Städte – Sensoren gesellschaftlicher Entwicklung

Referat von Bundesrat Christoph Blocher anlässlich des Städtetag 2005 gehalten am Freitag, 2. September 2005 in Winterthur

02.09.2005, Wintherthur

Wintherthur, 02.09.2005. Anlässlich des Städtetags 2005 referierte Bundesrat Christoph Blocher über die Bedeutung der Gemeinden. Er lobte den Lokalpatriotismus als Ausdruck eines Konkurrenzverhältnisses, der die Schweiz auszeichnet, da Konkurrenz zu besseren Leistungen und zu mehr Produktivität führe. Was hingegen die Rolle des Staates angeht, so plädierte der Justizminister für Zurückhaltung, da der Staat vor allem die freie Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger nicht behindern solle.

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren Stadt- und Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten
Sehr geehrte Damen und Herren

Dass ich hier zu Ihnen spreche, ist nicht selbstverständlich, denn ich verletze im Grunde genommen den Dienstweg. Direktkontakte zwischen dem Bund und den Gemeinden haben nämlich Ausnahmecharakter und werden namentlich von den Kantonen mit Recht misstrauisch beobachtet! Der Weg führt über die Kantone zu den Gemeinden, was Städte ja auch sind. Um diesen Weg etwas abzukürzen, schuf man den tripartiten Weg; d.h. Bund, Kantone, Gemeinden bereden eine Sache gemeinsam.

I. Die Bedeutung der Gemeinden

Kein geringerer als Gottfried Keller liess eines seiner berühmtesten Bücher, den „grünen Heinrich“, mit dem Satz beginnen: „Zu den schönsten vor allen in der Schweiz gehören diejenigen Städte, welche an einem See (…) liegen“. Winterthur tut das bekanntermassen nicht. Und die Winterthurer wollen das bekanntermassen auch nicht. Sie haben schliesslich in einer Volksabstimmung die Schaffung eines künstlichen Sees ausdrücklich abgelehnt. Aber Gottfried Keller war halt ein Stadt-Zürcher und stark von seiner Vaterstadt geprägt. Genauso wie ein Winterthurer, der seine Stadt inmitten der sieben Hügel – Lindberg, Wolfensberg, Beerenberg, Brühlberg, Ebnet, Eschenberg-Heiligberg und Hegiberg-Etzberg – bevorzugt.

Ein Winterthurer hat mir einmal stolz erklärt: „Wir haben keinen See, dafür müssen wir auch nicht immer über das Bellevue, um auf die andere Seite zu gelangen.“

Jeder findet seine eigene Heimatstadt die Schönste. Wir alle kennen das Gefühl des Heimwehs, die „Schweizer Krankheit“, wie es noch zu Zeiten der Reisläuferei hiess. Als durch und durch föderalistischer Mensch schreibe ich der Gemeinde und ihrer Autonomie einen hohen Stellenwert zu. Schon deshalb, damit jeder seine eigene Heimatstadt die Schönste finden kann.

Ob in einer Quartierstrasse ein Fahrverbot eingeführt wird, ob mit einem neuen Zonenplan eine Überbauung genehmigt wird oder nicht, ob ein neues Schulhaus geplant wird oder nicht: stets sind die Folgen konkret sichtbar in der Gemeinde.

Wegen dieser Bürgernähe sind die Gemeinden auch, um es mit dem Motto des diesjährigen Städtetages zu sagen, „Sensoren der gesellschaftlichen Entwicklung“ – aber auch der Fehlentwicklungen, was im Motto Ihrer Tagung ausgeklammert wird…

Der Lokalpatriotismus ist auch Ausdruck eines Konkurrenzverhältnisses – was unser Land ebenfalls auszeichnet. Denn Konkurrenz – dieser edle Wettkampf – spornt an zu besseren Leistungen, zu mehr Produktivität, dazu, sich selbst zu übertreffen. Konkurrenz führt so letztlich zu mehr Wohlstand, mehr Qualität für alle.

Wie soll sich aber der Staat für die Verwurzelung der Menschen, für engagierte Bürger einsetzen? Und soll er das überhaupt?
Es wird Sie nicht wundern, wenn ich auch in diesem Bereich für eine zurückhaltende Rolle des Staates plädiere:

Nach meinem Freiheitsbegriff soll der Staat vor allem die freie Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger nicht behindern. Das gehört zu den wichtigsten Rahmenbedingungen für den Schutz und die Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger. Das dürfte für Städte und Gemeinden, die die Wünsche und Ansprüche der Bevölkerung am intensivsten und direkt – gleichsam von Angesicht zu Angesicht – erleben, am schwersten fallen.

