150 Jahre Oestlicher Cavallerie-Verein
Jubiläumsansprache von Bundesrat Christoph Blocher 27. Mai 2006, in Wil SG
27.05.2006, Wil SG
Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.
1. Eine persönliche Erinnerung
Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erinnerung und einer persönlichen Bemerkung beginnen.
Wie ja einige von Ihnen wissen, habe ich nach meiner obligatorischen Schulzeit eine Ausbildung zum Bauern absolviert. Sie ist bis heute (bis und mit Bundesrat) der einzige „ordentliche“ Beruf geblieben, den ich gelernt habe. Während meiner Ausbildung zum Landwirt schätzte ich ein Privileg besonders: Die Arbeit mit den Pferden und – in meiner spärlichen Freizeit – vor allem das Ausreiten, der Reitsport. Es war ein spezielles Vergnügen, diese Kraft des Pferdes einerseits in Arbeit oder dann in der Form der Fortbewegung umzusetzen.
So entstand bei mir auch der verständliche Wunsch, im Militärdienst der Kavallerie beizutreten. Was sich als gar nicht so einfach erwies. Denn die Kavallerie war so konzipiert, dass der Dienstleistende ausserhalb der Militärzeit für das Pferd zu sorgen hatte. Das heisst, er hatte für Unterbringung, Pflege und Fütterung zu schauen. So war es wenig erstaunlich, dass vor allem Bauernsöhne der Kavallerie angehörten. Da ich zwar Bauer war, aber ohne eigenen Hof dastand, lehnte das Militär meinen Antrag ab. Trotz meines Versprechens, ich würde das Ross an einem geeigneten Ort platzieren – es blieb bei einem Nein. Sie sehen, ich bin knapp daran gescheitert, Kavallerist zu werden. Sonst würde ich heute hier vielleicht sogar als Mitglied Ihres Vereins sprechen.
Trotz der Enttäuschung bin ich aber damals meiner Pferdeleidenschaft treu geblieben. Denn ich konnte ein Pferd ausreiten, das nicht mir, aber einem Studienkollegen gehörte. Dieser war zwar auch kein Bauernsohn, hatte aber einen reichen Vater, der ihm die Haltung ermöglichte. Der damalige Kollege war der spätere Filmemacher Markus Imhof. Die einen oder anderen unter Ihnen werden seinen Namen kennen. Imhof, der vor allem als Regisseur des Flüchtlingsdramas „Das Boot ist voll“ bekannt wurde, begann seine Karriere mit Dokumentarfilmen. Dazu gehörte auch sein Werk über die berittenen Truppen, das er nach dem Namen und der Nummer seines Pferdes „Ormenis 199+69“ nannte.
Dieser Dokumentarfilm wurde zum regelrechten Skandal, weil er ein ziemlich kritisches Bild über die Kavallerie entwarf und darin die Frage aufgeworfen wurde, ob die Dragoner überhaupt noch zeitgemäss seien. Die Premiere fand 1970 statt, just als die Heeresleitung über die Abschaffung der Reitertruppen diskutierte. Pikanterweise wurde Imhof bei der Realisierung seines Films von den Kavallerieverbänden finanziell unterstützt, die entsprechend sauer auf das Endprodukt reagierten. Sie erwirkten sogar ein Aufführungsverbot. (Ich habe vor drei Jahren die Tellaufführung auf dem Rütli gesponsert. Ich kann Ihnen versichern, dass ich auch sauer geworden wäre, hätte in der Hohlen Gasse plötzlich Gessler den Tell erschossen, statt der Freiheitskämpfer Tell den Tyrannen.)
2. Eine persönliche Bemerkung
Das ist die persönliche Erinnerung. Erlauben Sie mir jetzt noch eine persönliche Bemerkung. Ich habe die teilweise heftigen Auseinandersetzungen rund um den Dokumentarfilm Imhofs erwähnt. 1973 wurde die Kavallerie dann tatsächlich aufgelöst. Die Gründe dafür sind bekannt: Einerseits die Kosten und vor allem fehlte die Einsicht in den militärischen Nutzen von berittenen Truppen. Man hielt sie für eine überholte, eher folkloristische Ausprägung des Schweizer Wehrwillens. Der schnelle Fortschritt in der Waffentechnologie liess die Pferde als überflüssig erscheinen. Das mag auf den ersten Blick schon zutreffen. Natürlich macht es keinen Sinn zu Pferd Panzerbrigaden anzugreifen, wie das die polnische Armee noch im Zweiten Weltkrieg versuchte.
