Schweizer sind keine Dorftrottel

«Heute feiert die SVP des Bezirks Meilen ihren 50. Geburtstag. Der Herrliberger Bundesrat Christoph Blocher im Gespräch über seinen Werdegang und die Probleme am rechten Ufer.»

08.03.2007, Tages-Anzeiger, Raphael Briner

Warum sind Sie in den Bezirk Meilen gezogen?

Rein zufällig. Meine Frau war Lehrerin in Weinfelden. Sie füllte den Brotkorb für die Studentenehe. Dann war mein Arbeitsort Zürich. Vor der Geburt unseres ersten Kindes suchten wir etwas in der Nähe und fanden 1969 im vierten Stock eines Neubaus in Feldmeilen eine Blockwohnung.

Vor zehn Jahren sind Sie von Meilen nach Herrliberg gezogen. Fühlen Sie sich heute als Herrliberger?
Ja, auch wenn die örtliche Bindung nicht mehr ganz gleich ist wie in Meilen, wo unsere Kinder zur Schule gingen und meine Frau, die als Lehrerin in Feldmeilen manchmal aushalf, viel mehr Bekannte hatte. Wir kennen aber viele Leute in Herrliberg, die wir schon vorher gekannt hatten, auch viele aus der Partei. Heute ist es uns wohl in Herrliberg.

Im Kulturkreis Herrliberg sind Sie Mitglied, man sieht Sie und Ihre Frau immer wieder an Vogtei-Anlässen. Sind Sie sonst noch irgendwo dabei? Kittenmühle-Aktionär? Sponsor des Fussball-Kunstrasens?

Es gibt viele Vereine, die ich bei besonderen Anlässen unterstützt habe, und jawohl, Kittenmühle-Aktionär bin ich auch. Das ist eine Aktienbeteiligung, die mir als Bundesrat noch erlaubt ist! Ich bin aber auch Aktionär des Restaurants Vorderer Pfannenstiel in Meilen. Ich behandle die Konkurrenten also gleich.

Bis vor zehn Jahren waren die Leute beeindruckt: Der Ems-Chemie-Multimillionär Blocher wohnt an der Rainstrasse in Meilen in einem bescheidenen Einfamilienhaus. Kein Vergleich zu Ihrer Festung auf dem Herrliberger Olymp.
Wir bauten dieses Haus in Meilen für die Familie. Dort wohnt jetzt unsere Tochter mit ihrer Familie. Sie leitet heute die Ems Chemie. Wir zogen nicht nur nach Herrliberg, um da zu wohnen, sondern verlegten auch den Sitz der Ems dorthin. Das Gebäude in Herrliberg, von dem man nicht recht weiss, ob es jetzt eine Kirche oder ein Spital ist, das ist nicht unser Wohnhaus, sondern der Sitz der Ems Chemie Holding AG mit Büros.

Sie sind als junger Jurist an die Goldküste gekommen und dann wirtschaftlich und politisch rasch aufgestiegen. Wie sind Sie hier aufgenommen worden an der Goldküste, in der guten Gesellschaft mit Familien wie Wille und Gut?
Bereits an einem der ersten Abende – kaum hatten wir gezügelt – bin ich in die Politik hineingezogen worden. Wir gingen ans 1.-August-Feuer in Feldmeilen. Die Meilemer klagten mir ihre Not mit dem Zonenplan und der Ansiedlung der Alusuisse. Ich sagte: Das könnt Ihr ja nicht zulassen. Sie fragten mich, ob ich in einem Komitee mitmachen würde, das das Projekt verhindert, und ich stellte mich spontan zur Verfügung und habe die ganze Opposition mit angeführt, mit Leuten wie Florian Niggli und andern, alteingesessenen Feldnern.

Und die Alteingesessenen nahmen die Einmischung hin?
Ich wurde natürlich am Anfang sehr angefeindet. Damals war LdU­-Nationalrat Theodor Kloter Gemeindepräsident. Die Gemeindeversammlung fand in zwei Turnhallen statt. In der einen war er, in die andere wurden die Reden übertragen. Als ich zum zweiten Mal ans Rednerpult schritt, sagte Kloter – in der Meinung, das Mikrophon sei abgestellt – zu seinem Nachbarn am Präsidententisch: “Jetzt chunnt dä dumm Siech scho wider!”, was dann über Lautsprecher in den andern Saal getragen wurde. Das mit der Alusuisse war eine harte Auseinandersetzung, da haben sich Leute zum Teil nicht mehr gegrüsst. Heute erinnert sich aber kaum noch jemand daran. Mit der Familie Wille bin ich befreundet!

