Die Wirklichkeit als Provokation
Rede von Bundesrat Christoph Blocher beim Schweizer Marketingpreis, am 14. März 2006, im Kultur- und Kongresszentrum Luzern
14.03.2006, Luzern
Luzern, 14.3.2006. Der nachhaltige Erfolg eines Produkts oder einer Sache liegt gemäss Ueberzeugung von Bundesrat Christoph Blocher in der Konzentration auf dessen Qualität. Notwendig sei auch eine schonungslose Analyse des Umfeldes bzw. der Wirlichkeit; dies wirke häufig schon als Provokation, sagte der Justizminister an der Verleihung des Schweizer Marketingpreises in Luzern.
Sehr geehrte Damen und Herren
Haben Sie sich auch schon gefragt, warum gerade eine bestimmte Firma über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg mit Erfolg arbeitet?
Oder weshalb ausgerechnet ein Produkt über so lange Zeit eine beinahe ungefährdete Spitzenposition einnimmt?
Ich gehe davon aus, dass Sie sich diese Fragen öfters stellen. Schliesslich arbeiten Sie im Marketing. Es ist Ihr täglicher Job, mit Ihrer Firma oder dem Ihnen anvertrauten Produkt exakt eine solche beherrschende Stellung im Markt zu erobern.
Sie alle kennen ein paar wenige Erzeugnisse, die scheinbar seit ewigen Zeiten gekauft und genutzt oder konsumiert werden. Ich frage mich beispielsweise, warum ich seit den ersten Lebenstagen bis heute täglich Nivea-Crème nehme? Oder, um zwei berühmte Beispiele aus dem Lebensmittelbereich zu nennen: Warum haben Coca Cola oder der Hamburger von McDonald’s seit Jahren einen solchen Erfolg?
Als ich noch Unternehmer war und nicht Bundesrat, ging ich aus verständlichem Interesse den Gründen des beispiellosen Erfolgs des Hamburgers von McDonald’s nach. (Nur damit es Ihnen klar ist, ich habe keinerlei persönliches Interesse an dieser Firma, aber deren Erfolg hat mich damals als Unternehmer beschäftigt.) Und – wie könnte es anders sein – konzentrierte ich mich zunächst vor allem auf Fragen des Marketings. Ich fragte mich: Macht vielleicht das gigantische Werbebudget den Erfolg aus? – Nein.
Liegt es am unkomplizierten und in diesem Sinn auch familienfreundlichen Aufbau der Lokale? – Vielleicht.
Oder finden wir das Geheimnis in der schlichten Antwort auf ein schlichtes Bedürfnis: Nämlich möglichst schnell einen möglichst satten Bauch zu bekommen?
Warum aber können das andere nicht auch mit dem gleichen fulminanten Erfolg?
1. Konzentration auf Weniges
Keine der Standardantworten konnte mich ganz überzeugen.
Bis mir schliesslich ein amerikanischer Generaldirektor von McDonald’s vor vielen Jahren das Geheimnis anvertraute, ohne vielleicht zu wissen, dass es ein Geheimnis sein könnte.
Ich sage es Ihnen heute weiter, denn ich bin überzeugt, dass, wenn Sie es begreifen und tun, Sie in Ihrem Leben viel, sehr viel Erfolg haben werden.
Nun, was nannte mir der Generaldirektor als Grund: Es liegt in der Konzentration auf das Produkt – hier auf den Hamburger und vor allem an dessen Qualität!
Ich fragte den betreffenden Generaldirektor ungläubig: „Wie bitte, was soll denn so speziell daran sein, etwas Fleisch zwischen das bisschen Brot oben und unten zu klemmen?“ Seine Antwort: „Alles Grosse ist einfach.“
Ja, die Qualität macht’s aus! Selbst bei einem Fastfood-Artikel. Das, was sich von allem anderen abhebt, ist das Bessere. Und dies soll auch bei einem Hamburger, den jeder machen kann, gelten? Sie, als Marketingleute, sind vielleicht von diesem ebenso einfachen Unternehmer-Rezept enttäuscht.
Aber die einfache Antwort und der Freimut dieses Managers widerspiegelten gerade das Selbstbewusstsein seines Unternehmens.
