Was es braucht, ist heroische Gelassenheit
Nach der aufgedeckten Verschwörung in London: Wie sicher ist unser Land? Justizminister Christoph Blocher über Lücken im Abwehrdispositiv und wie man sich vor dem Terrorismus schützen kann.
16.08.2006, Weltwoche, Urs Gehriger, Markus Somm
Eine Umfrage von letzter Woche kam zum Schluss: 94 Prozent der Schweizer fühlen sich von islamistischem Terror nicht bedroht. Teilen Sie diese Unbekümmertheit?
Ich gehe davon aus, dass diese Umfrage noch vor den verhinderten Anschlägen von London gemacht wurde. Es ist immer dasselbe: Wenn nichts geschieht, sieht man keine Gefahr, sobald sich hingegen etwas Schreckliches ereignet, neigt man zur Überreaktion. Die islamistischen Terroristen lehnen westliche Werte ab und destabilisieren durch Gewaltakte die Existenz der westlichen Länder vor allem psychisch. Das schwächt das Sicherheitsgefühl und das Selbstvertrauen.
Im Sicherheitsbericht, den Ihr Departement geschrieben hat, steht: Die islamistische Gefahr in der Schweiz nimmt zu. Warum kommt die Botschaft im Volk nicht an?
Nach dem ungeheuerlichen Leid, das die Kriege des 20. Jahrhunderts brachten, können wir Europäer uns nicht mehr vorstellen, dass Konflikte durch Gewalt gelöst werden, also wird das verdrängt. Andere Kulturen denken anders. Also müssen wir uns vorsehen.
Was ist das Rezept dagegen?
Zunächst hat man sich Rechenschaft über sich selbst und den Terrorismus zu geben. Afghanistan, Irak, Libanon, die Attentate von Madrid und London und auch die letzte Woche verhinderten Anschläge zeigen, dass sich ein breites europäisches Friedensgefühl nicht auf die ganze Welt ausdehnen lässt. Die Europäer – und damit auch wir – stellen das Leben stets in den Mittelpunkt. Für das Sterben für die Verteidigung, für Ideale wie Freiheit, Ehre, Identität fehlt dem Westen der Sinn. Noch als ich in die RS ging, lehrte man uns: Das Wesen des Soldaten ist nicht nur, dass er unter Umständen töten muss, sondern vor allem, dass er bereit sein muss, auf „dem Schlachtfeld“ zu sterbern. Diese Art von Opferbereitschaft ist uns heute fremd. Auch den westlichen Armeen. Darauf zielen die islamistischen Terroristen ab. Sie rufen uns zu: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“
Warum ist diese Bereitschaft, sich für ein höheres Ziel aufzuopfern, verloren gegangen?
Die Gründe sind vielfältig. Zusammengefasst sind es die Kriege des 20. Jahrhunderts, die Friedensideale und der Lebenssinn, die dem Leben einen überragenden Wert beimessen. Das ist auch gut so. Aber wenn der Gegner zum Äussersten, zur Aufgabe seines Lebens, bereit ist, um uns zu terrorisieren, müssen wir uns dem stellen. Angst machen ist kein Rezept. Was wir brauchen, ist realistische Aufklärung. Die Kampfmethode des Terrorismus ist das Massaker, das Verüben von Attentaten an zufälligen Opfern in Flugzeugen, U-Bahnen, Hotels, Strassen, Märkten. Terroristen wollen nicht bestimmte Leute treffen, sondern die friedliebende westliche Gesellschaft und ihre Werte. Wir sind davon alle betroffen. Die Gefahr, dass es irgendwo passieren könnte, besteht immer.
Konkret: Wäre die Schweiz im Stande, einen vergleichbaren Anschlag, wie er in London versucht wurde, zu verhindern?
Die Schweiz steht in engem Kontakt mit den Sicherheitsorganen anderer Länder. Gegen die bisher aufgedeckten Gefahren konnten wir ausreichend vorgehen, aber eine Garantie für die Zukunft ist dies nicht.
Führen Spuren aus London in die Schweiz?
Bis jetzt gibt es keine. Die Untersuchungen sind abzuwarten.