Mit Ihrem Status würde man Sie in der Haute volée der Goldküste ansiedeln: Unternehmer, reich, Bundesrat. Verkehren Sie heute mit Herrlibergern wie Nikolaus Senn, Hans Imhof, Jürg Marquard?
Ich hatte noch nie Berührungsängste. Aber ich habe mich nie in einen Filz einbinden lassen. Nikolaus Senn kenne ich natürlich, der war ja Präsident der Schweizerischen Bankgesellschaft, als ich im Verwaltungsrat war. Er musste mich rauswerfen, weil ich gegen den EU-Beitritt war (lacht). Das waren harte Auseinandersetzungen, aber ich habe mit ihm immer noch ein gutes Verhältnis. Er wohnt ja gleich unterhalb von mir.

Wo verkehren Sie denn?
Handwerker, Kaminfeger, Bauern, Unternehmer, Hausfrauen, Lehrlinge – was Sie wollen. Ich habe immer in der breiten Bevölkerung verkehrt und habe auch Freude daran. Da mache ich keinen Unterschied. Ausnahme: Bei den Heuchlern und süssen Frommen, da bin ich immer ein bisschen vorsichtig. Das hat mir mein Vater, der Pfarrer war, beigebracht.

Als Sie im Dezember 2003 in den Bundesrat gewählt worden waren, patrouillierte hinter Ihrem Haus die Polizei. Sie haben eine 2,2 Meter hohe Mauer um Ihre Festung herum gebaut. Ist Ihnen in Herrliberg jemals jemand zu nahe gekommen?
Nein. Ein Bundesrat steht unter Polizeischutz, ob nötig oder nicht. Es gibt immer Situationen, wo es nötig ist. Doch über die eigene Sicherheit spricht man nicht. Zur Umfassungsmauer, die Sie läppischerweise als Festung bezeichnen: Ich habe ja Freude an den Menschen, aber wir möchten auch ab und zu allein sein.

Sie sind die ganze Woche in Bern in einer Stadtwohnung und kommen kaum noch dazu, Ihr Herrliberger Heimetli zu geniessen.
Das ist der Preis, den Sie zahlen, wenn Sie Bundesrat werden. Ich hatte grosse Freude, dass wir endlich in Herrliberg wohnten und ich zu Fuss den grossen Garten hinunter ins Büro gehen konnte und nicht mehr wie früher übers Bellevue in die Zürcher Selnau fahren musste. Und kaum habe ich drei Jahre lang dieses Glück gehabt, wohne ich in Herrliberg und arbeite in Bern. So ist das Leben!

Wo versteuern Sie jetzt eigentlich Ihre gut 400’000 Franken Einkommen? Im Juli hiess es, Bundesräte müssten neu als Wochenaufenthalter 30 Prozent in der Bundesstadt versteuern.
Bis jetzt habe ich alles im Kanton Zürich versteuert. Mal sehen, ob das geändert wird. Ich will keine Steuerregelung, die nicht auch für alle anderen gilt. Aber es geht lediglich um das Salär als Bundesrat, nicht um die Vermögenserträge und das Vermögen.

Es war mal Gesprächsstoff in der Nachbarschaft, dass Sie sich -­ vielleicht nicht so oft wie damals Ruth Metzler ­- mit dem Bundeshelikopter hinter Ihrem Haus absetzen lassen könnten. Kommt das vor?
Sehr selten. Wenn ich zum Beispiel am gleichen Tag nach Chur und dann nach Genf und nach Basel muss, dann bringt der Heli etwas. Von Bern nach Herrliberg ­- das lohnt sich nicht. Wenn ich in Herrliberg lande, dann auf dem Bauernhof der benachbarten Familie Stalder. Das Schöne ist: Die Familie hat Freude daran, besonders die Kinder.

Manchmal sieht man Sie und Ihre Frau gegen Wetzwil hin spazieren am Sonntagmorgen. Früher waren Sie bekannt fürs frühmorgendliche Joggen. Tun Sie das noch, jetzt einfach “der Aare nah” statt über den Erich-Schärer-Weg?
Nein, in Bern mach ich das nicht. Ich müsste einen Sicherheitsbeamten mitnehmen. Das ist mir zu kompliziert. Aber wenn ich zu Hause bin, bin ich gerne frühmorgens draussen. Die Sommerzeit hat aber Nachteile. Wenn es endlich hell wäre am Morgen, kommt wieder die Zeitverschiebung.

Waren Sie damals dagegen? Da waren Sie ja schon nicht mehr Bauer.
Ja, wir haben ja das Referendum ergriffen. Die Sommerzeit wurde beim ersten Mal abgelehnt, nach einem Jahr wurde sie dann trotzdem eingeführt. Wenn alle rundherum die Sommerzeit einführen, ist die Schweiz zu klein für eine eigene Zeitzone.

