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08.10.2003
02.10.2003
BR-Wahlen 2003: Geschichte der Schweizerischen Volkspartei
Die Geschichte der Schweizerischen Volkspartei Gründungstag der Schweizerischen Volkspartei SVP ist der 22. September 1971 (Konstituierung: 18. Dezember 1971). Hinter diesem "jungen" Datum liegt eine respektable Parteigeschichte, handelt es sich doch bei der SVP um einen Zusammenschluss zweier traditionsreicher Parteien: der Schweizerischen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) und der Demokratischen Parteien der Kantone Glarus und Graubünden Von der BGB zur Schweizerischen Volkspartei Die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) wurde am 23. Dezember 1936 als gesamtschweizerische Partei gegründet (Konstituierung: 30. Januar 1937). Im Kanton Zürich jedoch bestand bereits seit 1917 eine Bauernpartei, und im Kanton Bern erfolgte die Gründung der Partei im Jahre 1918. Die Anstösse zur Gründung einer Bauernpartei waren zugleich wirtschaftlicher und politischer Natur: Einerseits war es der wirtschaftspolitische Gegensatz zwischen Bauern und Unternehmern innerhalb der Freisinnigen Partei und andererseits die Untervertretung der Landwirte in dieser Partei. Aber auch der Vormarsch der Sozialisten und die Überzeugung jüngerer Bauernpolitiker, der Freisinn trete zu wenig energisch gegen sozialistische, aber auch antimilitaristische und internationalistische Tendenzen auf, spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Gründung der Bauern- und Bürgerpartei. Im Jahre 1921 stiessen der Gewerbeflügel und die alten Liberal-konservativen des Kantons Bern dazu. Die Gründung der eigentlichen schweizerischen Partei erfolgte aufgrund einer Existenzkrise, hervorgerufen durch die sogenannte "Jungbauernbewegung". Die BGB, welche ursprünglich als Oppositionspartei gegen den vorherrschenden Freisinn entstanden ist, wurde 1929 Bundesratspartei. Ihr erster Vertreter in der Landesregierung war der legendäre Berner Rudolf Minger. Er wurde 1881 in Mülchi im Limpachtal geboren und wuchs im väterlichen Bauernbetrieb auf. Seine politische Karriere begann nicht in einer Partei. Als Plattform diente ihm viel mehr die landwirtschaftliche Genossenschaft von Schüpfen, in der er 1909 den Vorsitz hatte. Kurze Zeit später - 1911 - wurde er in den Vorstand des bernischen Genossenschaftsverbandes gewählt. Öfters wurde er als Redner herangezogen. Eine seiner Hauptforderungen war es dabei, dass die landwirtschaftlichen Genossenschaften auch im Bernbiet das sogenannte Konsumgeschäft (Lebensmittel und Artikel des täglichen Bedarf führen) aufnehmen sollten. Zu diesem Zeitpunkt wagte Minger den Schritt von wirtschaftlichen Themen ins Gebiet der Parteipolitik noch nicht. Vielmehr erwartete er Besserung von einer energischen Interessenvertretung durch die grossen bernischen landwirtschaftlichen Verbände. Am 24. November 1917 fand im Bierhübeli in Bern die Delegiertenversammlung des bernischen Genossenschaftsverbandes statt. An diesem Anlass nutzte Minger die Gunst der Stunde und "schlug dem Fass den Spunten aus" wie er selber sagte - trotz den väterlichen Mahnungen zu Vorsicht und Zurückhaltung vom damaligen Parteipräsidenten Johann Jenny. Minger rief auf zu politischer Neuordnung, zur Unterstützung des Proporzes und zur Gründung einer selbständigen Bauernpartei. Mingers "Bierhübeli"-Rede brachte die Dinge in Fluss und leitete die Entwicklung ein, die schliesslich zur Parteigründung führte. Seit der Wahl 1929 von Rudolf Minger in den Bundesrat war die BGB ununterbrochen in der Landesregierung vertreten. Die BGB war in den Kantonen Aargau, Baselland, Bern, Freiburg, Schaffhausen, Tessin, Thurgau, Waadt und Zürich vertreten und stellte im eidgenössischen Parlament zur Zeit des Zusammenschlusses 1936 21 National- und 3 Ständeräte. Die ehemalige Demokratische Partei Die Gründung der Demokratischen Partei der Schweiz erfolgte im Kriegsjahr 1942, als sich mehrere zum Teil schon lange bestehende Kantonalparteien zu einem schweizerischen politischen Verband zusammenschlossen. Dabei spielte die Demokratische Partei des Kantons Zürich in Kanton und Bund eine bedeutende Rolle. Bis 1941 war sie Mitglied der Freisinnigen Partei, der sie sich im Sommer 1971 wieder angeschlossen hat. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand die Demokratische und Arbeiterpartei des Kantons Glarus. Auch die nach dem Ersten Weltkrieg in Graubünden gegründete Demokratische Partei war aus dem Freisinn hervorgegangen. Nach dem Herkommen der Mitglieder beurteilt, waren die Demokraten in Graubünden und Glarus vorwiegend eine Partei der Kleinbauern, Angestellten und freien Berufen. Im eidgenössischen Parlament waren die Demokraten der Kantone Graubünden und Glarus mit je zwei National- und Ständeräten vertreten. Zusammen mit dem demokratischen Zürcher Nationalrat bildeten sie gemeinsam mit den drei Nationalräten der EVP bis zum Ende der Legislaturperiode 1967 - 1971 eine Fraktion. Die Vereinigung Gründe zur Vereinigung zwischen BGB, Bündner und Glarner Demokraten gab es viele. Im Vordergrund stand die Basisverbreitung und damit die Verstärkung der Parteien, die umso notwendiger erschien, als die Politik je länger desto mehr eidgenössisch geprägt war. Mitbestimmend war aber auch der Versuch, der ständig zunehmenden Zersplitterung der Parteien entgegenzuwirken. So schlossen sich 1971 BGB, Bündner und Glarner Demokraten zusammen. Die kleinste Bundesratspartei nannte sich fortan Schweizerische Volkspartei (SVP). Wenn auch die Politik und nicht der Name das Profil einer Partei bestimmen, so kündete die Namensänderung doch den Aufbruch in neue Zeiten an. Waren die ehemaligen BGB-Politiker wie auch die Demokraten ausgesprochene Vertreter von beruflichen Interessengruppen (Landwirtschaft, Gewerbe, freie Berufe), so weitete sich der Blick der SVP. Mit dem Begriff Volkspartei hielt die SVP aber auch an den heute tragenden politischen Säulen aus dem Kreise der Landwirtschaft und des Gewerbes fest und bringt damit zum Ausdruck, dass die Arbeitnehmer und weitere Bevölkerungskreise als gleichberechtigte und gleichwertige Kraft den Parteikurs mitbestimmen. Erneut dokumentiert wurde dieser Anlauf zur Verbreiterung der Basis im Jahre 1977, als eine Arbeitsgruppe unter dem damaligen Parteipräsidenten Dr. Fritz Hofmann einen Bericht über die Reorganisation und die Öffnung der Partei vorstellte. In einer Serie von vielbeachteten Programmparteitagen in den Jahren 1977 und 1978 gab sich die SVP ein neues und modernes Grundsatzprogramm. Die Schweizerische Volkspartei heute Der Aufbau der SVP entspricht der föderalistischen Struktur unseres Landes. Die Schweiz kennt drei politische Ebenen: Bund, Kantone und Gemeinden. Entsprechend hat die SVP auch eine gesamtschweizerische Partei, als Dach der sogenannten Kantonalparteien angeschlossen sind. Diese Kantonalparteien wiederum setzen sich aus den einzelnen Parteisektionen in den Gemeinden zusammen. Die Mitglieder Die Schweizerische Volkspartei (SVP) verfügt gesamtschweizerisch über rund 80'000 Mitglieder. Etwa ein Fünftel davon stammt aus der Land- und Forstwirtschaft, ein weiterer Fünftel aus den freien Berufen (Gewerbe, Ärzte, Juristen etc.). Die restlichen drei Fünftel der Mitglieder sind zu den Arbeitnehmern (Angestellte, Arbeiter, Beamte, Lehrer etc.) zu zählen. Die SVP verfügt damit im Vergleich zu allen übrigen Parteien über die wohl breiteste und ausgewogenste Zusammensetzung der Basis. Die Analysen der eidgenössischen Wahlen von 1999 haben gezeigt, dass die Vertreter der SVP von Leuten aus allen gesellschaftlichen Schichten gewählt werden. Am stärksten ist die SVP in der deutschsprachigen Schweiz, in den Landregionen sowie bei Selb-ständigerwerbenden vertreten. Ein überaus starkes Wählersegment stellen die jüngeren Generationen. Mit Toni Brunner stellt die SVP auch den jüngsten Nationalrat. Die SVP kann somit durchaus als echte, moderne Volkspartei bezeichnet werden. Heute ist die SVP in allen vier Sprachregionen unseres Landes vertreten und dies in allen 26 Kantonen.
30.09.2003
Letztlich traut er nur einem – sich selbst
Artikel im "Tagesanzeiger" vom 30. Septemberl 2003 Christoph Blocher bestreitet seinen siebten nationalen Wahlkampf. Warum der SVP-Tribun kaum noch zu schlagen ist. Und was ihn diesmal antreibt. Von Matthias Baer Er könnte zufrieden sein. Doch Christoph Blocher wirkt skeptisch, fast misstrauisch, wie er an diesem Septembervormittag an einem überdimensionierten Konferenztisch sitzt - in seiner Villa ob Herrliberg, aus der er auch die Ems-Chemie dirigiert. "Es kann alles wieder ändern, der Erfolg ist nie sicher." Auf die Freisinnigen, die ihm immer braver hinterhertrotten, baut er nicht. Vielleicht, argwöhnt er, haben diese "ihren Kurs bloss aus Opportunismus korrigiert". Auch seiner eigenen Partei traut er nicht hundertprozentig. "Nehmen wir einmal an, wir verlören im Herbst die Wahlen. Dann würden viele Parteikollegen sagen, der Blocher-Kurs sei gescheitert, und sie würden zu wackeln beginnen." Schon jetzt sorgt er sich über die vielen Mitläufer, die er "sehr genau" beobachten will. "Wären wir nicht erfolgreich, wären die nicht bei uns." Es tönt fast drohend. Gewiss, ein Paranoiker ist er nicht, der bald 63-Jährige, der als Alterspräsident die nächste Parlamentslegislatur eröffnen wird. Er registriert genau, wie perfekt es in diesem Wahlkampf für seine Partei läuft. So selbstbewusst sind die Volksparteiler inzwischen, dass sie - trotz einiger Ausreisser unter die Gürtellinie - weniger aggressiv werben als früher. In ihrer aktuellen Broschüre lassen sich die Zürcher Kandidaten wie Staatsmänner porträtieren. "Der Regierende hat einen anderen Stil als der Oppositionelle", sagt Blocher, "wir zeigen, dass wir uns auch in Bundesbern stärker an der Macht beteiligen können." Der