Mit gespanntem Auge…

Referat von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich der Einweihungsfeier des Bundesverwaltungsgerichts, am 12. Januar 2007, in Bern

12.01.2007, Bern

Bern. An der Einweihungsfeier des Bundesverwaltungsgerichts würdigte Bundesrat Christoph Blocher die grosse Aufgabe, die dem neuen Gericht bevorstehe. Gute Gerichte seien ein wesentliches Element der für die Bürgerinnen und Bürger sowie für die Unternehmen notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen. Unparteilichkeit, Bezug zum Leben, speditives Handeln seien für das Vertrauen von grosser Bedeutung.

Herr Präsident des Bundesgerichts,
Herr Präsident des Bundesverwaltungsgerichts,
Herr Präsident des Bundesstrafgerichts,
Sehr geehrte Richterinnen und Richter,
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der parlamentarischen Kommissionen sowie der Kantone Bern und St. Gallen,
Frau Regierungsrätin,
Meine sehr verehrten Damen und Herren

Vor genau 132 Jahren, am 12. Januar 1875, hat sich der damalige Bundesgerichtspräsident Blumer mit den folgenden Worten an die Mitglieder des neuen Bundesgerichts in Lausanne gewandt: « Das Schweizervolk blickt mit gespanntem Auge auf (Ihre) bevorstehenden Entscheidungen hin; es erwartet von (Ihnen), dass (Sie) in unbefangener und objektiver Weise Verfassung und Gesetze in ihrem wahren Sinne und Geiste handhaben und, unbeirrt durch politische, religiöse oder soziale Parteiungen, einfach Recht sprechen. »

Der 12. Januar 1875 galt der Einweihung des Bundesgerichts. Der 12. Januar 2007 gilt der Einweihung des Bundesverwaltungsgerichts. Es ist das erste eigenständige Verwaltungsgericht des Bundes mit einer umfassenden Zuständigkeit für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten. Mit seinen rund 330 Mitarbeitenden ist das Bundesverwaltungsgericht das grösste Gericht auf Bundesebene.

* Im Wesentlichen überprüft das Bundesverwaltungsgericht Verfügungen von Verwaltungsstellen des Bundes. Es tritt damit an die Stelle der bisherigen eidgenössischen Rekurskommissionen und Beschwerdedienste der Departemente. Das Bundesverwaltungsgericht schützt die Bürger vor der Willkür des Staates;
* denn mit der Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts erhalten die Bürger und Bürgerinnen das Recht, Rechtsstreitigkeiten mit der Verwaltung vor ein verwaltungsunabhängiges und unparteiisches Gericht zu tragen.
* Das Bundesverwaltungsgericht ersetzt aber nicht nur die bisher zur Verwaltung gehörenden Rekurs- und Beschwerdeinstanzen, sondern soll auch das Bundesgericht entlasten. Als Vorinstanz des Bundesgerichts übernimmt das neue Gericht eine vollständige Rechts- und Sachverhaltsprüfung. Das Bundesgericht kann sich somit auf eine Prüfung der Rechtsfragen beschränken.
* Und schliesslich entlastet das Bundesverwaltungsgericht auch den Bundesrat von Justizaufgaben. Der Bundesrat soll nur noch dort entscheiden, wo es um überwiegend politische Fragen geht.

Die Justizreform

Das Volk hat im März 2000 Ja gesagt zu einer grundlegenden Neugestaltung des schweizerischen Justizsystems. Das Ziel dieser Reform besteht darin,

* den Rechtsschutz zu verbessern,
* das Bundesgericht funktionsfähig zu erhalten
* und die Grundlagen für ein einheitlicheres schweizerisches Prozessrecht zu schaffen.

Totalrevision der Bundesrechtspflege

Ein Teil der Justizreform, nämlich die Totalrevision der Bundesrechtspflege ist mit dem Inkrafttreten des Bundesgerichts- und des Verwaltungsgerichtsgesetzes auf den 1. Januar dieses Jahres abgeschlossen.

Bereits vor zweieinhalb Jahren konnte in Bellinzona die Einweihung des Bundesstrafgerichts gefeiert werden.

Seit Anfang dieses Jahres präsentiert sich auch das Bundesgericht in Lausanne in einem neuen Kleid. Durch die Integration des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in Luzern hat es einen zusätzlichen Standort in der Innerschweiz erhalten.

