Couchepin hat einen Pfusch präsentiert
Interview im “Tages-Anzeiger” vom 13. Juni 2003
Christoph Blocher hält die langfristigen AHV-Vorschläge von Pascal Couchepin für Wolkenschiebereien. Man müsse jetzt vor allem gegen die «Scheininvaliden» vorgehen.
Von Iwan Städler und Christoph Schilling
Herr Blocher, eigentlich würde die SVP vor den Wahlen ja lieber über Asylpolitik und Europa sprechen. Jetzt hat Pascal Couchepin aber eine Rentendebatte angezettelt. Stört Sie das?
Blocher: Nein. Wir sprechen natürlich trotzdem über die Asylfrage und die EU. Aber die Sozialversicherungen gehören zu unseren Schwerpunkten.
Man hatte den Eindruck, die SVP sei von Pascal Couchepin etwas überrumpelt worden. Einige Ihrer Nationalräte haben durchaus Verständnis für dessen Ideen gezeigt. Sie hingegen, Herr Blocher, wollen nichts von einer Erhöhung des Rentenalters wissen. Warum nicht?
Blocher: Es ist nicht nötig. Bis ins Jahr 2015 sichern wir die AHV auch ohne Rentenaltererhöhung.
Couchepin spricht von der Zeit danach.
Blocher: Das sind doch Wolkenschiebereien. Wer weiss schon, wie die Welt im Jahr 2025 aussieht. Pascal Couchepins Arbeiten sind völlig unausgegoren. Er hat einen Pfusch präsentiert, zu dem ich nicht Stellung nehme.
«Blick» titelte aber: «Blocher: Hände weg von der AHV».
Blocher: Dieses Zitat stammt nicht von mir. Ich nahm an einem Streitgespräch mit SP-Nationalrat Werner Marti teil, das vor Couchepins Präsentation stattgefunden hat. Dabei ging es um die 11. AHV-Revision. Hier könnte ich durchaus sagen: Hände weg. Natürlich hat «Blick» daraus einen Kampf gegen Couchepin gemacht. Und die übrige Presse hat es abgeschrieben. Scheinbar lesen die Journalisten nur den «Blick».
Glauben Sie das wirklich?
Blocher: Hören Sie: Ich habe noch nie ein Wort darüber verloren, ob ich Couchepins Vorschläge gut oder schlecht finde. Noch nie! Trotzdem glauben alle, Blocher sei dagegen. Die «Berner Zeitung» brachte es gar fertig, am Samstag zu schreiben, Blocher habe in der Fernsehsendung «Arena» laut zu Couchepins Plänen Stellung bezogen. Dabei war ich gar nicht in der Sendung.
Dann fragen wir Sie jetzt ganz konkret: Schliessen Sie eine Erhöhung des Rentenalters im Jahr 2015 aus, wie das Pascal Couchepin vorschlägt?
Blocher: Das sind Möglichkeiten, die es zu prüfen gilt. Festlegen dürfen wir uns heute aber nicht.
Warum nicht?
Blocher: Erstens kann sich die Wirtschaft so entwickeln, dass man das Rentenalter gar nicht erhöhen muss. Zweitens kann man es vielleicht gar nicht erhöhen, weil dies der Arbeitsmarkt nicht zulässt. Man weiss ja nicht, ob es 2025 für die über 65-Jährigen genügend Arbeit gibt. Über die Höhe des Rentenalters muss man dann 2020 entscheiden.
Die SVP steckt doch im Dilemma: Einerseits möchte sie im Wahljahr ihre Anhängerschaft nicht verärgern. Andererseits will sie die FDP als Wirtschaftspartei ablösen. Die Wirtschaft will aber das Rentenalter erhöhen.
Blocher: Eine Wirtschaftspartei löst jene Probleme, die anstehen, nicht jene von 2025. Wer heute glaubt, die Probleme von 2025 lösen zu können, ist entweder ein Scharlatan oder ein Wolkenschieber.
Vor drei Jahren, an einem Parteitag in Altdorf, haben Sie ebenfalls langfristige Lösungen skizziert.
Blocher: Das waren eben verschiedene Varianten, die zu prüfen sind. Aber jetzt gilt es, die Probleme bis 2015 zu lösen.
Wie denn?
Blocher: Hier hat die SVP ebenfalls klare Lösungen: keine Erhöhung der Mehrwertsteuer, keine neuen Lohnabzüge, keine Rentenaltererhöhung, keine Rentenkürzung und kein Ausbau der Sozialversicherungen.
Sondern?