Er schilderte mir, dass für die Herstellung eines Hamburgers nur das beste Rindfleisch verwendet werde. Trotz der niedrigen Endpreise wird an der Qualität nichts abgestrichen. Das gehe soweit, dass die Firma mit eigenen oder zumindest kontrollierten Mastbetrieben zusammenarbeite, die das einwandfreie Rindfleisch für den Hamburger garantieren.
Zum Fleisch gehören die beiden Brothälften. Ein guter Hamburger brauche eben auch besondere Brötchen. Mehl aus einem speziellen Weizen, der von McDonald’s in langer Forschung herausgezüchtet worden sei und der laufend verbessert werde.
So hängt also alles von der Qualität des Produktes ab: Beim Fleisch, beim Weizen, bei den Pommes frites, beim Frittieröl, bei der Hygiene etc. Totale Konzentration auf das Produkt und dessen Qualität. Wer sich während Jahren mit nichts anderem als mit einem Produkt und dessen Qualität beschäftigt, während quasi 24 Stunden am Tag an nichts anderes, als an sein Produkt – hier an einen einfachen Hamburger – denkt, der braucht wahrlich nicht zu befürchten, dass es ihm ein anderer gleich tun könnte. Aber wehe, wenn er sich nicht mehr mit der Qualität beschäftigt, wenn er hochmütig wird, wenn er ausruht: Es wird ihn ein Besserer schlagen.
Diese kleine Geschichte (ich muss hier aufhören, sonst glauben Sie doch noch, ich hätte finanzielle Interessen an McDonald’s) birgt eine Wahrheit. Diese Wahrheit, die da drin steckt, hat mich als Unternehmer, aber auch als Politiker zu einem wichtigen Grundsatz geführt: Nämlich, weg von der Diversifikation – das heisst, weg vom „alles machen, aber nichts ganz richtig“. Das Erfolgsrezept in der Lebensgestaltung, in der Unternehmensführung, in der Politik, wo auch immer Sie tätig sind, heisst: Konzentriere dich auf weniges, auf das, worin du stark bist und du wirst noch stärker und wirst gewinnen.
2. Die Wirklichkeit als Massstab
Die Qualität misst sich immer auch am Erfolg. Was nützt mir die beste Erfindung, wenn sich diese im Markt nicht behaupten kann oder keine Nachfrage dafür besteht. Der Markt ist die massgebende Realität. Man muss den Markt nicht nur studieren. Man muss in ihm aufgehen, seine Bedürfnisse erspüren, seine Launen ergründen, seine Beschaffenheit bis ins kleinste Detail kennen lernen. Sie haben sich – um es kurz zu sagen – bedingungslos seiner Wirklichkeit zu stellen. Ich bin im Verlaufe meiner jahrzehntelangen Arbeit immer mehr zum Schluss gekommen, dass es nur einen Massstab geben kann: die Wirklichkeit. Wenn wir erkennen, was ist – wenn wir benennen, was ist, erhalten wir die beste Basis zum erfolgreichen Handeln.
Nach diesem Prinzip ist übrigens auch in der Politik zu handeln. Wie Sie wissen, bin ich seit gut zwei Jahren im Bundesrat. Meine politischen Gegner nennen dies „einbinden“. Jedes Amt bringt zwangsläufig bestimmte Verhaltensweisen mit sich. Wer in einem Regierungskollegium Einsitz nimmt, kann sich nicht mehr so frank und frei äussern wie als Parlamentarier. So lauten die Gesetze der Politik. Gleichwohl darf das Kollegialitätsprinzip nicht dazu führen, lügen zu müssen. Auch die Politik darf sich nicht an der Wirklichkeit vorbeimogeln wollen. Sie sollte der gemeinsame Nenner sein, denn die Wirklichkeit befindet sich jenseits aller Ideologie und auch jenseits des Parteiengezänks.
Was viele nicht unterscheiden: Die Wirklichkeit benennen heisst ja noch lange nicht, ihr zuzustimmen. Nein, führen heisst oft gerade das, was ist, zu ändern, damit es so wird, wie es sein soll. Ein Unternehmen, das Verlust macht, muss zu einem Unternehmen geführt werden, das Gewinn macht. Aber bevor man dieses Problem lösen kann, muss man die Verlustsituation des Unternehmens, ihre Ursachen und ihre Hintergründe sorgfältig analysieren. Wer das tut, hat mindestens 50% der Lösung. Aber zuerst müssen Sie bereit sein, die Misere zuzugeben, die Wirklichkeit – den realen Zustand – anzuerkennen. Das ist oft nicht einfach. Gerade traditionsreiche Firmen leiden daran, ihren schlechten Zustand nicht zugeben zu wollen, die Verluste zu verdrängen, die Überschuldung zu leugnen. Schon gar nicht wollen sie die Ursachen gestehen, weil die natürlich immer mit Fehlern in der Führung zusammenhängen.
