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13.11.2010

Abgeschottet oder Insel der Glückseligkeit?

Die Schweiz in Europa Meine Replik auf den Beitrag von Adolf Muschg für die "BaZ" vom 13.11.10 Beitrag von Adolf Muschg, BaZ 6.11.10 In einem Streitgespräch entfuhr Adolf Muschg kürzlich der Ausspruch, die EU sei etwas für „intelligente Leute“. Die Missfallenskundgebung im Publikum galt wohl dem versteckten Vorwurf, dass sich die Dummen für eine unabhängige Schweiz entschieden hätten. In den letzten Monaten sprach ich nicht nur mit Dichtern und Professoren, sondern gerade auch in der Europäischen Union mit Unternehmern, Gewerbetreibenden, Taxifahrern, Rentnern. Sie sind wütend über andere EU-Staaten, ihre Zukunftssorgen sind gross, das Ansehen ihrer Politiker ist klein. Sie sehen die Schwäche des Euro, die unglaubliche Verschuldung der meisten EU-Staaten und die hilflosen Rettungsaktionen mit Milliarden, die niemand besitzt. Und sie beneiden die Schweiz, weil sie nicht dabei sei. Der angeblich abgeschottete Sonderfall wird plötzlich zum Vorbild und zur "Insel der Glückseligkeit" – aber leider auch zum Objekt des Neides. Fehlkonstruktion Was sich gegenwärtig in der Europäischen Union zeigt, ist mehr als eine Krise. Die EU offenbart nun mit aller Deutlichkeit ihre intellektuelle Fehlkonstruktion. Sie harmonisiert, behandelt gleich, was ungleich ist, verteilt um, merzt den Wettbewerb aus – kurz: Sie verletzt ständig die liberalen Grundsätze. Der schlimmste Sündenfall war die Schaffung des Euro, einer gemeinsamen Währung für Länder mit völlig unterschiedlichen Finanz-, Steuer- und Wirtschaftsordnungen. Lange konnte man die Mangelhaftigkeit dieses Euro-Konstruktes überspielen und verdecken. Doch jetzt ist der Traum der europäischen Eliten in Politik, Verwaltung, Medien, Kultur und Gesellschaft gescheitert. Das Experiment, verschiedenste volkswirtschaftliche Mentalitäten und Kulturen unter ein einheitliches, gleichmacherisches Recht und unter eine gleiche Währung zu zwingen, konnte nicht erfolgreich sein. Dramatische Folgen Die Folgen der gewaltigen Umverteilung sind dramatisch. Der Tüchtige finanziert jene, die über ihre Verhältnisse leben. Die Empfänger verliessen und verlassen sich auf die Geber, sie tricksten und fälschten Statistiken und Bilanzen, arbeiteten immer weniger, gingen immer früher in Rente und schufen statt Arbeitsstellen in der Wirtschaft massenhaft Staatsstellen. Kommt es zum Kollaps, werden Milliarden von Euros bereitgestellt, um den Bankrott von EU-Mitgliedsländern vorläufig abzuwenden – was andere zu noch splendiderem Verhalten in der Zukunft animiert. Einschreiten kann niemand. Seit Jahren ist der Euro für die einen Länder zu stark und für die andern zu schwach. Weil eben alle verschieden sind, aber trotzdem die gleiche Währung haben. Das musste bald zu gewaltigen Fehlentwicklungen führen. Kein Staat konnte durch die eigene Notenbank und eine eigene Währung eingreifen; man hat ihnen ja beides genommen. Ein Ausstieg aus der Währung ist in der EU nicht vorgesehen. Es zeigt sich die alte Weisheit: Politische Währungen ohne wirtschaftlich solides Fundament waren in der Geschichte noch nie über längere Zeit erfolgreich. Und die Schweiz? Noch steht die Schweiz wesentlich besser da. Doch unsere Politiker brauchen sich darauf nicht allzu viel einzubilden. Dass die kleine Schweiz nicht im Schlamassel der EU versinkt, ist nicht der weit vorausschauenden Weisheit von Politikern, Verwaltung, Wirtschaftsfunktionären, Medien oder „Intellektuellen“  zu verdanken. Denn diese wollten und wollen mehrheitlich in die EU und haben auch ein Beitrittsgesuch in Brüssel deponiert. Grosse, zentralistische, gleichmacherische Systeme üben auf die Eliten ihre Faszination aus. Nein, die bessere Stellung der Schweiz verdanken wir allein der besonderen Staatsform der Schweiz, einer freiheitlichen Verfassung, die auf der Basis der Souveränität und der Neutralität eines direktdemokratischen Kleinstaats mit betont föderalistischer Struktur beruht. Sie gibt den Bürgern und den 26 Kantonen die letzte Entscheidungsmacht. Europa begreifen Es waren denn auch Volk und Stände, die in der wichtigsten Volksabstimmung des letzten Jahrhunderts – am 6. Dezember 1992 – mit ihrem Nein zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) den Politikern den Eintritt in den Vorhof zur EU versperrten. Wir verdanken die bessere Situation also dem liberalen, bürgerfreundlichen, föderalistischen Sonderfall Schweiz. Und heute wollen alle in die Schweiz: die Reichen, die Armen, die Flüchtlinge, die Erwerbstätigen, die Selbständigerwerbenden, die legalen und illegalen Einwanderer. Unser Kleinstaat steht immer noch da. Denn unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben vielleicht mehr von Europa begriffen als Generationen von Brüsseler Bürokraten. Sie haben sich instinktiv an einen grossen Schweizer Denker gehalten, dem möglicherweise nicht einmal Professor Adolf Muschg die Intelligenz absprechen könnte. Der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt schrieb schon vor über hundert Jahren: „Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangseinheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den vielartigen Reichtum seines Geistes, bedroht.“