vom Volk Erwählte Doch trotz - oder vielleicht gerade wegen - dieses Rückenwindes traut Blocher nur sich selbst. Und seinem Rückhalt in der Bevölkerung. Hier, bei den "kleinen Leuten, die mich gerne haben", schöpft er seine Kraft. "Das Volk ist seine Drohmacht", sagt der Politologe Hans Hirter, "damit schüchtert er seine Gegner ein." Blocher selbst reiht sich unbescheiden in die Aussenseiter der Schweizer Geschichte ein. Er verweist auf General Guisan, der die Nationalsozialisten weit entschiedener bekämpfte, als dies der schwankende Bundesrat tat. "In Notsituationen nahmen in diesem Land immer Leute aus dem Volk das Heft in die Hand", sagt er: "Die Bürger suchen sich Leute aus, denen sie vertrauen." An SVP-Veranstaltungen wird der protestantische Pfarrerssohn denn auch wie ein Erlöser gefeiert. Zum Beispiel bei einem "Puurezmorge" kürzlich in Zürich-Oerlikon. Nach seinem Referat umringen ihn Fans, die sich auf SVP-Prospekte Autogramme kritzeln lassen - darunter auffallend viele Frauen. "Sie müend z Bern usemischte" und "Nume Sie chönd d SVP im Bundesrat verträte", beschwören sie ihn. "Ich weiss", sagt Blocher, "dass ich gewisse Anhänger zu fast allem anstiften könnte. Es ist meine Verantwortung, dies nicht zu tun." Gleich zweimal erwähnt er am "Puurezmorge", dass es in der Schweiz für "wahre Flüchtlinge" Platz haben müsse. Eine Leerformel, gewiss, aber eine, die ihm keinen Applaus einträgt. Als Gegenmacht im Lande versteht sich Blocher durchaus. Nicht umsonst thront seine Villa, mit ihren Terrassen und Kandelabern, wie ein zweites Bundeshaus über dem Zürichsee. Er erzählt von amerikanischen Politologen, die ihn kürzlich besucht haben. "Sie wunderten sich, dass ich weder Präsident noch Minister sei. Denn überall, wo sie hinkämen, sprächen alle nur von diesem Blocher." Er lacht sein spitzbübischstes Lachen. "Die Schweiz ist im Grunde genommen eine Art Anarchie. Die Regierenden sind nicht unbedingt die Einflussreichsten." Eine Ausgangslage, die der Milliardär perfekt zu nutzen weiss. Trotzdem ist Blocher nicht der Anführer einer unterdrückten Mehrheit, wie er sich selbst gerne sieht. Mit dem Nein zum EWR-Beitritt gewann er 1992 zwar eine der wichtigsten Abstimmungen der letzten Jahrzehnte. Doch seit Mitte der Neunzigerjahre verlor er beinahe alle Urnengänge, bei denen die SVP alleine gegen die übrigen Bundesratsparteien antrat - zentral jene über den Uno-Beitritt. Der Basler Historiker Georg Kreis kritisiert: "Wenn Blocher den Volkswillen generell für sich in Anspruch nimmt, geht er mit den Abstimmungsergebnissen manipulativ um." Traum von einer rechten Mehrheit Solche Grenzen seiner Macht ärgern Blocher. Der amtsälteste Nationalrat verliert nur ungern, auch im Bundeshaus. "Wie die meisten Rechtsaussen-Politiker verachtet er das Parlament", vermutet FDP-Nationalrat Franz Steinegger. Und bestimmt widerstrebt ihm ein zentraler Wesenszug der schweizerischen Demokratie: die Politik des Interessensausgleichs und Konsenses. Von einem allfälligen zweiten SVP-Bundesrat fordert er einen harten Rechtskurs: "Er muss damit rechnen, wieder abgewählt zu werden. Ansonsten hat er seine Arbeit nicht richtig gemacht." Ein neues Regierungsmitglied müsste von der Partei "sehr eng" begleitet werden. Das Vorbild ist pikanterweise Ruth Dreifuss, die als Innenministerin fast nur SP-Leute um sich scharte. Was Blocher anstrebt, ist eine rechte Regierungsmehrheit - nicht alleine, das wäre unrealistisch, aber gemeinsam mit einem gleichgeschalteten freisinnigen Juniorpartner. Ob als Minderheit weiterhin zwei Genossen geduldet würden, ist dem Herrliberger egal. "Konkordanz- und Koalitionsregierungen haben Vor- und Nachteile, ich stehe fifty-fifty dazwischen." Entscheidend sind die Mehrheitsverhältnisse. Solange ihm diese aber nicht passen, zieht er sich lieber auf seine Rolle als Volkstribun zurück. "Ich dränge schon deswegen nicht in den Bundesrat", sagt der gescheiterte Anwärter von 1999, "weil ich ausserhalb viel mehr Einfluss habe." Dort, im ausserparlamentarischen Raum, übernimmt er heute eine Funktion, die bis in die Neunzigerjahre hinein die Linke monopolisierte: die radikale Kritik an der Staatsmacht. Blocher zerrt ans Licht, was die Regierung lieber zudecken würde. Und er benützt - ganz im Sinne linker Systemkritik - Einzelprobleme, um die angebliche Morschheit des Ganzen zu beweisen. Etwa wenn er mit dem Zuwachs bei der Invalidenversicherung Stimmung gegen den Wohlfahrtsstaat macht. So sind es heute nicht mehr politisch engagierte Schriftsteller, die Pamphlete gegen die real existierende Schweiz verfassen, sondern der Politiker Blocher polemisiert. Einmal jährlich im Albisgüetli liest er dem Land die Leviten - in einer Rede, für die er jeweils an die zwanzig Entwürfe schreibt. Es könnte durchaus von Blocher stammen, was Peter Bichsel 1969 über die mangelnde eidgenössische Debattenkultur schrieb: "Die Opposition wird nicht