Aber gerade die letzten Jahre zeigten, dass der Kleinkrieg mit teilweise – ich sage jetzt einmal – primitiven Waffen eine Wiedergeburt feiert. In den unwegsamen Gebieten Afghanistans oder Pakistans gehört das Pferd zur Ausrüstung von terroristischen und rebellischen Bewegungen. Denn es bildet einen Gegenentwurf zur hochgerüsteten Militärtechnologie. Der Kleinkrieger setzt auf seine Stärken: auf die Beweglichkeit, Unscheinbarkeit, Unabhängigkeit, auf lokale Kenntnisse – und der Kleinkrieger nützt die Schwächen des Gegners aus. Seine Militärtechnologie ist sicher sehr effizient – solange sie funktioniert. Die enge Vernetzung macht sie aber auch angreifbar. Darum sollte man schon in der Planung vermeiden, verwundbare Zentren zu schaffen, von denen die ganze Verteidigung abhängig ist.
Dezentralisierung, Verantwortung von unten, höchste Flexibilität heissen die zeitgemässen Antworten. Sie merken, dass die zeitgemässen Antworten gar nicht so viel anders sind als in den Jahren der Gründung Ihres Verbandes. Es gibt eben Grundsätze, die Bestand haben.
Nun, ich will an diesem Festtag nicht über mögliche Kriege und Bedrohungen sprechen. Ich will Ihnen ja auch nicht vorsätzlich die gute Laune verderben. Und doch gilt es festzuhalten, dass ihr Verband ohne seine militärische Vergangenheit in der heutigen Form undenkbar wäre. Das werden wir bei der historischen Würdigung noch sehen. Wir sind alle dankbar, dass Sie Ihre Arbeit in den letzten Jahren anders ausrichten konnten: Der Ostschweizer Kavallerieverband nimmt eine zentrale Funktion ein, wenn es um die Förderung und Ausbildung im Reitsport geht. Sie stellen kompetente Instruktoren. Sie bilden Vereinstrainer und Fachpersonal aus. Sie veranstalten Wettkämpfe und jährliche Wettbewerbe. Sie stellen ein breites Angebot von Kursen für Interessierte zusammen. Das ist viel Arbeit und viel Engagement. Was beides nicht selbstverständlich ist. Auch dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung.
3. Aus Eigeninitiative entstanden
Mit rund 20’000 aktiven Pferdesportfreunden stellt der Verband Ostschweizerischer Kavallerie- und Reitvereine die grösste Sektion in der Schweiz. Gegründet wurde der OKV vor 150 Jahren. Damals galt sein Hauptziel der Etablierung von Reitertruppen in der Schweizer Armee. Ausserdem wollte er deren Ausbildung fördern, auch ausserhalb der Dienstzeit. Man hatte festgestellt, dass die Reiterei je nach Gegend sehr unterschiedlich ausgerüstet war und da die Tiere meist nur für die Feldarbeit eingesetzt wurden, mussten zahlreiche Pferde für ungeeignet erklärt werden. Manche waren nicht einmal zugeritten.
Man erkannte also die allgemeinen Missstände in der Reiterei. Es zeugt vom typisch schweizerischen Selbstverständnis, dass man sich umgehend zu organisieren begann und die Verbesserung der Zustände selber in die Hand nahm. Eigeninitiative hiess das Gebot der Stunde. Mit den zahlreichen Reitvereinen sollte das Niveau und damit auch die Wehrfähigkeit der Kavalleristen gefördert werden.
Ich habe es bereits erwähnt, einen Dragoner oder eben „Eidgenoss“ konnte sich nicht jeder „leisten“. Nur unterschied sich die Schweizer Milizarmee dabei von anderen, ausländischen Truppen. Während etwa im habsburgischen Österreich oder in der preussischen Armee vor allem Adelige in der Kavallerie dienten, prägten bei uns die Bauernsöhne die Reitertruppen. Allerdings waren die Reittruppen immer so etwas wie ein Stiefkind in der Bewaffnung. Das hatte durchaus historische Gründe. Schliesslich waren es die alten Eidgenossen, die mit ihren wendigen Fussheeren und ihren Langspiessen das Kriegswesen im Spätmittelalter revolutionierten. Mit ihrer neuen Taktik und Bewaffnung knackten sie die schwerfälligen Reiterheere der Adeligen und bereiteten ihnen blutige Niederlagen. Ausserdem verbanden die alten Schweizer die Reiter nicht zu Unrecht mit den ihnen verhassten Rittern. Erst als die berittenen Einheiten der Tagsatzungsarmee unter General Dufour im Sonderbundskrieg 1847 zu überzeugen vermochten, fand hier ein Umdenken statt.
