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02.09.2005
14.08.2005
Grussbotschaft von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Marché-Concours
Saignelégier, 14.08.2005. Grussbotschaft von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des 102. «Marché-Concours National de Chevaux». Freundschaftlicher Wettkampf und gemütvolles Volksfest jenseits aller politischen Fragen. Im Mittelpunkt das Pferd - die Freiberger – «la race chevaline des Franches-Montagnes». 14.08.2005, Saignelégier Es gilt das gesprochene Wort Herr Regierungspräsident des Kantons Jura, Meine Damen und Herren Vertreter der Eidgenössischen Räte, Meine Damen und Herren Vertreter der Kantonsbehörden, Meine Damen und Herren, Es ist mir eine Ehre, Ihnen die Grussbotschaft des Bundesrates zu überbringen. Der Bundesrat möchte damit zeigen, dass auch für die Schweizer Regierung, der «Marché-Concours» ein Ereignis von nationaler Bedeutung ist! Ein sportlicher, kultureller und nationaler Anlass. Ganz im Zentrum dieser Begegnung steht das Pferd – speziell eine Pferderasse, die Freiberger – «la race chevaline des Franches-Montagnes» – eine Schweizer Zucht. Mir gefällt der Name «Francs-Montagnards», denn in ihm steckt das Wort Freiheit. Somit steht diese Landschaft hier oben genauso für den schweizerischen Drang nach Freiheit wie etwa die Bergwelt rund um das Rütli. Es ist der gemeinsame Wille nach Freiheit, der uns alle verbindet. Und insofern kann es sich bei den Freiberger Pferden nur um eine gute Rasse handeln. Es ist auch eine gute Rasse, das kann ich bestätigen. Während meiner landwirtschaftlichen Lehre habe ich mit Freiberger Pferden gearbeitet – gepflügt, geeggt, gesät, geerntet. So sind sie mir ans Herz gewachsen. Mit einem Guten Charakter: Verlässlich, ausgeglichen, kraftvoll, etwas eigensinnig. So wie ich es nicht nur an Pferden schätze. Der «Marché-Concours» ist nicht nur ein nationales, sondern ebensosehr ein jurassisches Fest. Wenn wir heute vom Jura sprechen, dann ist nicht nur ein spezifischer Kanton gemeint, sondern auch ein landschaftlich besonderes Gebiet mit einer langen Geschichte. Als Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements bin ich schliesslich mit dem Jura-Dossier betraut. Es ist für mich ein wichtiges Dossier und es ist mir ein Anliegen, dass der Dialog im Jura erfolgreich weitergeführt werden kann. 1994 wurde die «Assemblée interjurassienne» gegründet, die namentlich in den Bereichen Bildung, Wirtschaft, Verkehr und Kultur nach einer besseren Zusammenarbeit zwischen dem Berner Jura und dem Kanton Jura sucht. Zunehmend werden auch institutionelle Fragen behandelt. Mit dieser Arbeit schafft die Interjurassische Versammlung Vertrauen zwischen Parteien, die sich ehemals als Gegner gegenüberstanden und die nun als Partner zusammenarbeiten und einander näher kommen. Es gilt zu bedenken: In einem demokratischen Land, wie wir es sind, können Veränderungen nicht mit dem Brecheisen durchgeführt werden. Veränderungen sind nur möglich, wenn die beteiligten Parteien mit dem Herzen und dem Verstand ja dazu sagen. Ich kann Ihnen versichern, dass der Bundesrat eng und vorurteilsfrei mit den Regierungen der Kantone Jura und Bern zusammenarbeitet, um gemeinsam mit ihnen einen für das ganze Gebiet des Jura befriedigenden Weg zu finden. Jede Lösung, die Bestand haben will, kann nur auf der Basis des Rechtsstaates und der demokratischen Mitbestimmung der beiden Bevölkerungsteile gefunden werden. Heute aber steht der «Marché-Concours» als freundschaftlicher Wettkampf und als gemütvolles Volksfest jenseits aller politischen Fragen im Mittelpunkt. Ich danke Ihnen für Ihre Einladung und wünsche Ihnen mit «freundeidgenössischen» Grüssen alles Gute!