einer Irrlehre oder eines Irrtums bezichtigt, sondern der Unanständigkeit. Mit dem Satz: ‹Das gehört sich nicht› richtet man gegen sie mehr aus als mit Argumenten." Geisselte Bichsel einst die Ausgrenzung der Linken, wettert Blocher heute gegen den Moralismus der Anti-SVP-Front. Natürlich wird dieses Land nicht von "Sozialisten" regiert, wie Blocher suggeriert - das zeigen schon die sozialpolitischen Rückschritte der ablaufenden Legislatur. Unbestreitbar aber ist, dass die Medien linksliberale Positionen freundlicher kommentieren als jene der SVP. Und ebenso stimmt, dass die Presse pfleglich mit dem Bundesrat umgeht - nicht, weil die Journalisten die Regierung über alles schätzten, sondern, weil sie nicht der SVP nützen wollen. Demokratiepolitisch dürfte dies die gravierendste Folge des EWR-Showdowns sein. Die damaligen Verlierer, Bundesrat und Medien, halten seither gegen den damaligen Sieger zusammen. "Wir überlassen Blocher das Monopol, heikle Seiten des multikulturellen Wohlfahrtsstaates aufzuzeigen", ärgert sich Franz Steinegger. Diese Funktion verleiht Blocher hohe Glaubwürdigkeit, obwohl er selten solide Gegenkonzepte liefert und bei seinen Kampagnen bisweilen grobe Schnitzer macht. Weil dies aber zur Opposition gehört - da waren auch die Marxisten der Siebzigerjahre keine Ausnahme -, schadet es Blocher nicht. Vielleicht ist gerade dies das Bemerkenswerteste an der Karriere des SVP-Politikers, dass ihm heute kaum noch etwas gefährlich werden kann. Nicht nur die finanziellen Mittel nützen ihm. Unschlagbare Vorteile Die Geschlossenheit: In den letzten zwanzig Jahren hat Blocher erst die Zürcher, dann die eidgenössische Partei angetrieben, ihre Programmatik auszudiskutieren. "Das provozierte Streit, dafür haben wir heute eine klare Position." Nämlich: Weniger EU, weniger Ausländer und weniger Staat. Flügelkämpfe liefert sich die SVP einzig in der Agrarpolitik. "Hier brauchen wir eine Klärung", sagt Blocher. Der Pragmatismus: So sperrig sich der Herrliberger in seinen Kernforderungen gibt, so flexibel agiert er in vielen anderen Fragen. Damit vermindert er Angriffsflächen, etwa beim Service public. Der Staat, so Blocher, müsse die Grundversorgung zwar nicht selbst erbringen, aber garantieren. Es würde ihn auch nicht stören, wenn sich seine Basis für die linke Post-Initiative ausspräche, die in jedem Dorf eine Poststelle erhalten will. "Die absolut ideologische Position - alles privatisieren - teile ich überhaupt nicht." Weniger stur als viele seiner Parteikollegen sei Blocher auch in der Ausländer- und Asylpolitik, urteilt SP-Nationalrat Rudolf Strahm. "In seinem Innersten ist er kein Xenophob. Das Schüren der Ausländerfeindlichkeit dient ihm zur Machtvermehrung." Das Handwerk: Blocher beherrscht das politische Metier wie wenige andere. Er spürt brisante Themen auf, weiss sie rechtskonservativ zu analysieren und mit einem Paukenschlag zu lancieren. Im politischen Schlagabtausch blüht er auf, wobei er weit lieber gegen Franco Cavalli oder Jean Ziegler antritt als gegen einen konturlosen Mittepolitiker. Bei all diesen Einsätzen kann er von seiner Erfahrung zehren. "Mit dem Alter wird man zwar körperlich schwächer, dafür macht man alles viel schneller." Auch wenn SVP-Präsident Ueli Maurer sagt, Blocher sei für die Partei "heute nicht mehr so wichtig wie früher", ist er doch das alle überragende Animal politique. Freund und Feind wird er auch noch eine Weile erhalten bleiben. "Im Nationalrat höre ich 2027 auf. Dann bin ich genauso alt wie Adenauer, als er ging." Er meint es nicht nur im Spass. Der Patron: Anders als vielen freisinnigen Managern schadeten die Wirtschaftsskandale der vergangenen Monate Blochers Ansehen kaum. Zwar entlässt auch er Angestellte und streicht gleichzeitig Gewinne ein, doch gelingt es den Gewerkschaften nicht, dies zu skandalisieren. Er wirkt wie ein Patron, nicht wie ein kaltblütiger Unternehmer. Nicht einmal die Geschäfte mit dem gescheiterten Financier Martin Ebner belasten ihn. Erstens habe er die Beziehungen zu Ebner nie bestritten, ein Fehler, den Politiker häufig begingen. Zweitens sei Ebner bei den Kleinanlegern gar nicht so verpönt: "Er wird eher als tragischer Held gesehen." Der Dorfkönig: Sein Reichtum wird Blocher kaum je vorgehalten, diesem "Dorfkönig von helvetischem Format" (Georg Kreis). Ohne mit der Wimper zu zucken, bezahlt er in seiner Herrliberger Stammbeiz mit einer 1000er-Note. FDP-Ständerat Hans-Rudolf Merz sagt: "Wenn ich mich so wie er in einem Mercedes herumchauffieren lassen würde, wäre ich politisch erledigt." Blocher, der es vom Bauernlehrling zum Milliardär geschafft hat, lässt man es durchgehen - vielleicht, weil er sich immer noch wie ein Bauer gebärdet. Der Privatmann: Von Blocher sind keine Skandälchen zu berichten. Anders als rechtspopulistische Führer wie Le Pen oder Haider scheint er eine geerdete Persönlichkeit zu sein. Wenn er will, versprüht