4. Hohe Kosten
In der Schweiz gibt es bekanntlich erst seit 1848 eine gemeinsame Armee. Früher war die Ausrüstung, Ausbildung und das Stellen von Kontingenten Sache der Kantone. Davon erzählen auch die vielen Zeughäuser in den Städten und auf der Landschaft. In der neuen Bundesverfassung wurde nun festgehalten:
Artikel 18: Jeder Schweizer ist wehrpflichtig.
Artikel 19: Das Bundesheer, welches aus den Kontingenten der Kantone gebildet wird, besteht: a) aus dem Bundesauszug, wozu jeder Kanton auf 100 Seelen schweizerischer Bevölkerung 3 Mann zu stellen hat…
Artikel 20: Um in dem Bundesheere die erforderliche Gleichmässigkeit und Dienstfähigkeit zu erzielen, werden folgende Grundsätze festgesetzt: 1. Ein Bundesgesetz bestimmt die allgemeine Organisation des Bundesheeres. 2. Der Bund übernimmt: a) den Unterricht der Genietruppen, der Artillerie und der Kavallerie, wobei jedoch den Kantonen, welche die Waffengattungen zu stellen haben, die Lieferung der Pferde obliegt.
Wenn hier von „Lieferung der Pferde“ gesprochen wird, dann wird vor allem die Frage der Finanzierung unterschlagen. In dieser Zeit hatte jeder Dragoner sein Pferd sowie einen grossen Teil seiner Ausrüstung selber zu stellen. Das erklärt auch die geringe Zahl der Kavalleristen. Das System der Bundespferde oder eben „Eidgenossen“ lag damals noch in weiter Ferne. Die hohen Kosten einer schlagkräftigen Reitertruppe stiessen in der föderalen Schweiz auf Ablehnung. Erst die Einführung der Bundespferde schuf hier Abhilfe. Ausserdem wurden die Dragoner so zum wohl ausgeprägtesten Mitglied der Miliz, weil sie ja verpflichtet wurden, die Dienstpferde jeweils nach Hause zu nehmen. Mit Recht wird in Ihrer Jubiläumschronik darauf hingewiesen, dass dies für die Armee auch eine Verpflichtung bedeutete: Sie musste sich das Wohlwollen der Vereine und Verbände sichern, weil diese wegen ihrer breiten gesellschaftlichen Verankerung ein hohes politisches Mobilisierungspotenzial besassen. Man kann diese Rücksicht für schädlich halten. Ich erachte sie für äusserst positiv. Es war immer ein Plus der Milizarmee, dass sie von Menschen geprägt wurde, die sonst in einer ganz anderen Lebenswelt standen. Dieser Umstand führte zu einem wohltuenden Ausgleich zwischen zivilen und militärischen Interessen.
5. Die Bedeutung der Vereine
Dass sich 1856 die Reitfreunde in Vereinen zusammenfanden, entsprach dem Geist der Zeit, speziell dem Geist der Schweizer. Es gibt kaum ein Land, das eine derart grosse Vereinsdichte aufweist wie das unsrige. Laut einer Umfrage bezeichnen sich 41 Prozent der Befragten als aktives Mitglied eines Vereins. Allein im 19. Jahrhundert wurden schätzungsweise 30’000 bis 50’000 Vereine gegründet (und zwar ohne die lokalen Sektionen der grossen kantonalen oder gesamtschweizerischen Verbände). Bekannt sind die vielen Musikvereine, Chöre, Schützen- und Sportvereine. Die Vereine bildeten ein wichtiges Rückgrat für den Bundesstaat, der 1848 entstehen sollte. Denn die gemeinsamen Feste, die nationalen Anlässe, die eidgenössischen Wettkämpfe stärkten den Zusammenhalt und förderten die patriotische Gesinnung. In diese Tradition reihten sich auch die Kavallerievereine ein, denen es ja besonders um die Stärkung des Wehrwillens ging.
Sie stehen in dieser Tradition. Ein intaktes Vereinswesen zeugt von einer intakten Gesellschaft. Wo sich die Bürger freiwillig zusammen tun, sich aus Eigeninitiative organisieren, wo mit jungen Menschen gearbeitet wird (sei es im Sport oder in der Musik), wo Frauen und Männer sich engagieren und ihre Freizeit dafür hergeben – dort wirkt die gelebte Gemeinschaft im Kleinen. Und das ist das Entscheidende. Wir sehen, wie der Zusammenhalt in den Dörfern und auf dem Land noch funktioniert und dass diese Bindungen sich in alle Bereiche des Zusammenlebens positiv auswirken. Seit 150 Jahren arbeitet Ihr Verband in diesem Sinn. Und ich hoffe, Sie werden noch lange in diesem Sinn weiterarbeiten. Herzliche Gratulation zu Ihrem Jubiläum.
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