Es heisst nämlich oft zu Erfordertem und Gewünschtem Nein zu sagen. Nein sagen zu zahlreichen Forderungen und gut gemeinten Impulsen und Anregungen in den Gemeinden, insbesondere der Städte.

Wie steht es aber mit den entscheidenden Impulsen für Veränderungen, für die Verbesserung der Rahmenbedingungen?
Wie sind die Gebiets- und Kompetenzreformen zu bewerten? Letztere lassen sich besonders deutlich an der Geschichte Winterthurs verdeutlichen.

II. Gebietsreformen

Als die Stadt mit ihren ausgestreckten Armen die umliegenden Dörfer erreichte – das ehemals römische Oberwinterthur am Lindberg, das bäuerliche Seen, das industrialisierte Töss, das verstädterte Winzerdorf Veltheim am Gallispiz und das herrschaftliche Wülflingen am Zusammenfluss von Eulach und Töss – schlossen diese sich mit der Stadt zusammen. So wurde aus dem wirtschaftlich bereits weitgehend vereinheitlichten Siedlungsraum auch eine politische Einheit, das Steuergefälle zwischen den von Arbeitern und Bauern bewohnten Vororten und den gewerbe- und handeltreibenden Stadtbewohnern wurde beseitigt.

Die Einwohnerzahl der Stadt verdoppelte sich 1922, im Jahr der Stadtvereinigung, mit einem Schlag von 26’000 auf rund 50’000. Nach dem 2. Weltkrieg stieg die Zahl noch einmal auf beinahe das Doppelte. In etwa vier Jahren soll die Hunderttausendergrenze erreicht sein – auch wenn man das schon vor 20 Jahren sagte. Winterthur ist jedenfalls eine der wenigen Schweizer Städte, die noch wachsen.

Auch heute gibt es wieder viele Städte, die mit den umliegenden Dörfern zusammenwachsen. Rein verwaltungstechnisch betrachtet stimmt die Gliederung unseres Landes in 2900 Gemeinden mit den heutigen Lebensverhältnissen vielleicht nicht mehr immer überein. Was läge also näher, als die historisch gewachsenen Grenzen dem Lauf der Geschichte anzupassen? Doch Städte und Gemeinden sind nicht nur Verwaltungseinheiten.

Es sind Lebensräume und Lebensgemeinschaften; also lebendige Gebilde und darum ist der Widerstand gegen Zusammenlegungen nicht einfach negativ zu sehen. Die Lebensfähigkeit von Gemeinden darf man nicht nur an den besseren Auslastungskosten der Gemeindeverwaltung messen.

Dies haben sogar wirtschaftliche Unternehmen erkennen müssen. Ein Grossteil der „Gebietsbereinigungen“ (in der Wirtschaft als Fusionen und Akquisition bekannt) sind – obwohl sie kostenmässig durchaus Sinn machten – gescheitert. Nun weiss ich, was Sie denken: Nicht alle Gebietsbereinigungen und Zusammen-legungen wurden mit edlen Gründen bekämpft. Sie denken: Viele Politiker würden sich eben scheuen, die Tatsachen zu nennen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Es sei unpopulär, über Gemeindefusionen und Gebietsreformen zu sprechen, weil dabei zwangsläufig Möglichkeiten zur Profilierung verloren gingen.

Statt zwei gäbe es nur noch einen Gemeindepräsidenten. Nur noch einen Feuerwehrkommandanten. Das ist nicht ganz abwegig. Nur dürfte dies am Schluss nicht ausschlaggebend sein für die Bürger: Die Einwohner hängen an ihrer Gemeinde, in der sie verwurzelt sind. Vielleicht auch an ihrem – nur von ihnen gewählten – Gemeindepräsidenten. Deshalb sind auch politische Fusionen dornenreich und mit ungewissen Erfolgschancen behaftet. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass sie in fusionierten Gebilden über grössere Fragen abzustimmen haben, dafür aber ihre Stimme mit viel mehr Menschen teilen müssen.

III. Die Entdeckung der Agglomeration

Die Politiker haben angesichts dieser Schwierigkeiten einen neuen Begriff zum politischen Programm erhoben:
Die „Agglomeration“ oder – noch modischer – die „Metropolitanregion“.
Meist erklären sie die Agglomerationen zu einem Problemgebiet. Dabei sind diese die dynamischsten Regionen unseres Landes.

