Eine schonungslose Analyse ist nötig
«Die ungeschminkte Wirklichkeit zu sehen und anzuerkennen, ist Voraussetzung für gute Lösungen der Probleme», erklärt der Justizminister im Gespräch mit der «Südostschweiz». Die aktuelle Situation erachtet er als «für die Zukunft unseres Landes nicht sehr hoffnungsvoll».
22.12.2004, Südostschweiz (Flurina Valsecchi)
Herr Bundesrat, wie steht es momentan um unser Land?
Die Situation für die Zukunft unseres Landes ist nicht sehr hoffungsvoll. Unhaltbar ist besonders die die Situation der Staatsfinanzen, bei deren Sanierung wir kaum vorankommen. Wir sollten dringend die Steuern und Abgaben senken sowie Regulierungen abbauen. Auch die Verwaltung ist zu teuer und zu kompliziert. Was mein Departement betrifft: Die Asylpolitik ist zu verbessern. Es sind zu viele Personen hier, die keine Flüchtlinge sind. Diese Situation werden wir verbessern.
Ein insgesamt recht düsteres Bild.
Als Unternehmer bin ich gewohnt, Dinge anzusprechen, die nicht funktionieren und die zu verbessern sind. Es gibt aber auch viel Funktionierendes, doch das ist weniger wichtig. Wichtig ist es die Probleme in ihrer ganzen Tiefe und Schärfe zu erkennen.
Wie würden Sie die Schweiz auf einer Skala von Null (schlecht) bis Zehn (hervorragend) bewerten?
Ich gäbe der Schweiz eine Vier.
Es besteht also Handlungsbedarf. Wie stark kann der Staat dabei nach unternehmerischen Prinzipien geführt werden?
Sehr stark. Die Führungsgrundsätze sind stets die selben: Im Staat, im Unternehmen, im Militär oder in der Familie. Am Beginn steht die schonungslose Problemanalyse, und hier hapert es oft. Als Unternehmer ist man gezwungen, diese Analyse vorzunehmen und Lösungen zu suchen. Denn wenn sie es falsch machen, gehen sie unter. In der Politik aber war dieses schonungslose Hinterfragen des Ist-Zustands stets ein Problem. Winston Churchill war zum Beispiel in den dreissiger Jahren allein mit seiner Analyse, dass Deutschland einen Krieg entfachen würde. Er wurde ausgegrenzt und hat schliesslich doch Recht bekommen.
Und am Schluss hat ihn das Volk abgewählt.
Das macht nichts. Es kann ja nicht das Ziel sein, stets in der Gnade des Volks zu stehen.
Hat denn das Volk damals falsch entschieden?
Ja natürlich. Churchill hat Europas Freiheit gerettet und nach dem Krieg vor dem Kommunismus gewarnt.
Das Volk hat also nicht immer Recht?
Das habe ich nie behauptet. Wenn das Volk aber entschieden hat, dann gilt dieser Entscheid selbst wenn es sich irrt.
Zur Zeit streben Sie im Volk einen «Mentalitätswandel» an. Was genau verstehen Sie darunter?
Da ist im vergangenen Jahr bereits viel geschehen. Heute werden Probleme viel offener diskutiert als vor einem Jahr. Denken Sie an Tabu-Themen wie die Ausländerpolitik oder die IV-Problematik darüber schreiben auch die Medien offener als früher. Einen solchen Mentalitätswandel meine ich. Denn wenn Sie ein Problem, das die Leute beschäftigt, unter dem Deckel halten, erzeugt dies eine furchtbare Stimmung. Die ungeschminkte Wirklichkeit zu sehen und anzuerkennen, ist die Voraussetzung für gute Lösungen der Probleme.
Und wie genau kam dieser Mentalitätswandel zu Stande?
Das ist schwer zu sagen. Ich sage nicht, dass es so ist, weil ich nun Bundesrat bin. Aber die Tatsache, dass ich gewählt wurde, war bereits ein Zeichen für diesen Umbruch. Denn normalerweise wählt man solche Politiker wie mich nicht in den Bundesrat.
Stehen Sie selbst am Anfang dieser Entwicklung oder sind Sie als Folge davon Bundesrat geworden?
Vielleicht stehe ich am Anfang dieser Entwicklung. Die Frage bleibt aber dennoch schwierig zu beantworten. Vielleicht bin ich auch nur das Produkt dieser Zeit. Das ist die Frage nach dem Huhn oder dem Ei. Letztlich ist die Frage auch nicht so wichtig. Hauptsache ist, dass der Mentalitätswandel geschieht.
Sie fordern, dass man ohne Tabus in alle Richtungen denken soll. Hat nicht besonders Ihre Partei viele Ideen und Utopien des politischen Gegners einfach a priori abgeblockt?
Ich warne vor Utopien, bin aber dafür, verschiedene Lösungsansätze zu prüfen. Als Unternehmer weiss ich um den Wert kreativer Lösungsvorschläge. Ich bin zunächst offen nach allen Richtungen, mache sehr viel Brainstorming und lade die verschiedensten Gruppen zum Gedankenaustausch ein. Bei der Asylpolitik waren das unter anderem von der Flüchtlingshilfe und bis zum ehemaligen Flüchtlingsdelegierten Peter Arbenz alle.