01.08.2005
Für eine wirtschaftlich starke, freie und sichere Schweiz
Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher zum Nationalfeiertag 2005 (Schafisheim, Unteriberg, St. Moritz und Winterthur) 01.08.2005, Schafisheim, Unteriberg, St. Moritz und Winterthur Es gilt das gesprochene Wort Heute feiern wir den 714. Geburtstag unserer Schweizerischen Eidgenossenschaft. Wir feiern ihn wie den Geburtstag von betagten Menschen! Dankbar und freudig schauen wir zurück auf das Gewesene, dankbar und freudig gedenken wir heute der mutigen Männer und Frauen, die 1291 die Kraft und Weitsicht hatten, den Freiheitsbrief schreiben zu lassen und damit den Grundstein für die heutige Schweiz zu legen. Warum gerade 1291? Staaten entstehen nicht in einem einzigen Moment. Staatengründungen sind Prozesse, die längere Zeit dauern. Nicht allein das Datum des Rütlibriefes von Anfang August 1291 wäre als Geburtsstunde möglich gewesen: Man hätte sich auch auf die Einigung der zerstrittenen Orte im Stanser Verkommnis von 1481 verständigen können. Oder die faktische Loslösung vom Römisch-Deutschen Reich nach dem Schwabenkrieg von 1499 oder der formelle Reichsaustritt anlässlich des Westfälischen Friedens von 1648. Manche sähen vielleicht lieber die Gründung des modernen Bundesstaates von 1848 als Geburtstagsjahr. Vom Gehalt des Bundesbriefes Und doch meine ich, die Rückbesinnung auf den Bundesbrief von 1291 sei zutiefst richtig und sinnvoll. Denn der wichtigste Gedanke dieses historischen Dokumentes ist, das Heft in Eigenverantwortung selbst in die Hand zu nehmen und keine Fremdbestimmung mehr zu dulden. Die Frage lautete damals ganz einfach: Wer soll über die inneren Verhältnisse der Länder am Vierwaldstättersee entscheiden? Die Antwort gegenüber dem angeblich ordnenden, harmonisierenden und vereinheitlichenden habsburgischen Verwaltungsstaat war ein lautes und deutliches Nein. Die drei «Länder» der Urschweiz entschieden sich für Eigenverantwortung, für Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung. Der Rütlischwur und die Landsgemeinden bilden darüber hinaus den Ursprung einer ausgeprägten Volksherrschaft, unserer heute weltweit einzigartigen, viel beneideten direkten Demokratie.Diese ersten eidgenössischen Staatsmaximen haben unser Land im Laufe der 714 Jahre bis heute geprägt. Der kleine Bund von damals ist im Laufe der Jahrhunderte gewachsen, im Vergleich mit den meisten anderen Staaten aber klein geblieben. Er hat nicht zuletzt wegen seiner geringen Grösse seinen Bürgern ein Mass von Selbstbestimmung und damit Freiheit bieten können, das unvergleichbar ist. Rückbesinnung auf die Freiheit Die Schweiz hat in ihrer Geschichte Zeiten der inneren Zerrissenheit, der Krisen, Fremdeinmischung, Überheblichkeit und des Versagens immer wieder gemeistert, wenn sie sich auf die Werte von 1291 zurückbesonnen hat. Wäre es nicht auch gerade heute, und bei all den meist gut gemeinten, aber oft keineswegs guten Rezepten für die Zukunft, richtig, sich auf diese Grundweisheiten zu besinnen? Liegen nicht gerade in den uralten Wahrheiten des Bundesbriefes die Grundlagen für unsere Gegenwart und unsere Zukunft? Müssten diese Werte nicht auch heute wieder neu genutzt werden? Wie steht es Im Jahr 2005 mit der Freiheit, der Eigenverantwortung der Bürger, der Unabhängigkeit des Landes?Die Freiheit ist das höchste und wertvollste Gut - dafür stehen 714 Jahre Schweizer Geschichte. Diese Freiheit ist nicht ideologisch definiert oder historisch gebunden, sondern immer eine Antwort auf die jeweilige Zeitfrage. Sie muss immer wieder neu überlegt, gefordert und gelebt werden. Wohlfahrt fördern Gerade heute, wo die Angst um die Wohlfahrt im Mittelpunkt steht, sollten wir uns auf das Erfolgsrezept unseres Landes besinnen: Es gilt, die manchenorts erstickte Freiheit