er Charme und Witz. Nicht einmal sein traditionelles Frauenbild kommt ihm im persönlichen Umgang in die Quere. "Auf dieser Ebene fühlte ich mich immer respektiert", sagt die ehemalige SVP-Generalsekretärin Myrtha Welti, die vor drei Jahren aus der Partei ausgetreten ist. Warum bloss diese Skepsis? So läuft für den SVP-Politiker alles bestens. "Der Wind im Land weht immer stärker von rechts, was auf Kosten der Solidarität geht", bestätigt Georg Kreis. Warum denn diese Skepsis in Blochers Gesicht? Im Rat oder im Fernsehen tritt er gelegentlich fahrig auf - als sei er es überdrüssig, stets das Gleiche zu sagen. "In den Sitzungen der Wirtschaftskommission", erzählt ein Nationalrat, "schwatzt es manchmal nur noch mit ihm, ziemlich autoritär." Plagt ihn die Erfolglosigkeit an den Urnen, wo er nur noch Beinahe-Mehrheiten schafft? "Für die parteiinterne Motivation", sagt der Winterthurer SVP-Nationalrat Jürg Stahl, "brauchen wir wieder einmal einen Abstimmungssieg." Oder realisiert er, dass der Aufstieg seiner SVP die bürgerlichen Koalitionspartner schwächte, während die SP stetig zulegte? Er überlege sich oft, sagt Blocher, ob er mit einem konzilianteren Stil mehr erreicht hätte. "Seit der EWR-Abstimmung kam zwar die Partei voran, nicht aber die Schweiz. Der Bundesrat hielt am EU-Beitritt fest, wir kämpften dagegen an - dies hat das Land in vielen innenpolitischen Fragen blockiert." Selbstverständlich gelangt er sogleich zur Einsicht, er habe richtig gehandelt, anders wäre es nicht gegangen. Trotzdem erstaunt dieses Fragende an einem, der sonst auf alles eine rechte Antwort hat. Nichts scheint ihm gesichert, auch nicht die Zukunft seiner SVP, wenn er dereinst abtritt. "Ich habe nie behauptet, diese Partei existiere ewig. Vielleicht kommen später andere Leute in anderen Parteien, oder es gibt eine neue Partei, die meine Anliegen vertritt." Blochers Redetricks Zürich. - "Eigentlich macht Blocher beim Reden alles falsch", sagt SVP-Chef Ueli Maurer, "er verhaspelt sich, nestelt an seinem Veston herum." Blocher selbst hat jedes Mal Lampenfieber: "Wenn ich nach vorne gehe, tragen mich manchmal meine eigenen Beine kaum." Wenn er aber zu reden beginnt, fesselt er seine Klientel. "Das Wichtigste", sagt Blocher, "ist nicht der Mund, sondern sind die Augen. Ich schaue die Leute an und merke sofort, ob meine Worte ankommen oder langweilen." Blocher liest selten ab, sondern hat bloss einen Zettel mit dem Titel der Veranstaltung vor sich. Zudem benützt er eine einfache, bildhafte Sprache, was er jahrelang vor seinen vier Kindern eingeübt hat. "Als sie noch klein waren, trug ich ihnen meine Reden vor, und sie mussten aufstrecken, wenn sie etwas nicht begriffen hatten." Dies sei meist dann der Fall gewesen, wenn er eine Sache nicht präzis genug durchdacht hatte. "Nur wer etwas im Kern begriffen hat, kann es einfach darstellen." Ein brillanter Redner sei er nicht, sagt Blocher selber, doch beschäftige er sich ständig mit der Materie. Dass eine einfache Sprache Differenzierungen erschwert, streitet er nicht ab. "Als Parteipolitiker darf ich parteiisch sein: Ich bin ja kein Richter, sondern ein Fürsprecher. Wenn ich zum Entscheid gelangt bin, dass 60 Prozent für eine Position sprechen, vertrete ich sie - zu 100 Prozent." (bae)
29.09.2003
Die Regierungen in der Schweiz sind konstant, aber sie sind nicht stark
Streitgespräch zwischen Christoph Blocher (SVP) und Franz Steinegger (FDP) in der "Aargauer Zeitung" vom 29. September 2003 Einst Juniorpartnerin der bürgerlichen Parteien, ist die SVP zur wichtigsten Kraft im bürgerlichen Lager geworden. Nach den Wahlen vom 19. Oktober dürfte sich die SVP auch in der Westschweiz etabliert haben. Wandelt sich die SVP von der Oppositions- zur Regierungspartei? Ein Gespräch zwischen Christoph Blocher (SVP) und Franz Steinegger (FDP). MARKUS GISLER, SYBILLE OETLIKER, BERNARD WüTHRICH Herr Steinegger, viele langjährige Parlamentsmitglieder sähen es gerne, wenn Sie Nachfolger von Bundesrat Villiger würden. Und Sie, Herr Blocher, sind doch eigentlich der beste Bundesratskandidat der SVP, wenn die Partei einen zweiten Regierungssitz will. Sie könnten also beide ab Januar Kollegen in der neu gewählten Regierung sein. Franz Steinegger: Ich habe keine Berührungsängste zu Herrn Blocher. Er ist einer meiner liebsten politischen Gegner. Mit ihm ist es interessant, sich zu streiten. Er hat klare Positionen, mit denen man sich auseinander setzen kann. Sind Sie Kandidat für den Bundesrat, Herr Blocher? Christoph Blocher: Nein. 1999 stellten Sie die Wiederwahl von Ruth Dreifuss mit Ihrer Kandidatur in frage. Blocher: Die Ausgangslage war derart aussichtslos, dass ich es mir leisten konnte, zu kandidieren. Ansonsten halte ich an meiner Aussage fest: Sollte mich das Parlament in den Bundesrat wählen, würde ich die Wahl annehmen. Sie, Herr Steinegger, bleiben dabei, dass Sie sich erst nach den Wahlen entscheiden, ob Sie für die Nachfolge von Kaspar Villiger zur Verfügung stehen? Steinegger: Ja. Die SVP, Herr Blocher, stellt immer wieder die beiden SP-Sitze im Bundesrat in frage. Wäre Ihnen eine rein bürgerliche Regierung lieber? Blocher: Die SVP steht für die Konkordanz ein. Das heisst, für eine Regierungsformel, in der die drei grössten Parteien zwei Sitze haben und die kleinste einen. Solange wir noch die kleinste Partei waren, haben wir diese Regel auch anerkannt. Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, vor 1999 einen zweiten Sitz in der Regierung zu fordern. Nach unserem Wahlerfolg vor vier Jahren mussten wir aber unseren Anspruch auf einen zweiten Sitz im Bundesrat anmelden. Die anderen Parteien haben dies abgelehnt. Sie wollten der kleinsten Partei zwei Sitze geben. Also galt die politische Wahl, das heisst für die SVP gegen die SP anzutreten. Sie ist unsere politische Gegenspielerin. Die anderen Parteien haben Sie in die Opposition getrieben? Blocher: Natürlich. Steinegger: Ausschlaggebend für den Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat ist die Frage der Repräsentanz und nicht der Wähleranteil im Nationalrat. Es kommt auf die Stärke einer Partei in der Bundesversammlung an. In dieser Gesamtbetrachtung aber fällt die SVP nicht wesentlich stärker ins Gewicht als die CVP. Und deshalb hat es sich bislang nicht aufgedrängt, der SVP einen zweiten Sitz zu gewähren. Kommt dazu, dass die SVP bislang in der Westschweiz kaum Fuss fassen konnte. Das wird nach den Wahlen anders sein? Steinegger: Ich bin nicht Prophet und weiss nicht, wie das Wahlergebnis vom Oktober aussehen wird. Im Dezember könnte sich aber eine interessante Konstellation ergeben. Gegen einen zweiten SVP-Sitz bereits dieses Jahr spricht allerdings die Erfahrung, dass das Parlament in der Schweiz nicht gerne bestehende Regierungsmitglieder abwählt. Grundsätzlich sollte aber die Stärke in der Bundesversammlung massgebend sein. Die SVP hat als Oppositionspartei ihre grössten Erfolge verbucht. Was würde ein zweiter Sitz im Bundesrat für Sie bedeuten, Herr Blocher? Blocher: Nochmals, die SVP hat die Oppositionsrolle nicht gesucht. Sie wurde ihr von den anderen Parteien aufgezwungen. Bei der letzten Wahl eines SVP-Bundesrates hat nicht einmal der von uns favorisierte Kandidat gewonnen. Stattdessen wählte das Parlament mit Samuel Schmid jemanden, der in zentralen Fragen - Asyl, Verwendung des Nationalbankgoldes, Auslandeinsätze der Armee - eine andere Position vertritt als die Partei. Hätten wir einen zweiten Sitz in der Regierung und Mitglieder, die voll und ganz unser Gedankengut einbringen, käme es im Bundesrat wahrscheinlich öfter zu Kompromissen, welche die SVP mittragen könnte. Steinegger: Es stimmt nicht ganz, dass die SVP erst seit 1999 in der Opposition ist. Diese Rolle nimmt Ihre Partei schon länger wahr, Herr Blocher. Nämlich seit Beginn der 90er-Jahre. Entzündet hat sich der Konflikt vor allem an der Europa-Frage. Ich halte es für äusserst problematisch, im Bundesrat zu sein und gleichzeitig Fundamental-Opposition zu machen. Ich muss allerdings der SVP eines zugute halten: Nach der Ablehnung des EWR haben die Unterlegenen, allen voran der Bundesrat, die "Sieger" nicht korrekt behandelt. Üblicherweise setzt sich die Regierung nach Ablehnung einer Vorlage an einen Tisch mit den Gewinnern, um zu diskutieren, was weiter geschehen soll. Das wurde 1992 nicht gemacht. Im Gegenteil. Der Bundesrat hat sein EU-Beitrittsziel weiterverfolgt und die bilateralen Verhandlungen aufgenommen. Das hatte dann zur Folge, dass die SVP auf Oppositionskurs fahren konnte. Was hätte denn der Bundesrat anders machen sollen? Steinegger: Man hätte den EU-Beitritt wirklich in den Hintergrund stellen müssen und die Gegner des EWR bei den Verhandlungen zu den Bilateralen zwingen müssen, Farbe zu bekennen. Es gab nie ein echtes Gespräch zwischen Bundesrat und Siegern der EWR-Abstimmung. Blocher: Es ging beim EWR um eine ganz wesentliche Weichenstellung für die Schweiz. Der Bundesrat interpretierte ja den EWR auch nicht als irgendein Freihandelsabkommen. Adolf Ogi sprach damals vom "Trainingslager" für einen späteren EU-Beitritt, Nationalrätin Vreni Spoerri von einer "Verlobung" mit der EU. So wurde die EWR- de facto zur EU-Abstimmung. Kam noch dazu, dass der Bundesrat kurz vor der Abstimmung noch das Beitrittsgesuch in Brüssel deponiert hat. Ein fataler politischer Fehler? Steinegger: Ja. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, Herr Blocher, dass Sie im Frühjahr 1992 noch gar nicht so sicher waren, ob Sie den EWR-Beitritt wirklich ablehnen wollten. Sie waren damals erst dezidiert gegen einen EU-Beitrittt der Schweiz. Erst als der Bundesrat am 18. Mai 1992 das EU-Beitrittsgesuch einreichte, wurden Sie zum klaren EWR-Gegner. Blocher: Ich gebe ohne weiteres zu, dass ich an jenem Abend mit Otto Fischer zusammen eine gute Flasche Wein getrunken habe. Ich muss aber auch sagen: Dieser Entscheid des Bundesrates war wenigstens konsequent. Zum EWR: Leider haben der Bundesrat und eine Mehrheit des Parlamentes innerlich das Volksnein zum EWR nie akzeptiert. Man sprach von einem schwarzen Tag, einem Fehler und schlimmer noch, die Regierung hat auch später das Volksverdikt nie richtig zur Kenntnis genommen. Die EU-Frage wurde auch im Bundesrat nie richtig ausdiskutiert, weil er sich seit langem in der Frage uneinig ist. Dies hat die Schweiz während zehn Jahren blockiert. Jede aussenpolitische Handlung - Bilaterale, Luftverkehrsvertrag etc. - steht seither unter dem Generalverdacht, die Regierung tue es nur, um später der EU beizutreten. Steinegger: Fakt ist, dass die SVP dank der Europa-Debatte ihren erfolgreichen Oppositionskurs fahren konnte. Blocher: Wir sind auch wegen Steuer- und Asyl-Fragen in die Opposition geraten. Doch unsere Kritik wird nie ernst genommen, obschon wir jedesmal knapp die Hälfte des Volkes hinter uns wissen. Hat das Nein zum EWR die Schweiz aussenpolitisch nicht isoliert? Blocher: Aussen- und wirtschaftspolitisch hat die Schweiz weiterhin eine starke Stellung. Beim EWR wurde damit gedroht, ein Nein sei der wirtschaftliche Niedergang der Schweiz. Tatsache ist heute: bei allen Wirtschaftsindikatoren ausser beim Wachstum weist die Schweiz im europäischen Vergleich Spitzenwerte auf. Das Wachstum in der Schweiz wurde nicht erhöht, weil in den letzten zehn Jahren die Politiker die Staats- und Steuerquote mehr als die anderen Länder erhöht haben. Stets gegen den erbitterten Widerstand der SVP! Selbst Bundesrat Villiger hat kürzlich vorgerechnet, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent rund 12 000 Arbeitsplätze kostet. Herr Steinegger was ist Ihre Bilanz zum EWR-Nein? Steinegger. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass dies ein Fehler war. Der EWR war eine vernünftige Lösung; andere Länder - Norwegen, Liechtenstein, Island - leben gut damit und wurden nicht von der EU vereinnahmt. Die bilateralen Verträge waren institutionell und finanziell zweifellos teurer für die Schweiz, als es der EWR gewesen wäre. Wir sind darauf angewiesen, klare Spielregeln mit der EU zu haben. Im Moment ist es der Bilateralismus. Soll die Schweiz sich dem Schengen- und Dublin-Abkommen der EU anschliessen? Steinegger: Die Frage lässt sich so derzeit nicht beantworten. Ich stelle lediglich fest, dass über diese Punkte zwischen der EU und der Schweiz diskutiert wird. Ich bin nicht genau im Bild über den Verhandlungsstand und frage mich gelegentlich, wer überhaupt dar-über im Bild ist. Ich fände es dringend nötig, dass Parteien und Fraktionen sich jetzt genau ins Bild setzen, um zu prüfen, ob sie dereinst das Verhandlungsergebnis mittragen werden oder nicht. Es muss unbedingt vermieden werden, dass der Bundesrat ein fertiges Verhandlungsergebnis präsentiert, das dann von den Parteien abgelehnt wird. Das wäre für die Schweiz sehr schlecht. Grundsätzlich könnten Sie sich ein Mitmachen der Schweiz bei Schengen und Dublin vorstellen? Steinegger: Ich glaube, dass es für die Schweiz wichtig ist, bei Dublin mitzumachen. Das Asylproblem kann heute kein europäisches Land mehr im Alleingang lösen. Was Schengen betrifft, so wird in der Öffentlichkeit immer in den Vordergrund geschoben, dass keine Grenzkontrollen mehr stattfinden sollen. Viel wichtiger ist aber, dass Schengen einen Informationsaustausch zwischen der Polizei der Mitgliedländer gibt, und daran hat die EU genauso ein Interesse wie die Schweiz. Beide sind auf die Zusammenarbeit angewiesen. Blocher: Wichtiger als den Stand der Verhandlungen zu kennen und über Details zu streiten, scheint mir die Grundsatzfrage: Was wollen wir eigentlich? Was wollen Sie, Herr Blocher? Blocher: Eine unabhängige und neutrale Schweiz, das heisst nein zu einer Schweiz ohne Grenzen, nein zu Schengen! Die EU zwingt der Schweiz Schengen nicht auf, aber sie will von der Schweiz Konzessionen im Bereich Bankkundengeheimnis und Zinsbesteuerung. Darüber müssen wir also reden. In Bezug auf Schengen will die EU gar nichts von uns. Umso besser. Was das Dublin-Abkommen betrifft, enthält es einen Informationsaustausch im Bereich der Asylpolitik. Das hilft, löst aber das Asylproblem nicht. Wichtig wäre, dass die Politik eine Meinung und Haltung dazu hat. Stattdessen lehnt sie sich zurück und sagt, "mal schauen, wie das Verhandlungsergebnis aussehen wird". Steinegger: Wir wissen einfach nicht, wie die Verhandlungen mit der EU ausgehen. Da ist es doch logisch, dass der Bundesrat dazu nicht abschliessend Stellung nehmen will. Ist der Bundesrat zu schwach? Steinegger: Wir haben in der Schweiz einen starken Bundesrat. Blocher: Das stimmt doch nicht. Schon wegen der direkten Demokratie nicht. Unsere Verfassung ist auf eine schwache Regierung aus. Steinegger: Es gibt doch in keinem andern Land auf der Welt die Möglichkeit, eine