Als Bundesrat sind Sie also offener für andere Meinungen als Sie es als Parteipolitiker waren?
Als Partei ist man immer parteiisch, das sagt bereits der Name. Meine Stärke war jedoch auch als Parteipolitiker, mir andere Meinungen anzuhören. Und auch da haben wir um Positionen gerungen. Wenn wir eine Lösung erarbeitet hatten, trugen wir diese jedoch viel massiver vor.
Sie sprechen viel von «Realitätsverweigerern». Inwiefern nehmen Sie die Realität in allen Facetten wahr?
Zum Beispiel auch die Realität, dass das Volk Nein sagte zur AHV-Revision oder zum Steuerpaket. Demokratie ist die Möglichkeit Nein zu sagen. Ich nehme diese Äusserungen des Volks sehr wohl zur Kenntnis. Vielleicht will man uns sagen: Wir haben genug von all diesen neuen Vorlagen, legt uns gescheiter mal nichts vor. Auch das könnte eine Interpretation sein.
Auch für ein Nein zum Steuerpaket?
Weshalb nicht? Das Volk hat sich mit seinem Nein gegen Steuersenkungen ausgesprochen. Bei der Mehrwertsteuer-Erhöhung zu Gunsten der AHV hat das Volk allerdings auch Nein gesagt.
Realität ist trotzdem, dass Sie mit Ihren Ansichten einen sehr grossen Teil des Volks nicht repräsentieren.
Das habe ich auch nie behauptet. Jeder Politiker vertritt bloss einen gewissen Teil des Volks. Auch wenn ich früher Abstimmungen gegen den Bundesrat gewonnen habe, stand auf der Gegenseite oft eine starke Minderheit. Das Volk war gespalten, und ich habe einfach eine Seite davon vertreten.
Wie soll man denn mit solchen starken Minderheiten umgehen etwa nach einer Volksabstimmung?
Viel muss man nicht sagen. Ich habe festgestellt, dass eine Minderheit, die wie der Bundesrat denkt, gepflegt wird. Wenn die Minderheit jedoch gegen den Bundesrat ist, dann wird sie überhaupt nicht beachtet.
Zum Beispiel?
Bei der Abstimmung zur Mutterschaftsversicherung gab es eine starke Minderheit. Da habe ich nichts davon gehört, dass man pfleglich mit dieser Minderheit umgehen soll. Vielmehr wurde das Volk für seine Reife gelobt. Hingegen war die Mehrheit bei den Einbürgerungsvorlagen auf der Seite der Regierung. Diese wurde dann sehr wohl “gepflegt”.
Da hat sich ein historisch tiefer Röstigraben aufgetan. Ist es nicht besonders heikel, wenn die sprachliche Minderheit auch an der Urne derart minorisiert wird?
Die Deutschschweizer Kantone wurden am selben Sonntag bei der Mutterschaft überstimmt. Die könnten ja noch mehr aufbegehren, weil sie sogar als Mehrheit in diesem Land überstimmt wurden.
Immerhin waren Zürich, Bern und Basel für die Mutterschaftsversicherung. Doch grundsätzlich: Bedarf denn der nationale Zusammenhalt nicht der besonderen Pflege?
Was wollen Sie denn pflegen? Was wollen Sie denn sagen? Etwa, dass der Entscheid doch nicht so ganz gilt. Man muss einfach vorsichtig sein, dass man gegenüber einer Minderheit keine falschen Konzessionen macht. Die wichtigste Aussage ist, dass man den Volksentscheid respektiert.
Wie sieht es mit dem Zusammenhalt zwischen den Regionen aus?
Rein ökonomisch macht die Unterstützung der Randregionen keinen Sinn. Die Randregionen erhalten sich selbst. Wenn man Man muss mit weniger starren Vorgaben und steuerlichen Anreizen ideale Bedingungen schafft. Dann haben sie gute Chancen. Ein Qualitätstourismus auf hohem Niveau ist zum Beispiel eine ideale Option für die Randregionen.
Trotzdem ist die ökonomische Situation vieler Randregionen besorgniserregend.
So schlecht geht es den Randregionen nicht. Wenn der Leidensdruck grösser wäre, würden sie mehr unternehmen. Die Regionen müssen auf ihre eigenen Stärken setzen und nicht einfach den Bund um Geld angehen.
Weshalb sind Sie denn gegen Naturpärke, damit könnten die Regionen voll auf ihre eigenen Stärken setzen?
Ich glaube nicht daran, dass die Bewohner der Randregionen allesamt in Naturpärken leben wollen. Das wäre für die Entwicklung der Gebiete hinderlich.
Vor Ort stossen solche Projekte jedoch auf Zustimmung.
Wenn die Kantone das machen wollen, sollen sie es selbst tun. Wenn es aber nur darum geht, in Bern Geld abzuholen, ist das die falsche Strategie.