wieder zu beleben und mit neuem Leben zu erfüllen. Die Bürgerinnen und Bürger gehören in den Mittelpunkt, nicht die staatlichen Institutionen. Die Verantwortung des Einzelnen muss an die Stelle der staatlichen Vormundschaft treten. Statt grosszügiger Verschwendung auf Kosten der nachfolgenden Generationen und statt dauernder Erhöhung von Zwangsabgaben haben wir das Geld möglichst bei den Bürgern zu belassen. Die Wirtschaftsentwicklung verschiedener Länder zeigt es immer wieder: Die Bürger und Bürgerinnen nutzen das Geld sinnvoller als die umverteilende Bürokratie. Geben wir den Bürgern diese Freiheit, stutzen wir bürokratische Regeln und Zwangsabgaben zurück zugunsten der Eigenverantwortung des Einzelnen! Angst vor der Kleinheit? Viele Bürger unseres Kleinstaates haben heute Angst davor, als kleines Land nicht mehr bestehen zu können. Grösse sei angesagt, Harmonisierung und Zusammenarbeit. Das tönt schön und mag in manchem seine Berechtigung haben. Aber hat uns die Vergangenheit der Schweiz nicht anderes gelehrt? Die heutigen Zeiten sind schnelllebig geworden, die neuen Bedrohungen erweisen sich als schwer berechenbar und erfolgen überraschend. Der Terror umgeht die zentralistisch aufgebauten Sicherheitssysteme und schlägt dezentral zu. Gefordert ist heute vor allem Flexibilität, die Fähigkeit, mit dem Unerwarteten, Unerhörten, Neuartigen umzugehen und fertig zu werden. Auch in der Wirtschaft! Die Verwundbarkeit der modernen, eng vernetzten Gesellschaft ist zu erkennen und zu schützen. Mit schwerfälligen, zentralistischen Staatsorganisationen ist da wenig auszurichten. Sicherheit an Ort und Stelle, in den Gemeinden, Quartieren, die Selbstverantwortung der Nachbarschaft, in Zügen, in Bussen, auf der Strasse ist gefragt. Das Abschieben der Verantwortung an internationale Gremien und Funktionäre taugt im Ernstfall nicht.Aber auch an die anderen Stärken unseres Landes müssen wir denken.Ein Kleinstaat darf sich nicht in jede Streitigkeit ziehen und zur Parteinahme verleiten lassen. Eine bewaffnete Neutralität schützt unser Land nach wie vor besser als die Einbindung in fremde Bündnisse. Ein Bündnis mit jemandem ist immer auch ein Bündnis gegen andere. Es besteht die Gefahr, an der Seite eines stärkeren Partners unfreiwillig in Konflikte hineingezogen zu werden.Gerade die jüngsten Terroranschläge zeigen, dass die Abweichung von diesem Prinzip auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme.Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und Stellung zu beziehen.Natürlich soll es auch in der Sicherheitsfrage Austausch und Verträge mit anderen Staaten geben. Die Schweiz war nie isoliert im Sinne von losgelöst von ihrem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld. Es gab und gibt keinen Planeten Schweiz. Nur darf unser Land trotz aller internationaler Verflechtungen nie das Prinzip der Souveränität verlassen. Die Devise muss heissen: Zusam-menarbeit und Austausch mit aller Welt, aber keine politische Einbindung. Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung haben Vorrang. Liberaler Nationalstaat als Erfolgsrezept So wie das Jahr 1291 für Freiheit und Selbstbestimmung steht, obsiegten 1848 sowohl der Liberalismus als auch der Nationalstaat. Beides, Freiheit und Unabhängigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung standen auch zur Gründungszeit des Bundesstaates im Mittelpunkt.In den vergangenen Jahren wurde leider das Einstehen für Freiheit und Unabhängigkeit zunehmend vernachlässigt. Dies hat nicht nur das Selbstvertrauen der Bürger erschüttert, die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind mindestens ebenso ernüchternd. Sie entwickelt sich schlecht: Nur der friedliche Wettbewerb unter Staaten, nicht der gleichmacherische Internationalismus schafft Wohlstand, Wachstum und