Blocher: Wir wollen die überschüssigen Goldreserven für die AHV verwenden – mindestens zwei Drittel davon. Darüber hinaus muss das bereits eingeführte zusätzliche Mehrwertsteuerprozent voll der AHV zukommen. Heute zweigt die Bundeskasse einen Teil davon für sich ab. Das muss aufhören.
Und wie wollen Sie dies erreichen? Werden Sie gegen die 11. AHV-Revision das Referendum ergreifen?
Blocher: Das ist nicht nötig. Wir werden die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer bekämpfen. Diese muss obligatorisch vors Volk. Die SVP will die Sozialversicherungen retten, ohne dass die Leute immer mehr zahlen müssen. Das gilt auch für die Pensionskassen.
Viele Pensionskassen weisen nach dem Börsencrash eine massive Unterdeckung auf. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?
Blocher: Das ist gar nicht so schlimm. Das Hauptproblem bei den Pensionskassen ist die zunehmende Invalidität. In meinem Unternehmen mussten wir zum Beispiel den Arbeitnehmerbeitrag um 1 Prozent erhöhen, den Arbeitgeberbeitrag gar um 1,2 Prozent – nur wegen dieser rapide gestiegenen Invalidität. Dieses Problem haben alle verdrängt.
Vor allem psychische Krankheiten haben zugenommen. Ist der Stress am Arbeitsplatz zu gross geworden?
Blocher: Ein Grossteil dieser Invalidität ist Scheininvalidität. Manche wollen gar nicht mehr gesund werden. Für sie ist es einfacher, den Lohn durch die IV-Rente zu ersetzen. Gleichzeitig gibt es Arbeitgeber, die sich sagen: Schreiben wir ihn doch invalid.
Oder man lässt den Mitarbeiter frühpensionieren.
Blocher: Das auch. Die Missbräuche sind gigantisch. 1990 haben wir vier Milliarden Franken für die Invalidität ausgegeben, im Jahr 2000 waren es schon zehn Milliarden. Diese Kosten steigen jährlich 5 bis 8 Prozent. Und wie will der Bundesrat das lösen? Selbstverständlich wieder mit der Mehrwertsteuer. Das geht doch nicht.
Und wie wollen Sie das lösen?
Blocher: Wir wollen gegen die Scheininvalidität vorgehen.
Halten Sie denn die IV-Rentner für Simulanten?
Blocher: Es gibt sicher viele Simulanten in der IV. Es tut mir Leid, das zu sagen. Aber wenn Sie einmal einen Beinbruch hatten und ein paar Wochen an Krücken gingen, wird das arbeitsfreie Leben plötzlich interessant. Das kennen wir doch von uns selbst. Je länger die Leute aus dem Arbeitsprozess draussen sind, desto schwieriger wird es, sie wieder zu integrieren. Nehmen Sie das Beispiel SBB. Dort hat man den Personalabbau über die Invalidenversicherung und die Frühpensionierung gelöst. Und keiner reklamiert. Das heisst doch: Dieser Betrug ist gesellschaftsfähig und wird nicht geahndet.
Wie wollen Sie konkret dagegen vorgehen?
Blocher: Wir wollen wissen, welche Berufsgruppen betroffen sind und wie gross der Anteil der Ausländer ist. Laut Peter Hasler vom Arbeitgeberverband gehen 45 Prozent der Renten an Ausländer. Und ein Sechstel, sagt er, gingen mit der Rente ins Ausland. Jetzt stellen Sie sich einmal vor: Wenn einer in Kosovo oder in der Türkei eine Rente mit der vollen Schweizer Kaufkraft erhält, hat er doch dort den 15fachen Lohn. So jemanden bringen Sie nie mehr in den Arbeitsprozess hinein. Das muss jetzt alles auf den Tisch. Es ist auch interessant: Je grösser die Ärzte- und Psychologendichte ist, desto mehr Invalide gibt es. Eigentlich sollte es ja umgekehrt sein: Je mehr Ärzte es gibt, desto gesünder sollten die Leute sein.
Nochmals: Was wollen Sie konkret dagegen unternehmen?
Blocher: Wir wollen, dass die Leute zur Rechenschaft gezogen werden, bis zur strafrechtlichen Ahndung. Das betrifft nicht nur die Scheininvaliden, sondern auch die Arbeitgeber und die Ärzte. Und den ganzenSozialfilz, der eine Decke über all das legt.
Welchen Sozialfilz?
Blocher: Zum Beispiel die Aufsichtskommissionen. Wir wollen auch, dass künftig die IV-Renten für Ausländer an die Kaufkraft des jeweiligen Landes angepasst werden. Und dass die Invalidität richtig überprüft wird – nicht durch einen Vertrauensarzt in Kosovo. Stellen Sie sich einmal vor: Da kommt einer zu seinem Arzt in Kosovo und sagt, er beziehe eine Rente aus der Schweiz. Da erklärt ihn doch keiner für gesund. Das muss anders organisiert werden.