Es ist vielleicht nicht wahrscheinlich, aber möglich, dass das Parlament Sie im Dezember bei den Bundesratswahlen in Pension schickt. Was machen Sie dann? Imkern in Wetzwil?
Endlich mal nichts! Doch damit befasse ich mich gar nicht. Ich stelle mich wieder zur Verfügung ­- gegen starke rot-grüne Kräfte natürlich. Wenn ich nicht mehr gewählt werden sollte, hat die Partei auch schon entschieden: Dann gehen wir in die Opposition, und da werde ich nicht darum herumkommen, auch wieder eine Rolle zu übernehmen.

Noch eine letzte Frage: Was machen Sie am 4. Oktober?
Hoppla . . . (überlegt) Ich weiss es nicht, aber am 4. Oktober ist unser 40. Hochzeitstag.

Ja, wir wollten nur sicher sein, dass Sie ihn nicht vergessen.
Ich musste zuerst überlegen: “Da isch öppis Cheibs”, aber ich habe zuerst nicht mehr gewusst, was.

Heute beschäftigen Handyantennen, die Zubetonierung der Goldküste, Schulstreit und Südanflüge die Leute am See. Welche Themen waren neben der Alusuisse aktuell, als Sie in die Politik einstiegen?
Grosse Themen waren die geplante Höhenstrasse dem Pfannenstiel entlang und der Seeuferweg. Zudem die drohende Überbevölkerung. Die Schweiz werde 10 Millionen Einwohner haben. Man solle weniger Kinder haben, hiess es. 20 Jahre später hat man gesagt, es gebe zu wenig Kinder. Jede Hochkonjunktur zimmerte eine eigene Weltuntergangskatastrophe!

Welche weiteren Probleme gab es?
Später waren das Waldsterben und das Ozonloch ein Thema, heute ist es der Klimawandel. Der Bezirk Meilen ist eben eine wohlhabende Region, da sprechen die Leute gerne auf Untergangsszenarien an.

Neben der SVP hat sich auch die FDP um Ihre Mitgliedschaft bemüht. Weshalb haben Sie sich für die SVP entschieden und nicht für die damals dominante FDP?
Die Freisinnigen wären in Frage gekommen vom Gedankengut her. Ich habe übrigens beim grossen Zugunglück in Feldmeilen 1971 den FDP-Ortsparteiprädidenten tot aus dem Zug geborgen. Wenige Tage zuvor hatte er mich um eine Parteimitgliedschaft gefragt! Die Leute von der SVP haben mir damals persönlich am Besten gefallen, das waren Handwerker und Bauern.

Jetzt sind Sie in der grossen nationalen Politik. Beschäftigen Sie sich noch mit dem politischen Geschehen im Bezirk?
Nur über meine Frau. Sie liest fleissig die Zeitungen und nimmt teil am Gemeindeleben. Allerdings beschäftige ich mich natürlich auf Bundesebene mit den Südanflügen. Ich habe ja zuhause in Herrliberg ab 6 Uhr Anschauungsunterricht dazu.

Glauben Sie, dass die Schweiz in Sachen Südanflüge noch etwas ausrichten kann?
Ja, da kann man schon etwas machen längerfristig. Wir müssen klar auf den gekröpften Nordanflug setzen.

Wir haben den Eindruck, dass sich die Leute im Bezirk Meilen am meisten über die grosse Bautätigkeit aufregen. Sie haben zum Planungsrecht dissertiert. Haben Sie ein Rezept?
Rund um mein altes Haus in Feldmeilen ist unterdessen auch alles verbaut. Meine Tochter lebt trotzdem noch dort. Das geht schon. Ich habe in Herrliberg aber so viel Land gekauft, dass man nicht vor meine Nase bauen kann.

Nicht alle haben Ihre Möglichkeiten. Nochmals: Wie soll sich der Bezirk baulich entwickeln?
Das rechte Seeufer ist natürlich eine sehr bevorzugte Wohnlage, darum ist es stark bebaut. Die Art des Bauens ist aber leider eine Folge des Zürcher Bau- und Planungsgesetztes. Ich habe dieses Mitte der Siebzigerjahre bekämpft und dabei die erste politische Niederlage erlitten. Ich wollte ein lockereres Gesetz und habe prophezeit, dass es zu einer Schemabauweise kommen werde, in der jeder verdichtete Bauten vor die Nase des anderen stellt.

Sie können das Unbehagen der Leute also verstehen?