Wie schützt sich die Schweiz gegen Terrorismus?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder errichtet man sich den totalen Sicherheitsstaat, dann ist das Bedrohungsrisiko gering. Der Preis dafür ist aber, dass die persönliche Freiheit und die Demokratie zu Grunde gehen. Der totale Sicherheitsstaat ist Unsinn. Die zweite Möglichkeit möchte ich die « heroische Gelassenheit » nennen. Dieser Weg ist schwierig, aber gangbar. Zunächst zur tröstlichen Realität: Das Ziel der Terroristen ist bisher trotz vieler Anschläge nicht erreicht worden: Wohl hat unser Selbstvertrauen gelitten. Aber – und das ist das Wesentliche – unsere Grundwerte sind nicht zerstört, die Existenz der Staaten nicht in Frage gestellt worden. Um solchen Anschlägen nicht psychisch zu erliegen, ist diese Erkenntnis wichtig.
Unser Eindruck: Es bestehen Lücken in der Abwehr.
Der Staat – insbesondere dessen Sicherheitsorgane – muss zeigen, dass er Gefahrenherde eruieren und die Bevölkerung rechtzeitig schützen kann. Dies muss auch geübt werden.
Wer übt was?
Alle Organe, die man zur Krisenbewältigung braucht. Sie üben zum Beispiel, wie man einen Anschlag auf den Bahnhof Zürich verhindern könnte. Sie trainieren Bedrohungsszenarien. Die Polizei spielt eine zentrale Rolle, aber andere Sicherheits- und Hilfsorgane von Bund, Kantonen und Gemeinden, die Wirtschaft und Private sind einzubeziehen. Man übt die Zusammenarbeit mit der Armee. Man übt die Bewachung von relevanten Institutionen. Der Bundesrat hat einen Krisenstab beschlossen, um solche Situationen zu schulen. Diese Bereitschaft ist zu zeigen, gibt Vertrauen und schreckt den Gegner ab. So wie man im Kalten Krieg Manöver durchführte, um unseren Wehrwillen zu demonstrieren.
Von Wehrübungen lässt sich doch kein Terrorist abschrecken. Wo sind die Lücken in der inneren Sicherheit?
Wir müssen unseren Nachrichtendienst verbessern. Er braucht mehr gesetzlich erlaubte Mittel, um präventiv einzugreifen. Da besteht derzeit ein Defizit. Die Vorlage dazu befindet sich jetzt in der Vernehmlassung. Information ist entscheidend. Es gibt zu wenig Möglichkeiten, präventiv gegen den Terrorismus zu kämpfen. Dabei sind wir uns aber bewusst, dass Sicherungen gegen Missbrauch nötig sind. Im Weiteren gilt es, den Medien zu erklären, dass sie eine wichtige Verantwortung tragen. Es ist zwar wichtig, dass sie auf ihre Freiheit pochen, aber Journalisten müssen sich bewusst werden, dass sie von Terroristen missbraucht werden: Terroristen sind auf ein grosses Medienecho angewiesen. Schliesslich hat man sich in der Organisation von Politik und Wirtschaft bewusst zu sein: Zentralisierung erhöht die Gefahr. Dezentralisierung und das Delegieren von Entscheiden vermindert sie.
Wie meinen Sie das? Wollen Sie den Züricher Bahnhof aufteilen oder das Bundeshaus nach Magglingen verlegen? Ein Angriff auf das Bundeshaus wäre ein verheerender Schlag.
Ein spektakulärer Schlag gewiss, der aber nicht zum Untergang dieses Landes führen würde. Die Schweiz könnte weiterexistieren. Darauf kommt es an. 26 Kantonsregierungen und starke autonome Gemeinden könnten vorerst handeln. Das meine ich mit « heroischer Gelassenheit ».
Nachbarländer beklagen sich immer wieder, die Schweiz sei eine Insel, auf der die organisierte Kriminalität und das weltweite Verbrechertum zu leicht und zu ungestört Unterschlupf finden. Was unternehmen Sie dagegen?
Die Revision des Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit – BWIS II – schafft eine Verbesserung, indem wir den Sicherheitsdiensten effizientere Mittel in die Hand geben, präventiv zu handeln. Zum Vorwurf der ausländischen Staaten, wir seien eine Insel, frage ich stets: « Sagt mir wo und inwiefern. » Es kommt in der Regel nichts Konkretes als Antwort. Die Behauptungen treffen nicht zu, aber jeder Hinweis wird ernst genommen.
Aber sicher gibt es Defizite.
Wo denn?