Regierung vier Jahre lang nicht in- frage zu stellen. Blocher: Die Regierungen in der Schweiz sind konstant, aber nicht stark. Ein Grossteil der Entscheide liegt beim Volk. Unser System geht vom Misstrauen des Bürgers gegenüber der Regierung aus. Die Opposition ist das Volk und das ist gut so. Deswegen wollen wir auch keinen Staatspräsidenten. Sie sind eh nichts anders als Nachfolger der Monarchen. Wir brauchen aber einen souveränen Bundesrat, der klar sagt, welche Politik er verfolgen will. Das tut die Regierung derzeit nicht? Blocher: Seit der zweiten Hälfte der 80er-Jahre ist eine klare Positionseringung und -erstreitung zur Frage der Stellung der Schweiz in der Welt unterblieben. Es wird nur noch taktisch entschieden. Teilen Sie diese Einschätzung Herr Steinegger? Steinegger: Nein. Ich würde die Regierung nicht so stark kritisieren. Ich finde allerdings, dass die zunehmende Doppelbelastung zwischen internationaler Präsenz und Anwesenheit im Parlament besser geregelt werden müsste. Wir müssten versuchen, Massnahmen einzuführen, welche den Bundesrat weit mehr als bisher dazu zwingen, verstärkt für das gesamte Landesinteresse zu arbeiten. Die Bundesräte sollten sich vermehrt mit der Regierungsaufgabe als Ganzem befassen, statt blosse Departementsvorsteher zu sein. Jedesmal, wenn grössere Probleme auf die Schweiz zukommen, die departementsübergreifend zu lösen sind - die Aufarbeitung des Holocaust zum Beispiel -, entsteht bei uns ein Vakuum und die Landesregierung erscheint schwach und zerstritten. Blocher: In der Tat sind unsere Bundesräte immer mehr zu Ministern geworden. Sie verlieren den Überblick, weil sie sich zu sehr um operative Details kümmern. Die Schweiz ist jetzt schon seit einem Jahr Mitglied der UNO. Herr Blocher, Sie kämpften gegen den Beitritt. Ist es denn jetzt so schlimm, dass wir zur UNO gehören? Blocher: Der Beitritt war ein Fehler, doch nun hat das Volk entschieden und das akzeptiere ich. Steinegger: Ich bin froh, dass wir in der UNO sind. Das bringt der Schweiz mehr Vorteile als Nachteile. Wo ich ab und zu Bedenken habe, ist, wenn die Schweiz nun meint, sie müsse sich zu allen Weltfragen äussern und Partei ergreifen. Blocher: Die UNO-Mitgliedschaft gefährdet unsere Neutralität. Sie wird immer mehr preisgegeben. Wir müssen die Neutralität ernst nehmen, sonst schwächen wir die Schweiz. Steinegger: Für die Sicherheit der Schweiz ist die UNO-Mitgliedschaft sehr wichtig. Der internationale Terrorismus zum Beispiel kann nur in internationaler Zusammenarbeit bekämpft werden. Man kann doch nicht zu Bin Laden sagen: "Mach uns nichts, wir sind neutral." Blocher: So primitiv meine ich das natürlich nicht. Neutralität ist ein Konzept, das die Regierung davor schützen soll, Handlungen zu veranlassen, die den Feind ins Land ziehen. Es ist doch kein Zufall, dass Amerika am stärksten vom Terrorismus gefährdet ist. Was sind die konkreten Auswirkungen der EU-Osterweiterung für die Schweiz? Steinegger: Ich denke, dass die positiven Punkte überwiegen. Der Binnenmarkt, der sich erweitert, ist der grösste der Welt und wir als Exportland sollten die Chance nicht vergeben, uns daran zu beteiligen. Wir müssen allerdings klare Richtlinien erlassen über die Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus den neuen EU-Ländern. Per Saldo eröffnet die Osterweiterung der Schweiz mehr Chancen als Gefahren. Blocher: Bei den neuen EU-Ländern handelt es sich um arme Länder mit hoher Arbeitslosigkeit und tiefem Lohnniveau. Die EU-Mitgliedschaft wird ihre Wirtschaft wachsen lassen. Davon profitieren auch wir. Das grosse Problem ist aber der freie Personenverkehr. Das ist ein Quantensprung. Wir haben den freien Personenverkehr noch nicht einmal mir der heutigen EU und wir können die Freizügigkeit sicher nicht auf die neuen EU-Länder ausweiten. Was wir brauchen, sind Kurzarbeitsverträge für Personen aus diesen Ländern. Die Schweizer Wirtschaft, sagen Sie, wird von der Osterweiterung profitieren. Soll die Schweiz dafür auch etwas zahlen? Blocher: Warum denn? Die Schweiz profitiert auch von Amerika und was geben wir als Gegenleistung? Nichts! Die neuen EU-Staaten profitieren doch auch von der Schweiz. Oder: Wir profitieren vom chinesischen Markt. Niemand käme aber auf die Idee, zu sagen, wir müssten in einen Kohäsionsfonds für China zahlen oder die Personenfreizügigkeit mit China verlangen. Schliesslich profitieren diese Länder auch vom geöffneten Schweizer Markt. Steinegger: Das Problem ist natürlich, dass wir unseren Markt nicht vollständig öffnen, vor allem nicht für die für Länder wie Polen so wichtigen Landwirtschaftsprodukte. Mit anderen Worten heisst das: Wir bekommen offene Märkte in Osteuropa und schotten unseren Markt aber teilweise weiter ab. Deshalb in ich der Meinung, wir müssten bereit sein, darüber zu diskutieren, uns beispielsweise an einem Infrastrukturfonds für Osteuropa zu beteiligen.
18.09.2003