Aber die IV an sich möchten Sie nicht gleich abschaffen?
Blocher: Nein. Die braucht es. Und die AHV auch. Ob dies im Jahr 2050 immer noch so sein wird, kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Das muss ich auch nicht.
Bei den Pensionskassen will Pascal Couchepin auch Rentner an der Sanierung beteiligen. Bei starker Unterdeckung sollen sie auf einen Teil ihrer Rente verzichten. Sind Sie damit einverstanden?
Blocher: Nochmals: Ich halte die Unterdeckung der Pensionskassen für das geringere Problem als die Invalidität. Wenn die Rentner in guten Zeiten von den Überschüssen profitiert haben, müssen sie jetzt auch zur Sanierung beitragen.
Gleichzeitig will der Bundesrat den Mindestzinssatz auf zwei Prozent senken. Und Sie?
Blocher: An sich bin ich dagegen, dass der Bundesrat den Mindestzinssatz festlegt. Das ist doch, wie wenn er den Preis des Kunststoffs bestimmen würde, den ich verkaufe. Wenn der Wettbewerb spielt, ergibt sich der Zinssatz durch den Markt.
Der Wettbewerb spielt aber nicht. Man kann ja seine Pensionskasse nicht auswählen.
Blocher: Das sollten wir ändern. Ich bin dafür, dass jeder die Pensionskasse frei wählen kann. Das funktioniert aber nur, wenn Transparenz herrscht.
Hätte die freie Wahl nicht eine gigantische Bürokratie für die Unternehmen zur Folge? Dann müssten sie ja die Rente jedes Mitarbeiters an eine andere Kasse überweisen.
Blocher: Wieso denn? Es gäbe bestimmt nicht mehr Tausende von Kassen, sondern nur noch etwa zehn.
Peter Hasler vom Arbeitgeberverband sagt, das wäre der Tod der 2. Säule. Dann hätten die Unternehmen keinen Anreiz mehr, ihren Mitarbeitern mehr zu bezahlen, als sie vom Gesetz her müssten.
Blocher: Das ist doch nicht wahr. Es entstünde ein Druck, eine möglichst gute Rendite zu erzielen. Das führt zu höheren Renten.
Braucht die Schweiz mehr Kinder, um die AHV-Renten zu finanzieren?
Blocher: In erster Linie brauchen wir mehr Arbeitsplätze. Die AHV wird ja von jenen bezahlt, die arbeiten. Natürlich braucht es dafür auch neue, junge Arbeitskräfte. Ansonsten schauen wir eben, dass welche aus dem Ausland kommen.
Haben wir richtig gehört? Die SVP setzt nun auf mehr Ausländer?
Blocher: Wir hatten nie etwas dagegen, dass Menschen, die wir zum Arbeiten brauchen, mit einem Vertrag zu uns ins Land kommen. Das ist doch nichts Unanständiges.
Bei der EU-Osterweiterung auch nicht?
Blocher: Hier geht es darum, ob auch Leute einreisen dürfen, die wir nicht benötigen.
Ein kleiner Anreiz für mehr Kinder wäre die Mutterschaftsversicherung.
Blocher: Das ist ja zum Lachen. Wenn eine Frau Kinder will, nur um vier Monate Urlaub zu kriegen, hat sie besser keine Kinder. Ich bin gegen eine Mutterschaftsversicherung. Das Volk hat sie schon dreimal abgelehnt. Und der Verfassungsauftrag ist bereits erfüllt. Vor über 50 Jahren, als man es in die Verfassung schrieb, konnte man die Kosten für Voruntersuchungen und Geburt nicht über die Krankenkasse abrechnen. Heute schon.
Der Gewerbeverband steht aber hinter der jetzt geplanten Form der Mutterschaftsversicherung. Seit wann ist die SVP gegen das Gewerbe?
Blocher: Die SVP ist für das Gewerbe, aber gegen diesen Verbandsbeschluss. Es ist falsch, die eigenen Probleme über den Staat lösen zu wollen. Da machen wir nicht mit. Das kostet Lohnprozente oder Mehrwertsteuer.
Ergreifen Sie das Referendum auch ohne Unterstützung der Wirtschaft?
Blocher: Ja. Sonst werden wir unglaubwürdig. Wir dürfen keine neuen Sozialversicherungen schaffen. Es ist schon schwer genug, die bisherigen Leistungen zu finanzieren.
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