Fortschritt. Wir haben es selber in der Hand: Ein überschuldeter Staatshaushalt, explodierende Sozial- und Gesundheitskosten, übermässig anwachsende Aufgaben, die anmassende Haltung der öffentlichen Hand mit den entsprechenden Ausgaben, zunehmende Regulierung und Bürokratisierung, Ansteigen der Arbeitslosenraten sind Ursachen und Folgen zugleich. Der in Anpassung an den Zeitgeist schleichend ausgebaute Sozial- und Umverteilungsstaat übersteigt nicht nur unsere finanziellen Möglichkeiten, er untergräbt - was schlimmer ist - zunehmend die Selbstverantwortung in unserem Land. Die Abkehr vom Sonderfall hat der Schweiz jeden-falls mehr geschadet als genützt. Was ist zu tun? Der Aufbruch zu den Werten des alten Bundesbriefes ist heute dringend nötig geworden. Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung: Diese Werte haben unser Land stark und wohlhabend gemacht. Besonders bei den heute wichtigen Fragen der Sicherheit und der Wirtschaft sind Handlungsfreiheit, eine hohe Flexibilität, Schnelligkeit, Dezentralisierung, aber auch Unvoreingenommenheit und Qualitätsbewusstsein gefragt. Das sind Fähigkeiten, die ein Kleinstaat schnell ausbauen und nutzen kann.Wer aber Sicherheit sucht und dafür die Freiheit opfert, hat weder das eine noch das andere verdient (Benjamin Franklin). Frei und unabhängig sein, kann man nicht ohne ein gewisses Mass an Risiko. Das gilt in der Terrorbekämpfung, in der Wirtschaft und im Staat. Schlusswort Ich bin überzeugt, dass ein Aufbruch zur alten Freiheit, zum eigenverantwortlichen Handeln des Bürgers, zur Unabhängigkeit des Landes im friedlichen Neben- und Miteinander aller Staaten das beste Modell für eine erfolgreiche Zukunft unseres Landes darstellt.
24.07.2005
Schweiz wohin? Aufbruch zur alten Freiheit!
Ansprache von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des 65. Jahrestages des Rütlirapportes vom 25. Juli 1940 gehalten an der Gedenkfeier am 24. Juli 2005 auf dem Rütli 24.07.2005, Rütli Es gilt das gesprochene Wort Meine Damen und Herren, Chers amis de la Suisse romande, Cari amici della Svizzera italiana, Wir sind heute auf dieser symbolträchtigen Wiese zusammengekommen um 60 Jahre nach Kriegsende des Rütli-Rapportes vom 25. Juli 1940 zu gedenken! I. Europa im Sommer 1940 Halten wir uns die Zeit vom Sommer 1940 vor Augen: Das nationalsozialistische Deutschland schien fast mühelos ganz Europa unter seine Gewalt zu bringen. Zunächst, 1938 noch ohne Waffen, die Tschechei und Österreich. Danach eroberten deutsche Panzerarmeen in schnellen Siegen Polen, Frankreich, Dänemark, Norwegen und die Benelux-Staaten. Dazu kam das schon länger faschistische Italien unter Mussolini. Die starke Armee Grossbritanniens musste sich vom europäischen Festland fluchtartig nach England zurückziehen, um nicht von den Achsenmächten zerrieben zu werden. Hitler überall siegreich - Stalin mit seinem Massenheer ihm ein Verbündeter! II. Und die Schweiz? Die Schweiz war im Sommer 1940 vollständig isoliert und von totalitären Staaten umschlossen. Unser Land verblieb als letzter Hort der Freiheit und Demokratie im kontinentalen Europa. Umgeben von Barbarei, Diktatur, Menschenverachtung und dem Ungeist des Nationalsozialismus. Wen wundert es, dass in dieser Schweiz nicht nur Freude und Dankbarkeit herrschte, sondern Verunsicherung, Sorge, Angst, Missmut und Verzweiflung. Bange Fragen beherrschten den Alltag: - «Wie sollen wir uns verteidigen?» - «Können wir uns überhaupt verteidigen?» - «Es hilft wohl alles nichts.» - «Die anderen sind zu mächtig.» - «Was will die kleine Schweiz?» Der Geist des Defätismus begann um sich zu greifen. Die Moral in der Schweiz drohte zusammen zu brechen. Und die Regierung? Was der Bundesrat in diesen Wochen verlautbarte, war alles andere als hilfreich und klang wenig entschlossen. Am 