Noch schlimmer ist es bei einem defizitären Bundeshaushalt. Was wird dort verdrängt und beschönigt. Die Regierungen aller Länder sind nie so kreativ, wie wenn sie die defizitäre Lage ihrer Haushalte vertuschen müssen. Die Situation zu analysieren und zuzugeben, dass man defizitär arbeitet, das ist schon viel der Besserung!
Wer das nicht tut, kann nichts sanieren.
Gleich verhält es sich auch bei einem Produkt, das sich nicht verkaufen lässt. Sie kennen alle die wortreichen Erklärungen von Managern: Wir haben ein Spitzenprodukt, das beste überhaupt, aber der Verkauf rentiert nicht. Analysieren Sie warum. Vielleicht liegt es am fehlenden Marketing? Vielleicht sind die falschen Leute beteiligt? Ist es die mangelhafte Qualität? Fragt der Markt gar nicht danach? Sind die Entstehungskosten zu hoch und damit auch der Verkaufspreis? Oder ist halt doch die Konkurrenz besser? Machen Sie eine schonungslose Analyse. Das heisst, schauen Sie genau hin. Nehmen Sie die Wirklichkeit zum Massstab. Seien Sie schonungslos. Auch Ihnen gegenüber. Einer der Hauptmängel in der wirtschaftlichen, aber auch in der politischen Führung und sogar im privaten Bereich liegt nämlich darin, dass man die Wirklichkeit nicht sehen will. Denn die Wirklichkeit ist oft unangenehm und immer unbestechlich.
Nochmals: Sie können nur richtig entscheiden auf der Grundlage der Wirklichkeit, also auf der Basis der verfügbaren Daten, Zahlen, Fakten.
Dieses Recht auf Fakten sollte man in einer Demokratie auch den Bürgerinnen und Bürgern zukommen lassen. Sehr oft treiben wir zu viel Geheimniskrämerei, um die Bürgerinnen und Bürger in einem undurchschaubaren Nebelfeld zu belassen. Dabei vergessen wir, der Bürger ist meistens näher bei der Wirklichkeit als viele Politiker. Der Bürger sieht die Missstände zum Beispiel im Bereich der Steuern, der Abgaben und der Gebühren, weil er sie ja selber bezahlt. Es nützt nichts, ihm eine schöne Statistik vorzulegen, die das Gegenteil beweist. Die Geheimniskrämerei, die ach so edle Diskretion besteht meistens darin, die Wirklichkeit zu vertuschen und zu beschönigen. Auf der Basis falscher Beurteilung der wirklichen Situation kann es nichts Gescheites ergeben. Je länger die Wirklichkeit verfälscht wird, desto grösser wird der Schock, wenn die Wirklichkeit aufgedeckt wird.
3. Die Wirklichkeit als Provokation
Sie fragen in Ihrem Tagungsthema nach dem Zusammenspiel von Marketing und Provokation?
Ich gehöre nicht zu denen, die Provokation von vornherein als etwas Schlimmes bezeichnen. Nein, Provokation – und vor allem eine gute Provokation – kann ein brauchbares Mittel sein, um eben die Wirklichkeit und die Tatsachen darstellen zu können.
Wissen Sie, mich treibt nicht die Provokation als solche an. Was ich aber mit Erstaunen festgestellt habe: Es reicht in unserem auf Verdrängung getrimmten Polit-Betrieb aus, zu sagen, was ist, und schon ernten Sie oft einen Sturm der Entrüstung. Die Darstellung der Wirklichkeit wird bereits als Provokation empfunden. Was nicht sein darf, existiert nicht. Wer dieses Gebot bricht, wird sogleich als unanständig und nicht-konsensfähig gebrandmarkt. Die Moralisten jeder Epoche haben immer versucht, die Diskussion vom Boden der Fakten in die luftigen Höhen der Ethik zu verlagern. Denn nur dort muss man sich nicht den Argumenten und unbequemen Tatsachen stellen.
