Druck auf die Löhne dürfte zunehmen
Die Schweiz müsse ihren Arbeitsmarkt auch für die neuen EU-Länder öffnen, sagt Bundesrat Blocher. Er plädiert für ein behutsames Vorgehen.
05.07.2005, Tages Anzeiger (Annetta Bundi)
Die SVP lehnt die Ausweitung der Personenfreizügigkeit ab, Ihrer Ansicht nach soll man diesen Schritt wagen: Weshalb?
Blocher: Die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder ist für die Schweiz wirtschaftlich von Vorteil, weil wir unsere Arbeitskräfte damit künftig aus einem grösseren Reservoir rekrutieren können. Das erhöht das Qualitätsniveau.
Die öffnung des Arbeitsmarktes birgt aber nicht nur Chancen, sondern auch Risiken: Wie gross ist die Gefahr, dass Osteuropäer den Schweizern Stellen streitig machen und die Arbeitslosigkeit bei uns wächst?
Blocher: In den zehn neuen Ländern der EU ist das Wohlstandsniveau derzeit relativ tief und die Erwerbslosigkeit hoch. Daher wird unser Arbeitsmarkt mit der Ausweitung der Personenfreizügigkeit sicher etwas unter Druck geraten, das muss man offen sagen. Wir haben aber zahlreiche Schutzmassnahmen getroffen, um diesem Druck entgegen zu wirken. So sollte es möglich sein, einen allzu starken Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Wenn die neuen EU-Länder auch in Zukunft wirtschaftlich stark wachsen, wird dort das Lohnniveau bis 2011 steigen, gleichzeitig werden Arbeitslosigkeit und Migrationsdruck abnehmen.
Müssen wir uns auf eine Nivellierung der Löhne gefasst machen?
Blocher: In gewissen Branchen, etwa im Banken- und Versicherungsbereich oder bei den Ingenieuren und der Industrie, dürfte der Druck auf die Löhne wohl zunehmen. Es wäre daher falsch, Euphorie zu verbreiten. Wir müssen bei der öffnung des Arbeitsmarktes sehr vorsichtig ans Werk gehen, sonst führt dies zu Zuständen, wie wir sie vor der Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative hatten.
Werden Sie sich in den nächsten Wochen für den freien Personenverkehr mit den neuen EU-Ländern einsetzen?
Blocher: Ich bleibe meiner Auffassung treu: Der Bundesrat hat keine Abstimmungskampagnen zu führen. Deshalb werde ich nicht an Podienveranstaltungen teilnehmen und mich auch nicht in eine Kampagne einspannen lassen. Dort, wo ich auftrete, werde ich aber darlegen, wie die Situation ist und warum wir die Ausweitung der Personenfreizügigkeit wagen sollten. Das ist meine Aufgabe.
Ihre Partei, die SVP, ist in dieser zentralen Frage anderer Meinung: ärgert Sie das?
Blocher: Nein. Die Zustimmung zur Personenfreizgügigkeit ist ein Wagnis, da kann man natürlich zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Dass es in der SVP nun zwei Gruppen gibt, muss die Partei ertragen können. Das Schlimmste wäre, wenn sie den Abweichlern einen Maulkorb verpassen würde. Das tut sie nicht. Ich erachte es als Zeichen der Stärke, dass sie eine offene Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern zulässt.
Wäre es sehr schlimm, wenn das Volk die Personenfreizügigkeit ablehnen würde?
Blocher: Das Vehältnis zwischen der Schweiz und der EU würde zweifellos schwierig, das ist klar. Allerdings würde ich nicht von einer Katastrophe sprechen. Wie schlimm ein Entscheid ist, hängt ja auch davon ab, was man nachher daraus macht.
Ende Juli halten Sie auf dem Rütli eine Rede, zum Gedenken an den 1940 von General Guisan verlesenen «Rütlirapport». Werden Sie bei dieser Gelegenheit auf die Personenfreizgügigkeit zu sprechen kommen?
Blocher: Es geht um ein Gedenken an ein wichtiges Ereignis der Schweizer Geschichte. Ich wüsste nicht, warum ich die Personenfreizügigkeit erwähnen sollte.