Ja. Man muss aber auch sehen, dass früher die Devise war, man müsse die Leute zum Bauen zwingen, dazu, dass sie die Böden ausnützen. Es hat alles Vor- und Nachteile. Und jetzt herrscht Hochkonjunktur. Wenn mal wieder eine Rezession kommt, suchen alle nach Aufträgen in der Industrie und im Bauwesen.

Was hat sich in der SVP-Bezirkspartei seit Ihrer Präsidentschaft verändert?
Es ist die gleiche Veränderung, der das ganze rechte Seeufer unterworfen gewesen ist: Die Partei ist städtischer geworden. Wir haben heute viel mehr Leute aus dem Banken- und dem Dienstleistungssektor. Damals war der Bezirk – mit Ausnahme von Zollikon und Küsnacht – ländlich, so wie wir es heute noch in Hombrechtikon sehen.

Und politisch?
Als ich nach Meilen kam, war der Bezirk freisinnig. In den letzten Nationalratswahlen von 2003 war dann die SVP erstmals stärkste Partei. Das zeigt die Entwicklung, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren begonnen hat.

Inwiefern?
Wir wurden zur gesamtschweizerischen SVP, welche nicht nur bäuerliche und gewerbliche Kreise ansprach, sondern die ganze Bevölkerung. Damals wohnten neben mir weitere führende Exponenten am See wie der Stäfner Rudolf Reichling oder Walter Frey aus Küsnacht. Aus der Bezirkspartei kamen daher entscheidende Impulse für die SVP Schweiz.

Die Zürcher SVP hat aber einen Regierungsratssitz verloren und zaubert eher profillose Leute aus dem Hut wie Ex-Parteipräsident Good, dessen Nachfolger Frei und den Ständeratskandidaten Geiger. Haben Sie ein Vakuum hinterlassen?
An wem messen Sie diese Leute?

An Ihnen.
Ja eben. An jemandem, der 26 Jahre die Partei geführt hat, 24 Jahre Nationalrat war. Messen Sie sie doch an den Leuten der anderen Parteien. Die genannten profilierte, sehr gute Leute. Spontan kommt mir jetzt nicht gerade ein Präsident einer anderen Kantonalpartei in den Sinn.

Sie haben im Prinzip versagt, weil Sie keine Nachfolge aufgebaut haben.
Das ist Ihre Sichtweise. Aber die SVP des Kantons Zürich hat hervorragende Leute: Rita Fuhrer, Hans Hofmann, Ueli Maurer, Christoph Mörgeli, Walter Frey, und, und… Auch Hans Geiger halte ich für einen exzellenten Kandidaten. Früher hat der “Tages-Anzeiger” geschrieben, die Partei habe nur Blocher an der Spitze. Der sei wie eine Wettertanne, die alles überdacht. Und jetzt, da der von Ihrer Zeitung vielfach Verschnödete weg ist, müssen Sie die andern schlecht machen!

Haben Sie bei der Ständeratskandidatur Geiger Ihren Einfluss geltend gemacht?
Ich bin nur noch pro Forma im Vorstand der Kantonal- und der Bezirkspartei. Aber natürlich besprechen sich Parteifreunde. Ich kann Hans Geiger nur empfehlen!

Zum Schluss eine ganz persönliche Frage, die aber auch eine politische ist: Sie gelten als Chefverteidiger der Schweizer Werte. Gleichzeitig sind Sie unschweizerisch in dem Sinn, dass Sie herausragen. Ist das nicht ein unauflöslicher Widerspruch, der Sie einsam macht?
Das mit der Einsamkeit hat etwas. Das ist immer so in solchen Funktionen. Aber schweizerisch sein heisst nicht, dass man ein Dorftrottel ist. Das Schweizerische als Ganzes, weil es demokratisch und für Gleichberechtigung ist, hat jedoch immer etwas Durchschnittliches. Das ganz Besondere setzt sich nicht durch, aber das ganz Schlimme auch nicht. Das ist der Vorteil. Aber, und das ist das Wesentliche: Die Schweiz hatte immer “herausragende” Leute! Und auf diese wurde gehört. Sie haben das aber nicht getan zum persönlichen Vorteil, sondern um dem Gesamten zu nützen. Einmal ist ein amerikanischer Senator in die Schweiz gekommen. Er hat mich getroffen und gesagt, alle würden von mir reden. “Warum denn das? Sie sind ja gar nichts, nicht Bundesrat und nicht Parteipräsident”, fragte er. “Sehen Sie”, sagte ich ihm, “das ist eben die Schweiz! Es kommt nicht darauf an, welches Amt jemand hat, sondern ob er als Persönlichkeit etwas zu sagen hat.” In diesem Sinne bin ich eine typisch schweizerische Person.

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