
Nochmals: Beamtenschelte ist kein politisches Programm.
In meiner Bilanz habe ich etwas anderes an den Anfang gestellt. Die materielle Lebensgrundlage eines Landes ist die Wirtschaft. Funktioniert sie nicht, bricht alles zusammen. Da kommen Schwierigkeiten auf uns zu, weil wir nicht mehr so konkurrenzfähig wie früher sind. Der zu grosse, teure Staatsapparat ist ein Grund dafür. Die Steuern und Abgaben, die wir mehr erhöht haben als andere Industriestaaten, sind ein anderer.
Als Empiriker kann man dazu nur festhalten, dass es keinen nachweisbaren Zusammenhang gibt zwischen Wirtschaftswachstum und Staatsquote.
Aber sicher doch.
Die OECD ist der Sache in einer Studie nachgegangen und konnte den Zusammenhang nicht finden.
Welche Studie Sie meinen, weiss ich nicht. Ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsproblemen und Staatsquote ist sehr wohl nachweisbar. Natürlich muss man vergleichbare Staaten nehmen. Dass China ein grösseres Wachstum hat als die Schweiz, ist natürlich nicht nur auf die tiefere Staatsquote zurückzuführen – da haben Sie recht.
Die Studie verglich europäische Länder.
Sie müssen aufs Niveau achten. Auf unserem hohen Niveau kann man weniger wachsen, als auf tieferem.
Es irritiert Sie nicht, dass der empirische Nachweis nicht gelang?
Es ist bekannt, dass jene Länder, die die Staatsbelastung – vor allem für die Firmen – gesenkt haben, eine bessere wirtschaftliche Entwicklung hatten.
Wann ist Ihre Mission erfüllt? Wie müsste die Schweiz aussehen, damit Sie sagen würden, dass es Sie nicht mehr braucht im Bundesrat?
Erfüllt ist eine Führungsaufgabe nie. Das Leben geht weiter, es gibt immer neue Probleme. Wann es ausgerechnet mich nicht mehr braucht, das weiss ich nicht. Ich habe mich zur Verfügung gestellt, ich wurde gewählt, und jetzt mache ich meine Sache, ohne mich zu fragen, ob es auch ginge, wenn ein anderer auf diesem Stuhl sässe.
Ihre Frau und Ihre Parteikollegen preisen Sie öffentlich wie einen Messias. Ist Ihnen das nicht manchmal peinlich?
Davon merke ich nichts. Ich merke mehr von denen, die mich preisen wie den Leibhaftigen!
Ihr Bruder verglich sie mit dem Rheinfall, mit einer Naturgewalt, die einem Volk in der Not erwachsen muss.
Das war ein guter Artikel. Er schilderte damit meine Intuition und Tatkraft und stellte diese dem rein Intellektuellen gegenüber. Viele Leute staunen, was dieser Blocher alles bewegt. Und vieles läuft bei mir – das gebe ich zu – intuitiv. Der Rheinfall ist auch nicht gemacht, er passiert.
Ihre Unbescheidenheit ist unschweizerisch.
Ihnen würde es in den Kopf steigen. Mir nicht. Geben Sie doch zu: Zu achtzig Prozent werden mir Schandtitel und teuflische Eigenschaften angehängt, nicht prophetische. Da soll noch einer unbescheiden werden?
In einem Film haben Sie kürzlich ihre Villa vorgeführt und sich als Schlossherr inszeniert. Glauben Sie, dass die Schweizer das gern sehen?
Vorführung und Inszenierung hassen die Leute wie die Pest. Aber dieser Film zeigt, wie wir leben. Meine Waffe ist Transparenz und Offenheit. Sie stört das, die allermeisten Leute stört das nicht.
Ich fragte Sie nur nach Ihrer Einschätzung der Wirkung beim Publikum.
Das habe ich mir gar nicht überlegt. Wer für Offenheit und Transparenz ist, hat das zu zeigen, was ist, ohne sich zu fragen, was andere denken könnten. Im Film ist auch nichts gestellt.
Wir werfen Ihnen nichts dergleichen vor.
Sie sagen, ich hätte da etwas vorgeführt. Der Filmer hat etwas vorgeführt – unser Leben!
Interessant daran ist, dass ausgerechnet SVP-Bundesrat Blocher eine Tendenz zur Amerikanisierung der schweizerischen Politik fördert. Sie sind auch der erste, der dem Land eine First Lady präsentiert. Machen Sie das bewusst?
Meine Frau ist meine Frau und anscheinend darum interessant. Da kann ich nichts machen. Ausserdem hat sie im Hintergrund immer aktiv politisiert, meine Partei weiss das. Zuerst wollte der Betreffende einen Film über meine Frau machen. Das wollte sie nicht. Dann wollte er einen Film über uns beide machen. Ich fand das gar nicht so dumm. Die Leute sollen wissen, was für eine Frau ein Bundesrat hat. Und die Leute sind – wie Sie auch – voller Vorurteile. Also sagte ich dem Regisseur: « Machen Sie den Film. Sie können drei Monate filmen, was Sie wollen ». Nur zu nahe ran durfte er nicht. Jetzt sieht man halt, wie wir wohnen. Ist das schlimm?
Was wäre zu nahe gewesen?
Ins Schlafzimmer, fand ich, musste er nicht. Ein gestelltes Sofagespräch wäre auch nichts gewesen. Wenn wir einen veritablen Ehestreit gehabt hätten, hätte es diese Szene vielleicht gegeben.
War es unschweizerisch, was Sie da gemacht haben?
Ich habe es nicht gemacht. Er hat es gemacht.
Sie haben Ja gesagt dazu.
Vielleicht ist es unschweizerisch, Ja zu sagen. So unschweizerisch kann es nicht gewesen sein, bei dem unglaublichen Echo, das der Film hatte.
Sie haben im letzten Jahr mehrmals das Konkordanzsystem in Frage gestellt. Wäre es nicht unschweizerisch – oder eine Ironie, wenn ausgerechnet Sie die Abschaffung einer Eigenheit der Schweizer Demokratie herbeiführen würden?
Unschweizerisch? Wenn Sie in der Geschichte zurückgehen, finden Sie, dass es die Konkordanz in der Schweiz erst seit gut 60 Jahren gibt. Heute schaffe ich in dieser Konkordanz und unternehme nichts dagegen. Wenn sie aber unhaltbar werden sollte, weil man einander so wahnsinnig blockieren würde, dann müsste man die Systemfrage stellen. Es haben ja beide Systeme Vor- und Nachteile.