Zum Beispiel Terrorismus im Internet. Ich gebe zu, hier besteht Verbesserungsbedarf. Wir hatten einen Fall von Aufruf zu Gewalt gegen die Schweiz im Internet: der Fall des ägyptischen Ex-Obersten Ghanam, der auf al-Quaida-Websites zum Angriff auf die Schweiz aufforderte.
Wann wird er ausgeschafft?
Hier liegt die Crux. Er ist ein Flüchtling, jetzt kann man ihn nicht in sein Land Ägypten zurückschicken. Darum hat das EDA ein anderes Land zu suchen.
Der Fall Ghanam ist nicht der einzige. Letzten Herbst hat die Weltwoche einen Fall aufgedeckt, bei dem von Computern der Uni Genf aus während Monaten massenhaft Terrorpropaganda – Köpfungsvideos, Aufruf zum Mord und Gewaltverherrlichung – auf Terrorwebsites aufgeladen wurden. Weder die Uni Genf noch die Behörden hatten davon eine Ahnung.
Es trifft zu, dass unsere Stellen auf den Fall Genf aufmerksam gemacht wurden. Leider kann nicht das ganze Netz kontrolliert werden. Darum sind wir auf Hinweise angewiesen. Wichtig ist, rasch zu reagieren. Das hat die Polizei gemacht und die Verdächtigen umgehend identifiziert und festgenommen. Im Fall Genf handelte es sich um ein Forum, das auf einem japanischen Server gespeichert war. Solche Foren gibt es Tausende. Die Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internet-Kriminalität überwacht systematisch bestimmte Inhalte des Internets. Besteht Handlungsbedarf, leitet sie die Information an die Strafverfolgungsbehörden weiter.
Aber hier besteht ein klares Defizit. Die Behörden haben keine aktiven Fahnder, die die internationalen Terrorwebsites kontrollieren. Dabei wäre es mit relativ wenig Aufwand machbar. Offensichtlich nimmt man das Problem des Internetterrors überhaupt nicht ernst. Dabei bestätigen Cyberexperten, dass das Internet längst zentrale Plattform für Rekrutierung und Verbreitung von terroristischem Gedankengut ist.
Ich kenne Ihre Experten nicht. Die Spezialisten bei fedpol arbeiten international stark zusammen. Auch arabische Websites werden anlassbezogen – das heisst bei einem Verdacht oder bestimmten Ereignis – kontrolliert. Das Internet sollte man aber nicht überbewerten. Die gefährlichen terroristischen Verbindungen erfolgen diskreter. Das Risiko des Internets besteht in der Verbreitung terroristischer Ideen, die zur Radikalisierung führen können. Wer über das Internet auftritt, läuft aber das Risiko, dass man ihn kennt.
Wenn man nach den Tätern sucht, was in der Schweiz offensichtlich kaum geschieht.
Lesen Sie den Bericht « Innere Sicherheit Schweiz » und diejenigen der bestehenden Dienste Koordinationsstelle Internet-Kriminalität (KOBIK) und Melde- und Analysestelle Informationssicherheit (MELANI). Dann sehen Sie, dass man sehr wohl nach diesen Leuten sucht. Verbesserungen sind aber unumgänglich. Unsere Hauptlücke besteht zur Zeit darin, dass wir in der Informationsbeschaffung gesetzlich zu sehr eingeschränkt sind. Deshalb haben wir die Gesetzesrevision BWIS II ausgearbeitet, die unter anderem vorsieht, dass künftig auch vertrauliche Teile des Internets kontrolliert werden können.
Im Volk regt sich allerdings grosser Widerstand dagegen.
Man hat Angst vor der Beschränkung der Freiheit und vor Bespitzelung. Diese Angst muss man ernst nehmen. Sie ist mit dem vorliegenden Entwurf aber unbegründet.
Was sind die Kernelemente des neuen Gesetzes?
Frühzeitige Information ermöglicht rechtzeitiges Handeln: Wir müssen in der Lage sein, frühzeitig zu erkennen, wer allenfalls ein Attentat oder eine Gewalttat plant. Die erste Vorlage ging zu weit, sie hätte zu viele Missbräuche ermöglicht, darum habe ich sie zurückgewiesen. Jetzt liegt eine freiheitlichere Version zur Vernehmlassung vor.
Was ging Ihnen in der ersten Fassung zu weit?
Die ganze organisierte Kriminalität war darin enthalten. Die jetzige Vorlage ist beschränkt auf Terrorismus, Proliferation und militärischen und politischen Nachrichtendienst. Nur dort soll präventive Aufklärung mit den neuen Mitteln möglich sein.