Das Wort „Provokation“ entstammt dem lateinischem Verbum provocare heraus-, hervorrufen. Die Provokation kann also etwas tatsächlich Vorhandenes, nur eben gut Verstecktes, ans Tageslicht befördern. Die Provokation kann Wirklichkeit freilegen und nur schon deswegen für aufgeregte Reaktionen sorgen. Ein Beispiel gefällig?
Haben Sie gewusst, dass bei einem nicht genannt sein wollenden Bundesbetrieb jeder Arbeitnehmer durchschnittlich 16,5 Tage (Kalendertage) im Jahr fehlt. Ohne Ferien und Feiertage, wohlverstanden.
Wirkt diese Zahl auf sie provozierend?
Was genau provoziert Sie?
Dass dies ein Bundesrat sagt?
Oder provoziert Sie die Tatsache, dass ein Staatsangestellter im Jahr zusätzlich zweieinhalb Wochen nicht am Arbeitsplatz erscheint?
Wie sah Ihr erster Reflex auf diese 16,5 Tage (Kalendertage) aus: Haben Sie ausgerechnet, wie oft Sie letztes Jahr gefehlt haben?
Möchten Sie auch so lange im Jahr nicht arbeiten?
Empfinden Sie gar Neid? Oder wünschen Sie Massnahmen, dass diese Zahl gesenkt wird? Oder finden Sie solche Statistiken nur kleinlich? Dabei möchte ich eines festhalten: Diese Zahl finden Sie im offiziellen Personalbericht. Sie ist nicht erfunden, sondern greifbar, wirklich. Dieser Betrieb beschäftigt ca. 28’000 Menschen. Somit beläuft sich die Gesamtsumme der Absenzen auf 462’000 Kalendertage im Jahr. Das heisst, es bleiben durchschnittlich 1’280 Angestellte permanent krankheits- oder unfallbedingt zu Hause.
Kürzlich erwähnte ich in der Öffentlichkeit diese 16,5 Tage (Kalendertage), verbunden mit der Aufforderung, wir sollten etwas tun, um diese Zahl herunterzubringen. Ein Personalvertreter sagte mir darauf, wir bitten Sie, diese Zahl nicht in der Öffentlichkeit zu nennen. Die Mitarbeiter fühlten sich so nicht wertgeschätzt… Sie sehen: So einfach funktioniert die Wirklichkeit als Provokation!
Warum bringe ich dieses Beispiel? Sicher nicht, um mich über Menschen lustig zu machen, die tatsächlich aus Krankheit der Arbeit fernbleiben müssen. Ich denke nur, dass jeder Betrieb ein Interesse daran hat, dass seine Mitarbeiter gesund sind oder möglichst bald wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren. Wichtig ist: Ein reales Problem muss erkannt und als solches auch benannt werden. Denn nur auf dieser Grundlage können Sie die Dinge ändern.
4. Mut zur Wirklichkeit
Als Winston Churchill mitten im Krieg die Regierungsgeschäfte übernahm, hielt er jene berühmte Antrittsrede, wo er seinen Landsleuten Blut, Tränen, Schweiss und – was oft unterschlagen wird – auch Mühsal versprach.
Normalerweise versprechen Politiker ihren Bürgerinnen und Bürgern lieber Milch und Honig und im Überfluss. Doch Churchill mochte den Engländern nichts vorheucheln, da er genau erkannte, wie es ist und was die Zukunft erforderte. Er wusste: gerade in Notzeiten, in schweren Zeiten ist Klartext vorzuziehen. Darum hat er die Wirklichkeit ausgesprochen, hat die Konsequenzen gezogen und wurde so zur treibenden Kraft, die Europa von der Tyrannei befreite und zur Freiheit führte. Dass er am Ende dieser Tätigkeit in England als Premierminister abgewählt wurde, ist kein Beweis, dass es nicht richtig war, sondern viel mehr ein Zeichen für die Grösse seiner Tat. Er hat der Wirklichkeit in die Augen gesehen. Er hat das Unangenehme ausgesprochen. Er hat darauf beharrt und den Menschen dafür die Freiheit gebracht. Er tat dies alles aufgrund der Wirklichkeit und ohne Rücksicht auf sein eigenes Ansehen.
Diese Haltung ist auch erfolgreich für Marketingleute!
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