25. Juni 1940 verkündete Bundespräsident Pilet-Golaz «eine teilweise und stufenweise Demobilmachung». Statt Entschlossenheit also Preisgabe in Gefahr und Not? Sibyllinisch fügte der Bundespräsident hinzu: «Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.»1) Was wollte er damit sagen? Wer war mit diesem "alten Menschen" gemeint? Warum sollte er abgestreift werden, dieser «alte Mensch»? Wie sähe denn der «neue Mensch» aus? Angesichts des Rufs aus dem Norden nach einem erneuerten Menschen konnte Pilet-Golaz wohl nur in diesem Sinn verstanden werden: So wie eben Hitler das neue Europa unter deutscher Führung sah. Doch vielleicht wollte der Bundesrat ganz anderes sagen? Vielleicht glaubte Pilet-Golaz mit diesen Worten den Feind abzuhalten? Nur: Genau darin lag das Problem. In einer schwierigen Zeit verlangt das Volk nach einer klaren, unzweideutigen Position. Vom Bundesrat war diese offensichtlich nicht zu bekommen. III. Rütlirapport 25. Juli 1940 Nicht nur die Bevölkerung, sondern auch General Henri Guisan, der damalige Oberbefehlshaber der Armee, war besorgt wegen der sich ausbreitenden resignativen Stimmung im Land. Er wusste: Die dringendste Aufgabe bestand nun darin, wieder Ordnung in die Herzen und Köpfe zu bringen. Gezielt wählte Guisan deshalb für seine Ansprache - vordergründig an seine Soldaten, aber hauptsächlich an die verunsicherte Bürgerschaft gerichtet - diesen mythischen Ort aus: Die Wiege der Eidgenossenschaft musste es sein. Das Symbol der Freiheit und Unabhängigkeit - das Rütli. Hier, auf dieser kleinen Wiese, versammelte Guisan sein Offizierskorps. Es galt dem Land Sicherheit zu geben und auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. Und das Rütli gab vor, welche Werte die Schweiz zu verteidigen hatte: Ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit und Demokratie. Später begründete General Guisan seine Wahl so: «Ich wollte selbst mit ihnen sprechen, Auge in Auge, als Soldat zu Soldaten. Ich hätte das ja in irgendeinem Lokal oder auf irgendeine andere Weise tun können, bei Morgarten vielleicht oder bei Sempach - doch nein, es musste hier geschehen, auf der Rütliwiese, an der Wiege unserer Unabhängigkeit, auf dem Boden, der jedem so vieles vor dem geistigen Auge heraufbeschwören musste.»2) Die damalige Armeeführung stellte für alle erkennbar fest: Die Schweiz hat ihre Identität und ihren Wohlstand auf dem Fundament der Unabhängigkeit und Freiheit errichtet. Doch jede Generation ist aufgefordert, sich diesen Wohlstand neu zu verdienen und die alte Freiheit mit neuem Leben zu erfüllen. Um diese Entschlossenheit rang Guisan vor fünfundsechzig Jahren. Und um die gleiche Entschlossenheit zur unabhängigen Schweiz muss jede Generation neu kämpfen. IV. Die Rede des Generals Guisan hielt damals keine militärische Rede; vielmehr eine politische. Das hatte jetzt Vorrang, was der oberste Armeechef instinktsicher erkannte. Ob der General damals frei gesprochen hat oder nach einem Manuskript, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es waren sich nicht einmal mehr alle Teilnehmer darin einig, ob Guisan seine Rede auf Deutsch oder Französisch gehalten hat. Notizen aus seinem Umfeld belegen aber die Dringlichkeit zur geistigen Landesverteidigung aufzurufen: «Der Mut zum Durchhalten ist bei uns schon nicht mehr 100% vorhanden. Zum Teil sind die Kader schuld. Dann die Schwätzer! Und die Politiker! Der erste Kampf, der heute geführt werden muss, ist der Kampf gegen das 'Es nützt nichts'.»3) Ja, die Kader, die Eliten, die Schwätzer, die Politiker: Ihnen musste der Widerstandswille erst wieder eingeimpft werden. Nicht den einfachen Bürgern. Nicht den vielen hunderttausend Schweizer Soldaten, die ihren Dienst taten, um das Land und seine Freiheit zu verteidigen. V. Die Wirkung der Rede Die Symbolkraft