Und welche Mittel hätte man unter dem neuen Gesetz konkret, um dagegen vorzugehen?
Liegt ein Verdacht auf eine konkrete Gefahr vor, muss ein Antrag gestellt werden. Dieser wird durch das Verwaltungsgericht auf Rechtmässigkeit geprüft. Ist diese gegeben, kann der Chef des EJPD – also nicht der Nachrichtendienst oder das Bundesamt für Polizei – die Bewilligung etwa zur Abhörung erteilen. Wird die Rechtmässigkeit in Frage gestellt, muss der Gesamtbundesrat entscheiden.
Braucht es dieses Gesetz tatsächlich? Könnte man nicht auf bisheriger rechtlicher Basis mit effizienterer Arbeit genau so viel erreichen?
Natürlich kann man die Arbeit immer verbessern. Aber ich bin tatsächlich der Meinung, dass wir hier eine Lücke haben. Dahingehend zielen auch die Vorwürfe aus dem Ausland – nicht ganz zu Unrecht.
Wer hat sich prominent beklagt?
Nach dem 11. September 2001 kam seitens der Amerikaner der Verdacht auf, Terroristen hätten sicher viel Geld auf Schweizer Konten. Mittlerweile haben wir alles intensiv überprüft. Diesen Vorwurf konnte die Schweiz entkräften. Für Terroristen ist Geld nicht die Hauptvoraussetzung. Sie kämpfen mit wenigen Mitteln sehr effizient.
Im Juli haben Sie ein Kooperationsabkommen mit den USA unterzeichnet. Was bringt das der Schweiz?
Dieser Staatsvertrag setzt das deutliche Zeichen, dass wir nach dem Auslaufen des bisherigen Operative Working Agreements (OWA) die Zusammenarbeit mit Amerika bei der Bekämpfung des Terrorismus weiterführen wollen. Es ist klar geworden, dass das nur auf die Anschläge vom 11. September 2001 zugeschnittene OWA zu eng ist. Neue terroristische Anschläge oder Terrorismusfinanzierungen kann es nicht auffangen. Deshalb muss es durch eine neue, breitere Vereinbarung ersetzt werden. Das entspricht auch dem Willen des Bundesrats. Es gibt den Generalstaatsanwaltschaften der Vertragspartner die Möglichkeit, in jeder Strafuntersuchung zur Bekämpfung des Terrorismus und dessen Finanzierung solche gemeinsame Ermittlungsgruppen einzusetzen.
Ist das ein fairer Deal oder spielt die Schweiz in erster Linie Wasserträger für die USA?
Es ist ein fairer Deal, der selbstverständlich auch im Interesse der Schweiz liegt. Wichtig ist aber wie bei jedem Abkommen, dass diese gegenseitige Hilfe nicht missbraucht wird.
Nach dem ersten Abkommen sind Vorwürfe laut geworden, US-Sicherheitsexperten hätten sich nach Belieben mit Dokumenten bedient und schrankweise Akten kopiert.
Diese Vorwürfe wurden im Detail von der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts abgeklärt, und es wurde festgestellt, dass keine solchen Missbräuche vorgekommen sind. Sie müssen wissen: Immer wenn in der sensiblen internationalen Zusammenarbeit zusammengewirkt wird, muss entsprechend instruiert und geführt werden, dann halten sich die Teilnehmer auch an die Regeln. Das ist allgemein so, das war unter dem alten Abkommen so, und es muss auch unter dem neuen so sein.
Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen der Schweiz und den USA?
Ich erfahre sie als gut. Wir haben die gleichen Zielsetzungen, was den Terrorismus anbelangt. Aber wir sind von einander unabhängige Rechtsstaaten. Uns ist die Neutralität wichtig, wir haben auch unsere eigenen Interessen zu vertreten. Wir behalten unsere Souveränität. Wenn wir darauf pochen, wird das auch vom grossen Amerika estimiert.
Der Ruf des Schweizer Inlandgeheimdienstes ist ambivalent. Sind Sie mit dem Dienst zufrieden?
Bei allen Nachrichtendiensten auf der Welt ist der Ruf ambivalent. Schauen Sie die Auseinandersetzungen im Ausland an! Das liegt in der Natur der Sache. Darum müssen die Nachrichtendienste gut geführt sein. Der Schweizer Inlandnachrichtendienst DAP arbeitet professionell und seriös. Er hat international einen guten Ruf.