Mit dem Umzug des Bundesverwaltungsgerichts nach St. Gallen in rund vier Jahren wird dann das Gleichgewicht in der Gerichtslandschaft des Bundes hergestellt sein. Dadurch wird auch räumlich die nötige Distanz zur Regierung und zum Parlament in Bern geschaffen werden.

Vereinheitlichung des Prozessrechtes

Auf Kurs ist zudem die Vereinheitlichung des Straf- und Zivilprozessrechts:

* Der Ständerat hat in der Wintersession 2006 den Entwurf zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung verabschiedet. Ziel ist es, diese bis Ende Legislatur zu Ende zu beraten und auf 2010 in Kraft zu setzen.
* Der Bundesrat hat im Juni letzten Jahres zudem die Botschaft zum Schweizerischen Zivilprozessrecht verabschiedet. Ziel ist, diese bis Ende Legislatur im Erstrat zu verabschieden, so dass diese ebenfalls 2010 in Kraft treten könnte.


Grosse Aufgabe

Geschätzte Gerichtsleitung, verehrte Richterinnen und Richter, liebe Mitarbeitende des neuen Gerichts, Ihnen steht eine grosse Aufgabe bevor. Sie tragen viel Verantwortung.

* Es warten über 10’000 Fälle pro Jahr auf Sie. Ferner gilt es, über 30 verschiedene Rechtskulturen zusammenzuführen und effiziente Arbeitsabläufe zu schaffen. Sie sind aufgerufen, die bisherigen Gärten und Gärtchen hinter sich zu lassen und zum Erfolg des Ganzen Ihren Teil beizutragen.
* Ein Gericht, das qualitativ hoch stehende Urteile fällt und Verfahren nicht verschleppt, geniesst bei den Bürgerinnen und Bürgern, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft hohes Ansehen und Vertrauen. Sie sind dafür gewählt worden, ein solches Vertrauen zu gewährleisten.
* Das Verwaltungsrecht stellt an die Lebenserfahrung der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter und ihre Fähigkeiten zur Erkennung und Würdigung praktischer Lebensverhältnisse sehr hohe Anforderungen. Ich wünsche Ihnen bei Ihrer Aufgabe den nötigen Sachverstand.
* In etwa der Hälfte der Fälle entscheiden sie gar als einzige und letzte Gerichtsinstanz. Dies betrifft beispielsweise das Asylwesen. Hier ist die Verantwortung besonders gross, weil die Präjudizwirkung sehr wohl bedacht sein will.

Vertrauen in die Gerichte erhöht die Verlässlichkeit der Rechts- und Geschäftsbeziehungen. Gute Gerichte sind ein wesentliches Element der für die Bürgerinnen und Bürger sowie für die Unternehmen notwendigen institutionellen Rahmenbedingungen. Unparteilichkeit, Bezug zum Leben, speditives Handeln sind für das Vertrauen von grosser Bedeutung.

Verantwortung für die Gerichte heisst aber auch, demokratische Entscheide anzunehmen. Ein wichtiger Testfall für das Verhältnis der Gewalten wird beim Bundesverwaltungsgericht die Frage sein, wieweit es bei der Prüfung der Angemessenheit gehen wird. Die Angemessenheitsprüfung stellt eine schwierige Aufgabe, ja eine Gratwanderung dar. Nimmt das Bundesverwaltungsgericht diese Kompetenz allzu zurückhaltend wahr, muss es sich den Vorwurf der Rechtsverweigerung gefallen lassen. Interpretiert es hingegen seine Überprüfungsbefugnis zu weit, riskiert es, selber Politik zu betreiben.

Viele Fragen sind heute noch offen. Die besorgten Bürger fragen:

* Werden sich der Rechtsschutz und die Rahmenbedingungen für Private und auch für wirtschaftliche Unternehmen verbessern?
* Funktioniert das Justizsystem auf Bundesebene effizienter?
* Wird staatliches Handeln schwieriger werden?
* Wird gar der Leviathan gefesselt?
* Soll etwa gelten « Fiat Justitia – pereat mundus »?

So kann ich Ihnen nur mit auf den Weg geben, was ebenfalls am 12. Januar – aber vor 132 Jahren – gesagt wurde: « Das Schweizervolk blickt mit gespanntem Auge auf (Ihre) bevorstehenden Entscheidungen hin; es erwartet von (Ihnen), dass (Sie) in unbefangener und objektiver Weise Verfassung und Gesetze in ihrem wahren Sinne und Geiste handhaben und, unbeirrt durch politische, religiöse oder soziale Parteiungen, einfach Recht sprechen. »

← retour vers: Articles