des Rütli und dieses Rapports übertrug sich auf das ganze Land. Der 25. Juli 1940 gab die Richtung vor: Die Besinnung auf das historische Erbe. Die Unabhängigkeit des Landes wurde über alle kleinmütigen Bedenken und Versuchungen gestellt. Sich verteidigen, nicht zögern. Es war von grösster Bedeutung für das Land zu spüren, dass die entscheidenden Leute vorangingen und die grundsätzliche Richtung vorgaben. Einzelne, vor allem jüngere Offiziere, zeigten sich enttäuscht vom 25. Juli. Sie erwarteten eine verbindliche, weit detailliertere militärische Strategie. Doch was Guisan den anwesenden Militärs hielt, war eine politische Rede mit drei Hauptgedanken: - Bekenntnis zur unabhängigen und demokratischen Schweiz. - Konzentration der militärischen Kräfte im Réduit im Gebirge. - Und drittens der Aufruf zur geistigen Landesverteidigung. VI. Das Réduit Es ist kein Zufall, dass der Sommer 1940, - die Zeit der höchsten Not, - auch die Geburt einer neuen militärischen Strategie mit sich brachte. Nämlich der Rückzug der Armee ins Réduit, d.h. ins befestigte Gebirge. Aus dem klaren Bekenntnis zur unabhängigen Schweiz und ihren Werten erwuchs in fast natürlicher Logik diese neue militärische Ausrichtung. Erst das unzweifelhafte Ja zur bewaffneten Neutralität gab die Kraft sich auf die eigenen Stärken zu besinnen. Die Armee tat das, was jede Führungskraft - sei es in Politik, Wirtschaft oder Militär - zu jeder Zeit und in jeder Lage wissen sollte: sich auf die eigene Stärke zu besinnen! Natürlich war jedem klar, dass die kleine Schweiz der militärischen Übermacht letztlich hätte unterliegen müssen. Gleichwohl konzentrierte man sich auf die territoriale Besonderheit der Schweiz, um sich so teuer wie möglich zu verkaufen. Der Grundgedanke der neuen Strategie war: Die Achsenmächte hatten letztlich das grösste Interesse an einem funktionierenden Nord-Süd-Durchgang. Der Gotthard stellte das eigentliche Objekt der Begierde dar. Ihn wollte die Schweiz verteidigen oder notfalls zerstören. Neben der Neutralität und einer pragmatischen Handelspolitik gehörte diese Strategie sicher zu den wichtigsten Entscheidungen aus der damaligen Zeit. Ob nun das Réduit gut oder schlecht war; ob es richtig war, das Mittelland und mit ihm ein Gros der Bevölkerung preiszugeben; ob sich die Achsenmächte tatsächlich durch den demonstrativen Wehrwillen abschrecken liessen - solche Fragen sind unnötig! Die gewählte Strategie hatte Erfolg. Das ist entscheidend. Ob es vielleicht eine bessere gegeben hätte, bleibt Spekulation. Die militärische Beurteilung jedenfalls war bestechend: Ohne das Filetstück Gotthard ist die Schweiz ihren Gegnern nichts wert. Fakt ist: Hitler hat die Schweiz nicht angegriffen. VII. Das Ende des zweiten Weltkrieges So dürfen wir heute auf dem Rütli dankbar an den 25. Juli 1940 erinnern, der unsere Freiheit und Demokratie geschützt hat. Wir denken mit Hochachtung an all jene, die damals unerschütterlich für die Eigenständigkeit unseres Landes eingetreten sind. Im Wissen darum, dass menschliche Kraft beschränkt ist, danken wir Gott, dass er unser Land unversehrt diesen Krieg hat überstehen lassen. An diesem Gedenktag danken wir aber auch all jenen, die sich mit Mut, Kraft und Entschlossenheit für die Freiheit in Europa eingesetzt haben.Besonders wollen wir der vielen Soldaten gedenken, die auf den Schlachtfeldern Europas für die Freiheit gestorben sind und all jener, die Opfer dieses mörderischen Krieges geworden sind. Wie ist das Verhalten der Schweiz im 2. Weltkrieg zu beurteilen? Sie hat das grosse Ziel - kein Krieg und gleichzeitig ihren demokratischen, freiheitlichen Rechtsstaat zu bewahren - ganz auf sich selber gestellt erreicht. Natürlich hat sie auch Fehler begangen, aber sie schaffte es, den Krieg als neutraler, demokratischer Staat zu