Was sagen Sie zum Fall des « Moscheespions » Covassi? Er behauptet, er hätte im Auftrag des DAP den Leiter des Genfer Islamzentrums mit illegalen Mitteln in Verruf bringen sollen.
Dieser Fall wurde im EJPD im Detail überprüft. Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass bei uns ungesetzliche Handlungen begangen wurden. Im Übrigen untersucht auch die Geschäftsprüfungsdelegation den Fall, wir warten das Ergebnis ab.
Was ist denn das für ein Nachrichtendienst, der mit solch angeblich dubiosen Leuten kooperiert?
Das liegt im Wesen des Metiers. Nachrichtenträger brauchen Kontakte in oft dubiose Kreise. Wer hat denn Kontakte mit dem Drogenmilieu? Zum Beispiel Leute, die sich dort auskennen. Das Risiko muss man in Kauf nehmen.
Können Sie sich einen Einsatz der Armee im Rahmen der Terrorbekämpfung vorstellen?
Die Polizei steht ganz klar im Vordergrund. Erst wenn die Kapazität der Polizei überschritten ist, kann die Armee aufgeboten werden. Damit müssen wir rechnen.
Wäre es nicht sinnvoll, die Schweizer Armee auch dort einzusetzen, wo Terrorismus entsteht, konkret in Afghanistan, wo die Taliban wieder erstarken?
Abgesehen davon, dass es unsicher ist, ob die Strategie, in anderen Ländern grossflächig einzugreifen, den Terrorismus bezwingt, kommt dies für den neutralen Kleinstaat keinesfalls in Frage. Aber das Geschehen beschäftigt: Trotz gewaltiger technologischer und finanzieller Überlegenheit ist es dem Westen bisher nicht gelungen, sich in Afghanistan und Irak militärisch durchzusetzen. Das Konzept hoch Hightech-Kriegsführung mit starker Luftüberlegenheit, mit anschliessend wenig Bodentruppen und sehr geringen eigenen Verlusten, ist gescheitert. Der Westen muss sich etwas anderes einfallen lassen.
War der Irak-Krieg ein Fehler?
Die USA waren überzeugt, dass er zu führen ist. Es ist nicht an einem schweizerischen Bundesrat, darüber zu urteilen.
Was kann der Westen tun, damit Iran die Atombombe nicht baut?
Alles, was er kann. Es ist zu hoffen, dass es nicht zum Krieg führt.
Afghanistan, Irak, eventuell Iran: Hat George W. Bush auf der ganzen Linie versagt?
Ein schweizerischer Bundesrat ist nicht dazu da, um öffentlich über fremde Regierungen zu Gericht zu sitzen. Aber man darf festhalten: Obwohl die USA die Hauptzielscheibe der Terroristen sind, konnte Präsident Bush nach dem 11. September 2001 einen weiteren Anschlag verhindern. Im Übrigen ist seine Wirtschaftspolitik beeindruckend. Das Wachstum ist hoch, die Arbeitslosigkeit sehr tief: Das ist sozial.
Angenommen, die Strategie der Amerikaner, die Terroristen vor Ort kriegerisch zu bekämpfen, wäre erfolgreich: Müsste sich die Schweiz nicht beteiligen – mit Truppen, mit eigenen Soldaten? Schliesslich profitieren auch wir davon.
Eine Beteiligung der Schweiz kommt grundsätzlich nicht in Frage, gleichgültig ob man direkt oder indirekt vom Ausgang profitiert. Neutralität heisst, in Konflikten nicht Partei zu nehmen. Einfach ist das nie.
Wir sind Trittbrettfahrer. Die Niederlande kämpfen in Afghanistan, Dänemark schickte Truppen in den Irak. Und was tun wir?
Ein Kleinstaat muss nicht tun, was alle machen, sondern seine Besonderheiten anbieten – ohne je für eine Seite Partei zu nehmen. Das ermöglicht es der Schweiz, sich in grossem Masse humanitär zu betätigen. Ich erinnere an das Internationale Rote Kreuz. Aber auch die Guten Dienste etc.
Das IKRK wird zu einem grossen Teil von den USA finanziert – was das IKRK nicht daran hindert, der amerikanischen Regierung zum Dank regelmässig die Leviten zu lesen.