IV. Agglomeration als gemeinsamer Lebensraum?

Etwas fraglich ist es, wenn Politiker die Agglomerationen als gemeinsamen Lebensraum beschwören. Hier scheint mir der Wunsch der Vater des Gedankens zu sein. Die Bewohner hätten eine gemeinsame Identität – glaubt man – oder sie seien daran, eine solche zu entwickeln – ist man überzeugt. Meines Erachtens ein zu idealistischer Ansatz! Die Unterschiede innerhalb der Agglomerationen sind nicht unerheblich. Im Zentrum der Agglomeration wohnen Leute, die das städtische Lebensgefühl suchen.

Im äusseren Gürtel leben hingegen oft gerade diejenigen, die das städtische Lebensgefühl meiden. Mit dem Begriff der Agglomeration werden diese unterschiedlichen Bedürfnisse etwas beiseite gewischt. Man tut so, als bestünden zwischen Winterthur und Dättlikon (gehört zur Agglomeration Winterthur) intensive gemeinsame Bande und ein gemeinsames Lebensgefühl. Dabei gibt es bloss gewisse gemeinsame Interessen, vor allem im technischen und administrativen Bereich!

Dies ist zu berücksichtigen bei der so genannten Agglomerationspolitik. Oft scheitert diese im Konkreten, weil man zu viele Gemeinschaftsgefühle hineinprojiziert. Häufig wird es dann problematisch, wenn neue Gremien auf Agglomerationsebene geschaffen werden, die letztlich demokratisch auf wackeligem Grund stehen. Da werden die Bürger misstrauisch.

Wie oft hat man neue Institutionen und neue Planungsinstrumente propagiert und dann nachträglich gemerkt, dass sie nicht durch zu bringen sind!

V. Der Ruf nach dem Bund

Wohl gerade infolge dieser Problematik wird nach einer machtvollen und unterstützenden Rolle des Bundes gerufen. Mit dem Qualitätssiegel des Bundes soll den Agglomerationen eine höhere Sendungskraft verliehen werden. Mit Subventionen an den Agglomerationsverkehr zum Beispiel will man die Agglomerationsentwicklung indirekt beeinflussen. Aber kann eine Agglomerationspolitik, die am Schwanz, d.h. an den Bundesbeiträgen aufgezäumt wird, wirklich erfolgreich sein? Oder müssen die Impulse nicht primär von den Städten, Gemeinden und – subsidiär – von den Kantonen kommen? Die Antwort dürfte auf der Hand liegen.

Vergessen wir nicht: Die beste Agglomerationspolitik ist jene, bei welcher wir nicht zusätzliche Gremien schaffen, sondern eine solche, bei welcher die Gemeinden und Städte in eigener Verantwortung zur Zusammenarbeit finden und dabei gelegentlich über ihren eigenen Schatten springen. Trotz aller Kompliziertheiten sind die demokratischen Grundsätze streng zu achten. Deshalb wünsche ich mir im Interesse der Gemeinden und Städte Gemeindepräsidenten und -präsidentinnen, die zur Zusammenarbeit bereit und fähig sind, hohen Respekt für die Aufnahme auch anderer Ansichten aufbringen und über viel demokratischen Respekt verfügen, um in Abstimmungen ihre Bevölkerung für ihre Projekte zu gewinnen. Ich bin überzeugt, dass in Urnengängen die Bevölkerung ebenfalls mitmacht, wenn man ihr die Vorteile der Zusammenarbeit möglichst anschaulich präsentiert:

Bessere Verkehrsverbindungen, breiteres Ausbildungs- und Kulturangebot, geringere Ausgaben, geringere Steuern durch das Zusammenlegen von Dienstleistungen und anderes mehr, aber unter Berücksichtigung der Lebensgemeinschaften und der demokratischen Kompetenzen der Stimmbürger.

VI. Die Rolle des Bundes in der Agglomerationspolitik

Und der Bund? Meines Erachtens darf sich der Bund auf keinen Fall zum Spiritus Rector der Agglomerationspolitik aufschwingen, er darf diese Rolle getrost den Gemeinden, Städten und den Kantonen überlassen. Gerade in der Agglomerationspolitik soll das Ganze von unten kommen. Der Bund muss sich im Hintergrund halten, aber bei seiner Politik den Anliegen der Gemeinden Rechnung tragen. Dazu ist er verfassungsrechtlich auch aufgerufen.

Den grössten Dienst kann der Bund den Städten und Gemeinden und damit den Agglomerationen leisten, wenn er eine möglichst berechenbare Politik verfolgt. Wenn er nichts verspricht, was er nicht halten kann, und das hält, was er verspricht. Wenn er dadurch seine Schulden wieder auf ein erträgliches Mass zurückschraubt und die Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht hält. Dies kann der Bund nur, wenn er die Eigenverantwortung – gerade auch der Gemeinden – fördert, aber auch die Kompetenzen klar definiert. So wird die Abhängigkeit vom Bund und das Damoklesschwert stets neuer Sparrunden beseitigt. Wenn der Bund durch eine zurückhaltende Ausgabenpolitik den Einnahmenspielraum der Gemeinden und der Kantone tendenziell erhöht, gewinnen auch die Städte an Handlungsspielraum.