überstehen. An diesem Hauptziel ist die Schweiz zu messen. Diesen Verdienst sollten wir ungeschmälert anerkennen. Lassen wir hier den englischen Kriegspremier Winston S. Churchill zu Wort kommen. Er brachte bereits 1944 mehr historisches Verständnis für die schwierige Lage der Schweiz auf als heute viele führende Schweizer.Am 13. Dezember 1944 - also fünf Monate vor Kriegsende - hielt Churchill fest: «Vor allen Neutralen hat die Schweiz das grösste Anrecht auf bevorzugte Behandlung. Sie war der einzige internationale Faktor, der uns mit den uns schrecklich Entfremdeten noch verband. Was bedeutet es schon, ob sie in der Lage war, uns die gewünschten Handelsvorteile zu gewähren, oder dass sie, um sich am Leben zu erhalten, den Deutschen zuviel gewährt hat? Sie war ein demokratischer Staat, der von seinen Bergen aus seine Freiheit verteidigt hat, und trotz ihrer (ethnischen) Zugehörigkeit hat die Schweiz gesinnungsmässig grösstenteils unsere Partei ergriffen.»4) VIII. Angst vor dem Rütlirapport 2005? Es ist schon erstaunlich: Kaum wurde bekannt, dass diese Gedenkfeier auf dem Rütli stattfindet, machte sich eine eigenartige Angst in den Feuilletons breit. Eine nicht geringe Zahl Politiker, Historiker und Journalisten kritisierte schon präventiv den Anlass und seine möglichen Motive. Es steckt wohl die Angst dahinter, ein historisches Ereignis, bei dem der Wille zur Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Freiheit, Demokratie und bewaffneten Neutralität im Mittelpunkt stehen, könnte seine Wirkung entfalten. Und das kann man jetzt nicht brauchen. Vielleicht hätte man dieses Jubiläum von nationaler Bedeutung lieber unter den Tisch gewischt um es zu vergessen. Ich frage Sie: Wie kann man das tun oder gar von «Vereinnahmung» der Geschichte sprechen, wenn wir an diesem Tag die Grundwerte unseres Landes - Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität - ins Zentrum der Betrachtungen stellen? Gewiss, man kann Verständnis für die Befürchtungen dieser um den heutigen Anlass «Besorgten» aufbringen, denn die Beschäftigung mit der Vergangenheit schärft immer auch die Sicht auf die Gegenwart. Es ist unseren Kritikern nicht entgangen, dass zahlreiche Bürger beunruhigt, ja verzweifelt sind über die allgemeine Orientierungslosigkeit der Politik. Auch in der Einladung der Organisatoren und in deren Inseraten kommt diese Verunsicherung zum Ausdruck. Vielleicht gehen Sie alle, die Sie heute hierher gekommen sind, enttäuscht wieder nach Hause, weil Sie keine aktuellen, praktischen Antworten bekommen haben - sei es auf die Frage nach der Unabhängigkeit, zur Verteidigung, zum Zweck und Auftrag unserer Armee. Es mag vielen gleich ergehen wie den jüngeren Offizieren nach dem Rütlirapport von 1940, die sich beklagt hatten, statt einer militär-strategischen Rede nur eine politische Rede vorgesetzt bekommen zu haben. Freilich gilt auch heute: Es hat keinen Wert, über militär- und sachpolitische Einzelfragen zu streiten, bevor man nicht weiss, was man zu verteidigen hat, und wofür man den grundsätzlich einstehen will. Nein, meine Damen und Herren, wie damals beim Rütlirapport ist auch heute die Frage «Was haben wir zu verteidigen?» ins Zentrum zu stellen. Wenn nicht jeder Bürger und Soldat auf diese simple Frage eine überzeugende Antwort in eigenen Worten geben kann, dann ist etwas faul in einem Staat. Und darum gilt auch in der heutigen Zeit des strategischen Umbruchs als bewährte Orientierung unsere Unabhängigkeit, unsere Eigenverantwortung, unsere direkte Demokratie, unsere Freiheit und die Neutralität als Überlebensstrategie eines Kleinstaates. Der Kleine am Rockzipfel des Grossen mag sich einen Sicherheitsgewinn erhoffen. Er täuscht sich. Der Grosse zerrt ihn mit in seine eigenen Abenteuer. Der Drang in die kollektive Sicherheit ist