Genf und die EU – Chancen, Stärken, Gefahren
Referat von Bundesrat Christoph Blocher an der SVP Informationsveranstaltung vom 27. Juni 2007, in Genf
27.06.2007, Genf
Genf. Anlässlich einer SVP-Informationsveranstaltung ging Bundesrat Blocher den wichtigsten Wert eines Staates ein: die Selbsbestimmung. Wäre in der Abstimmung von 1992 der EWR-Beitritt angenommen worden, hätte die Schweiz ihre Souveränität verloren. Die vergangenen 15 Jahre hätten gezeigt, dass die Schweiz sehr wohl ohne den EWR überleben könne. Insofern hätten sich die damaligen apokalyptischen Voraussagen als Fehlprognosen erwiesen.
Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.
Sehr geehrte Damen und Herren
1. EWR 1992 – eine Schicksalsabstimmung
Die wichtigste Abstimmung für die Schweiz war 1992: Die Frage, ob wir dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beitreten wollen oder nicht. Der EWR war der Vorhof zum EU-Beitritt. Hätte die Schweiz ja gestimmt, wären wir heute Mitglied der EU. Wir hätten den wichtigsten Wert eines Staates verloren: Die Selbstbestimmung.
Warum war die EWR-Abstimmung so entscheidend?
Der EWR-Vertrag war ein Vertrag, bei dem wir dem Vertragspartner das Recht überlassen hätten, über uns zu bestimmen und die Schweiz hätte alles akzeptieren müssen. Der EWR gleicht einem Mietvertrag, worin weder die Höhe des Mietpreises, noch die Nebenkosten, noch die Benützung der gemeinsamen Waschküche, noch sonst ein Bereich festgeschrieben wäre. Niemand würde privat einen solchen Vertrag unterschreiben, oder würden Sie einen Vertrag unterschreiben, in dem der andere Vertragspartner neue Bedingungen diktieren und abändern könnte und sie müssten diese Änderungen kommentarlos schlucken? Der EWR war ein solcher Vertrag – er gleicht durchaus einem Kolonialvertrag. Glücklicherweise hat das Volk und 2/3 der Kantone 1992 die Gefahren des EWR erkannt und Nein gesagt.
2. Die Untergangspropheten sind kraftvoll widerlegt
Trotz dieser Mängel: Sämtliche Parteien, Medien, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Hochschulprofessoren waren für den EWR. Man machte der Bevölkerung Angst. Sie prophezeiten den wirtschaftlichen Niedergang der Schweiz. Der Niedergang Genfs insbesondere. „Ohne EWR kann die Schweiz nicht überleben“, tönte es beispielsweise aus Luzern.
Wie die meisten Propheten wurde auch dieser Prophet durch die Zukunft widerlegt.
Wenn die Schweiz Nein sage zum EWR, werde die Schweiz verarmen. Sie werde in wenigen Jahren die EU auf den Knien bitten, ihr beitreten zu dürfen, sagte ein ranghoher Staatssekretär.
15 Jahre sind vorbei. Wir stehen aufrecht.
Die apokalyptischen Voraussagen über eine Schweiz ohne EWR haben sich als gigantische Fehlprognosen erwiesen. Die Schweiz hat ohne EWR mehr als überlebt. Sogar sehr gut überlebt! Die Schweiz konnte ihren Wohlstand gerade ausserhalb von EWR und EU behaupten. Die Schweiz ist gerade von EU-Bürgern zum bevorzugten Wohn- und Arbeitsplatz geworden. Offenbar sehnen sie sich nach der freien, neutralen und unabhängigen Schweiz.
* Kürzlich hat eine Studie des World Economic Forum (WEF) ergeben: Die Schweiz ist das wettbewerbsfähigste Land der Welt. Dank EWR-Nein.
* Jedes Jahr verlegen Hunderte Firmen ihren Sitz in die Schweiz. Weil oder obwohl wir nicht Mitglied der EU sind. Weil wir andere, bessere Bedingungen bieten können als unsere Nachbarstaaten.
* Im März 2007 sind die Bewilligungen für Daueraufenthalter aus der EU innerhalb von 41 Minuten ausgebucht gewesen. Das waren alles EU-Bürgerinnen und Bürger, die im Nicht-EU-Land Schweiz arbeiten wollen.
Nicht das EWR-Nein, sondern der spätere Beitritt zu Schengen und die Personenfreizügigkeit geben heute zu Sorgen Anlass.
* Obschon die Schweizer Wirtschaft im letzten Jahr rund 50’000 neue Stellen geschaffen hat, ist nämlich die Zahl der Arbeitslosen praktisch gleich hoch geblieben. Durch die Personenfreizügigkeit sind diese Stellen problemlos besetzt worden.
* Der Druck auf die Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat namentlich in den Grenzgebieten massiv zugenommen. Das neue Grenzgängerstatut wirkt sich aus. So auch in Genf.
3. Warum Selbstbestimmung?
Warum ist die Souveränität für einen Staat wie die Schweiz so wichtig? Nur der souveräne Staat kann seine Zukunft selbst bestimmen. Gibt man die Souveränität preis, bestimmen andere.
Die Schweiz hat eine direkte Demokratie. Sie ist einzigartig. Was ist das Wesen der direkten Demokratie? Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen auch in Sachfragen die Politik. In keinem Land der Welt haben die Bürgerinnen und Bürger so viel zu sagen wie in der Schweiz. Oder anders gesagt: In keinem Land der Welt haben die Politikerinnen und Politiker so wenig zu sagen wie in der Schweiz.