Die Gemeinden, allenfalls mit den Kantonen, sind dann weitgehend in der Lage, ihre Agglomerationsangelegenheiten selbst zu regeln.

VII. Autonomie der Städte

Die Schweiz ist von unten her entstanden. Selbstverantwortliche Bürger, autonome Städte und Gemeinden bilden starke Kantone und schliesslich ein starkes Land. Die Schweiz ist im Boden der Gemeinden verwurzelt und bezieht aus ihnen ihre Kraft. Heute ist eine fatale Tendenz festzustellen: „Hilfe von oben“ zu holen, aber auch Hilfe von oben anzubieten. In der Regel ist das gleichzeitig auch die Bereitschaft, Kompetenzen und Selbstständigkeit nach oben zu verkaufen. Entwicklungen werden pathologisiert, statt als Chance begriffen. Helfen heisst meist zahlen. Und wer zahlt befiehlt.

Die Städte und Gemeinden sind mehr als ein Teil von subventionisierbaren Agglomerationen mit schwammiger Ausprägung. Unsere Schweiz ist nichts ohne die Städte und Gemeinden. Aber nur wenn diese über eine möglichst hohe Autonomie verfügen und diese auch nützen. Auch wirtschaftlich! Nestlé hat ihren Sitz nicht im Bund, sondern in Vevey! Die Chemie ist in Basel, nicht im Bund. Rieter und die „Winterthur“ sind in Winterthur domiziliert. Von den Städten und Gemeinden gehen die wirtschaftlichen und kulturellen Impulse aus. Wer, wenn nicht sie, sollten sie geben? Wenn sie die Sensoren der gesellschaftlichen Entwicklung sind, dann kann man diese auch früher nutzen.

VIII. Grabe, wo du stehst!

In der Archäologie soll der Grundsatz gelten: „Grabe, wo du stehst!“ Auf die Politik übertragen, heisst das: Wirke zunächst in deinem Umfeld, übernimm Verantwortung für Deinen Aufgabenbereich! Für die Gemeinden heisst dies: Verlieren Sie sich nicht in internationaler Betriebsamkeiten, an interkulturellen Konferenzen, wenn möglich über das Internet und an Welt-Gipfeln über irgendwelche utopische Visionen. Erfolgreich ist: Global denken, aber lokal zu handeln! Das gilt für die Wirtschaft und die Politik. Nur wer bei sich alle Hausaufgaben gemacht hat, kann – aber nur dann – in einem weiteren Kreis Verantwortung übernehmen. Auch dies wussten schon unsere Vorväter. Gottfried Keller schrieb im „grünen Heinrich“: „Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Tür.“ Das heisst aber auch: Seine Kräfte nicht verzetteln, sondern konzentrieren.

IX. Subsidiarität und Freiheit

Konzentration der Kräfte heisst auch, dass sich die Zusammenarbeit zwischen dem Bund, den 26 Kantonen und den 2900 Gemeinden auf das beschränkt, was tatsächlich alle 3 Ebenen zugleich betrifft. Sonst werden die Verantwortungen verwischt, und es wird Sand ins föderalistische Getriebe geworfen. Der Bund soll deshalb nicht direkt auf die Gemeinden durchgreifen. Das verlangt meines Erachtens die Verfassung zu Recht. Die Städte müssen in ihrem Kanton Mehrheiten finden und für ihre Anliegen überzeugen. Es dient allen Staatsebenen, wenn das Subsidiaritätsprinzip, das bewährte Urprinzip der Schweiz, strikt eingehalten wird. Der Städteartikel in der Bundesverfassung ist keine Grundlage für neue Bundeskompetenzen, keine Grundlagen zur Ausschüttung von Subventionen oder ein Mittel, um die Kantone auszuschalten!

Schlusswort

Nochmals: Denken Sie als Mitglieder der Gemeindeexekutiven daran: Wer zahlt, befiehlt. Bewahren Sie die Freiheit und den Handlungsspielraum Ihrer Stadt, machen Sie die Stadt konkurrenzfähig und prosperierend durch optimale Rahmenbedingungen. Am Anfang des Staates war die Stadt. Ohne Stadt ist kein Staat zu machen. Früher hiess es, Stadtluft macht frei. Also atmen Sie tief durch und nutzen Sie diese Freiheit zu Ihren Gunsten.

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