meist Ausdruck von Schwäche, die stets zu fehlendem Realitätsbezug neigt. Der Publizist William Pfaff sagte es plakativ: «Kollektive Sicherheit ist die Ausrede, um die Individuelle Verantwortung für die Sicherheit nicht übernehmen zu müssen.» Aber auch die Neutralität - die Überlebensmaxime des Kleinstaates Schweiz - muss dringend aufrecht erhalten werden. Neutralität schützt uns vor Kriegsbegeisterung, vor Manipulation über die Medien, vor eilfertigem Nachgeben unter Druck. Sie erlaubt uns unparteiische Hilfe, wo sie wirklich gebraucht wird. Sie errichtet, zusammen mit dem Milizsystem, eine hohe Schwelle für den Einsatz der Schweizer Armee. Aber sie ist nicht gratis. Sie braucht standfeste, selbstbewusste Politiker, Diplomaten und Soldaten, die nicht auf fremden Applaus angewiesen sind. Weit realer als die Hoffnung, der Starke gewähre dem Schwachen im Ernstfall uneingeschränkte Hilfe, ist jedoch die Gefahr, an der Seite eines grösseren Partners unfreiwillig in einen Konflikt hineingezogen zu werden. Denn ein Bündnis kann auch in einer Art Geiselhaft enden. Gerade die jüngsten, bis nach Europa hineingetragenen Terroranschläge zeigen, dass die Neutralität auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme. Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und Stellung zu beziehen. Sie ist vielmehr Garant für den wichtigsten aussenpolitischen Trumpf im internationalen Kräftespiel: die Berechenbarkeit. Sie sehen, so viel anders fällt die Antwort heute nicht aus als damals im Sommer 1940. Wenn nun ein Historiker5) der Zweitweltkriegs-Schweiz vorwirft, man könne nicht sagen, die Schweiz habe sich erfolgreich verteidigt, weil die Schweiz nicht angegriffen worden sei, so hat dieser Autor vom Sinn der bewaffneten Neutralität nichts begriffen. Die dauernd bewaffnete Neutralität steht gerade dafür, den Angriff, den Einfall einer fremden Armee zu verhindern. Der Eintrittspreis (Blutzoll, Zerstörung der Nord-Süd-Achse, Zusammenbruch aller Handelsbeziehungen) sollte damals abschreckend hoch sein. Diese Zusammenhänge hat man übrigens zu meiner Zeit jedem Rekruten beigebracht. Darin liegt die Bedeutung der dauernd bewaffneten Neutralität: Man nennt ihre abschreckende Wirkung im Fachjargon dissuasiv. Gerade der Umstand, dass die Schweiz nicht angegriffen wurde, ist Indiz für den Erfolg dieser Strategie. IX. Schlusswort Darum sei allen Besorgten, allen Zweiflern und Schwätzern, allen Kleinmütigen und Grosssprechern, allen Schwachen und Starken zugerufen: Angesichts der grössten Bedrohung bekannte sich die Schweiz 1940 uneingeschränkt zu ihrer Selbständigkeit und Neutralität. Das Bekenntnis zur alten Freiheit legte erst den Weg und den Mut frei zu einer zukunftsträchtigen Strategie und letztlich zur Rettung des Landes. Warum soll das heute - in unvergleichlich besserer Zeit - nicht auch möglich sein? Also dürfen wir gemeinsam diese eine Botschaft in unsere Schweiz tragen: Besinnen wir uns auf die Kraft der alten Freiheit! Es war 1291 so. Es war 1648 beim Westfälischen Frieden so. Es war 1848 bei der Bundesstaatsgründung so. Es war vor 65 Jahren am 25. Juli so. Warum sollte der Schweiz auf einmal am 24. Juli 2005, an diesem prächtigen Sonntag, die Kraft dazu fehlen? Darum ein selbstbewusstes Ja zur unabhängigen Schweiz und ihrer 700jährigen Freiheit. Aus diesem grundsätzlichen Ja ergeben sich dann Antworten auf die angesprochenen besorgten Fragen vieler Bürger von alleine! 1) Hans Rudolf Kurz, Dokumente des Aktivdienstes, Frauenfeld: Huber, 1965, S. 74-76. 2) Zit. in: Willi Gautschi, Henri Guisan, Zürich: NZZ, 1989, S. 267. 3) Gautschi, S. 278. 4) Winston Churchill, zit. in: Neue Zürcher Zeitung, 18./19. Januar 1997. 5) Thomas Maissen, Varianten des Patrotismus, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.07.2005.
05.07.2005