Gemessen an unserer Grösse ist der Beitrag der Schweiz ans IKRK enorm. Auch ich sehe mit Besorgnis, dass das IKRK nicht mehr immer so neutral auftritt, wie es meiner Meinung nach sollte. Doch sein Ruf ist intakt: In manchen Krisengebieten war das Rote Kreuz die einzige Organisation, die vor Ort helfen konnte.
Reicht das? Während andere bluten, schicken wir den Verbandskasten. Das wirkt egoistisch.
Die Neutralität ist oft unangenehm. Jede Partei reklamiert, dass man nicht auf ihrer Seite steht. Darum muss man die Neutralität oft erklären. Auch das ist nicht neu. Die Amerikaner hatten im Zweiten Weltkrieg grosse Mühe mit der schweizerischen Neutralität, während Winston Churchill viel Verständnis dafür zeigte. Der Staat Schweiz – nicht so die Bürger, die nicht neutral sein müssen – hat sich nicht einzumischen, so unangenehm dies oft aus innen- und aussenpolitischen Gründen ist. Es bedeutet, die Nerven zu behalten.
Wenn sich zwei streiten, kann man gut abseits stehen. Aber der Terrorismus ist eine Herausforderung neuer Art, die auch uns betrifft. Gegenüber Verbrechern darf man nicht neutral sein.
Der Terrorismus ist nicht eine Partei, sondern eine Kampfmethode, neuerdings eine Strategie. Neutral ist man zwischen Partnern!
Glauben Sie im Ernst, Neutralität schütze vor Terrorismus?
Soweit Terrorismus Ausfluss von internationalen Konflikten ist, wird die Schweiz nicht in solche Konflikte hineingezogen. Wir können zwar nie ausschliessen, dass es bei uns zu einem Anschlag kommt, aber sicher ziehen wir ihn nicht an. Hinter dem Terrorismus steht meistens auch eine Auseinandersetzung zwischen Staaten. Denken Sie an die Konflikte im Nahen Osten. Für wen hätten wir denn im Libanon-Konflikt eindeutig Partei ergreifen sollen?
Die Stellungnahmen des EDA klangen weniger neutral.
Die Position des Bundesrates war über jeden Zweifel erhaben. Selbstverständlich ist es nicht unsere Aufgabe, zu entscheiden, ob ein militärischer Einsatz eines Landes verhältnismässig ist oder nicht. Offen ist, wie wir uns als Neutrale zu verhalten haben, wenn ein Staat sich mit einer Terrororganisation wie der Hisbollah in einem anderen Staat bekriegt. Das sind neue Formen. Gerade der Libanon-Krieg zeigt unsere einzigartigen Möglichkeiten als neutrales Land auf. Das Rote Kreuz war anfänglich die einzige mögliche Hilfe. Darum hat der Bundesrat unverzüglich 5 Millionen Franken für Soforthilfe gesprochen. Ich bin der Meinung, wir sollten uns für Gespräche zur Verfügung stellen, sogar mit terroristischen Organisationen. Das ist schwierig, weil alle überzeugt sind, dass man mit solchen Organisationen nicht redet. Gerade darum sollte man das tun.
Können Sie sich vorstellen, mit Hamas zu reden?
Wer weiss? Natürlich braucht es stets Kontakt und Einverständnis auch der Gegenpartei. Und ein Erfolg muss mindestens möglich sein. Wenn es nötig ist, kommt nur der Neutrale in Frage, weil er keine direkten Interessen vertritt.
Ist der Westen verantwortlich für die missliche Lage im Nahen Osten? Haben wir den Terror verdient?
Es liegt nicht an der schweizerischen Regierung, für andere Staaten Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Es ist auch müssig, jetzt darüber nachzudenken, was alles falsch gelaufen ist: Mit Ihren Fragen mögen sich Historiker beschäftigen. Für mich gilt: Wir müssen Land und Bevölkerung schützen. Punkt.
Eben hat jemand anderer, Günter Grass, seine Vergangenheit bewältigt und seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS zugegeben. Ist im Hause Blocher ein Säulenheiliger vom Sockel gestürzt?
Ich habe ihn nie gemocht. Und ich kann nicht verstehen, wie einer ein ganzes Leben lang so tun konnte, als ob er die grosse Ausnahme gewesen sei. Mit achtzig Jahren kommt er und behauptet, das habe jetzt einmal raus müssen – und sagt das noch wie ein Held. Als ich das gehört habe, dachte ich: Es gibt schon nichts Neues unter der Sonne.