Was zeichnet den Schweizer Sonderfall sonst noch aus?
Die Neutralität. Sie ist historisch gewachsen. Unsere Neutralität ist nicht nur eine leblose juristische Definition. Die Neutralität atmet fünfhundert Jahre Geschichte. Was sich fünfhundert Jahre bewährt hat, kann so schlecht nicht sein.
Für den Kleinstaat Schweiz ist die Neutralität die beste aussenpolitische Maxime.
Neutralität heisst: Nicht einmischen, nicht Partei ergreifen, aber Hilfe anbieten für alle.
4. Föderalismus – die dritte Säule
Neben der Neutralität und der direkten Demokratie ist der Föderalismus die dritte Säule unseres Staates. Man glaubt, dies sei nicht mehr zeitgemäss. Viele Politiker lieben die Grösse – die UNO, die EU, die OSZE, die WTO, die …… Was soll da ein Kanton? So würden die grossen Würfe verhindert, glauben die Kritiker des Föderalismus. Sie lieben grosse Gebilde, wo alle für alles verantwortlich sind, aber niemand für etwas. Ich muss Ihnen sagen: Ich glaube nicht an die grossen Würfe in der Politik. Ich glaube nicht an gigantische Gebilde – sei es in der Politik, der Wirtschaft oder sonst wo.
5. Was der Föderalismus für Genf bedeutet
Für einen Kanton wie Genf ist der Föderalismus nicht bloss ein nettes Thema für eine Abendkonversation.
Was wäre Genf ohne Föderalismus? Was die welsche Schweiz?
Für Minderheiten jeglicher Art ist der Föderalismus eine existenzielle Frage. Die Mehrheit kann viel besser mit einem zentralistischen System leben.
Was wäre beispielsweise, wenn die Deutschschweizer Mehrheit plötzlich auch in Schulfragen den Genfern Vorschriften machen könnte? Was wäre, wenn etwa Deutsch als obligatorische Schulsprache angeordnet würde?
Im zentralistischen Frankreich wurde das so gehandhabt. Für die französischsprachigen Bewohner kein Problem, aber für die Elsässer oder Bretonen. Der Föderalismus nimmt Rücksicht auf die Minderheiten und erhält so die Vielfalt eines Landes. Die Schweiz lebt von dieser Vielfalt. Sie macht unser Land aus. Uniformität für die Schweiz ist keine Lösung. Uniformität bedeutet Armut.
6. Vergleichen macht klüger
Sehen Sie, der Föderalismus bringt die Politik dorthin, wo die Menschen sind: In die Gemeinden, in die Kantone. Was Genf selber bestimmen kann, soll es selber bestimmen dürfen. Genau das will der Föderalismus.
Wenn die Politik nahe bei den Menschen stattfindet, werden auch die Fehler sichtbar und die Verantwortung erkennbar.
Der Föderalismus macht die Fehler der Politiker sichtbar. Man kann vergleichen. Man kann schauen, wie es andere machen. Die Genfer können schauen, wie es die Appenzeller machen.
* Die Genfer werden feststellen, dass sie viel die höheren Krankenkassenprämien zahlen müssen als die Appenzeller.
* Die Genfer werden feststellen, dass sie auch höhere Steuern und Abgaben leisten müssen als die Appenzeller.
* Diese Vergleiche führen zu Fragen: Warum ist das so? Warum steht das kleine Appenzell so gut da? Warum muss der durchschnittliche Appenzeller so viel weniger Steuern, Abgaben und Prämien zahlen – und lebt deswegen nicht schlechter als ein Genfer?
* Genf hat das niedrigste frei verfügbare Einkommen in der ganzen Schweiz (CS Studie, Juni 2006). In allen anderen Kantonen ist das frei verfügbare Einkommen höher. Warum ist das so?
Diese Fragen führen zwangsläufig zur Schlussfrage: Wer trägt die Verantwortung für diese Entwicklung? Die Antwort darauf müssen Sie geben: An der Urne. Wählen Sie eine Partei, die das ändert – wenn Sie dies ändern wollen!
7. Herausforderung für Genf
Wir müssen nicht absolut gesehen gut sein. Wir müssen nur besser sein als die anderen. Was heisst das für den Kanton Genf?
Genf ist ein beliebter Standort für internationale Organisationen. Warum? Weil wir weltoffen sind, ohne uns deswegen institutionell einzubinden. Weil wir weltoffen sind, aber unsere Neutralität hochhalten und niemandem das Gespräche und den Kontakt verweigern.
Genf ist ein wichtiger Finanzplatz. Warum? Weil wir die Diskretion leben. Weil wir das Bankkundengeheimnis hochhalten. Weil die Schweiz für Verlässlichkeit steht und genau das suchen Geldanleger.
Genf ist attraktiv, weil es neben der landschaftlichen Schönheit nach wie vor ein sicheres Leben ermöglicht. Die Landschaft hat uns der liebe Gott geschenkt, für die Sicherheit müssen wir schon selber sorgen. Die Sicherheit ist ein nicht zu unterschätzender Standortfaktor. Darum sind wir gefordert, die schleichende Ausbreitung der Gewalt zu unterbinden.
Genf ist nicht perfekt. Aber unser politisches System erlaubt den Vergleich, ermöglicht den Wettbewerb und bietet den Rahmen, sich zu verbessern. Sehen wir darin eine Chance.
Lasst uns auf unsere Stärke setzen: Auf eine unabhängige, neutrale, föderalistische Schweiz.
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