04.11.2010

Etwas für anspruchsvolle Leute

Streitgespräch in der «Weltwoche» vom 4. November 2010 Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg fordert für sein Land den EU-Beitritt. Sein grosser Gegner, der Politiker Christoph Blocher, hält das Gegenteil für zwingend. Im grossen Weltwoche-Streitgespräch stehen sich die beiden Antipoden erstmals seit Jahren wieder gegenüber.Von Roger Köppel Herr Muschg, in Ihrem neuen Roman «Sax» haben Sie, wie Sie selber sagten, ein halbes Jahrhundert Ihrer Lebenszeit als ­Gespenstergeschichte aufgeschrieben. Was ist der tiefere Grund dafür, dass Sie ausgerechnet dieses Genre wählten? Muschg: Ich bin als Halbwüchsiger mit Spuk-Erscheinungen bekanntgeworden. Und wünschte mir damals, eine Spukgeschichte zu schreiben. Es hat mich selbst überrascht, dass dieses Bedürfnis mächtig genug wurde für ein so dickes Buch. Einst war ein Medium jemand, der eine Beziehung zum Jenseits herstellen konnte. Heute ist der Spuk der Medien der, dass eigentlich alle Beteiligten nicht mehr ganz da sind. Das Spukhafteste ­habe ich in Dubai erfahren, einem Ort, dessen Verwandtschaft mit der Schweiz nicht auf der Hand liegt. Immerhin: Es gibt eine rein indigene Bevölkerung, eine Handvoll Wüstensöhne, die eine riesige Mehrheit fast rechtloser Gastarbeiter kommandieren und sehr stolz auf ihre Identität sind. Sie haben eine märchenhafte Skyline aufgezogen, und in diesem Kulissenzauber machen sie ihre Geschäfte mit der ganzen Welt. Globalisierung und Provinz sind da auf eine Art zusammengekommen, die sogar Herrn Blocher das Fürchten lehren müsste. Für einen Betrachter wie mich haben die sogenannten Realisten, nicht nur in der Finanzwirtschaft, eine zunehmend virtuelle Realität hervorgebracht, und das gilt nicht nur für Dubai. Globalisierungsphänomene haben etwas Spukhaftes. Ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung hat zu Ihrem Roman geschrieben, es sei auch ein Abgesang auf die 68er Generation. Steckt diese Botschaft im Buch? Muschg: Sicher. Das Buch beginnt ja mit einer Wette. Drei junge Advokaten, die sich als Anwaltskollektiv verstehen – das ist ein Wort aus den Sechzigern und Siebzigern –, also junge Linke aus guten Häusern wie die meisten Wortführer damals, mieten sich im Haus «Zum eisernen Zeit» ein. Der Vater des einen Advokaten sagt zum Hausbesitzer, einem Banker: «Wollen wir wetten, dass sich deine (Haus-)Gespenster und das Gespenst des Kommunismus gegenseitig austreiben?» Das Buch ist eigentlich die Beschreibung dieser Wette. Dabei sind die jungen Leute bald nicht mehr wiederzuerkennen. In Ihrem Buch spielt auch eine Figur eine nicht unmassgebliche Rolle, ein Politiker und Unternehmer, den Sie als «unholden Vater des Vaterlandes» beschreiben. Dieser Politiker, Melchior Schiess, bringe durch sein Eigengewicht jede demokratische Balance zum Kippen. Der Mann ist Milliardär, Unternehmer mit Schaffhauser Dialekt, Sammler von Bildern des Malers Albert Anker, und Sie schreiben, dass durch das Gepolter dieses Volkstribuns die letzten Freunde der Schweiz verscheucht worden seien. Kann es sein, dass dieser Mann heute auf dem Podium neben Ihnen sitzt – Christoph Blocher? Muschg: . . . nicht einmal, was den Dialekt betrifft. Aber für den kann sich Herr Blocher selber wehren. Offenbar übt dieser Schiess/Blocher eine unheimliche, ja geradezu gespenstische Faszination auf Sie aus. Muschg: Eine kleine Vorbemerkung. In der Antike lebte ein Maler, der hiess Apelles. Er konnte so täuschend malen, dass die Vögel auf seine gemalten Früchte geflogen sind. Mit anderen Worten: Die Figur Melchior Schiess ist Herr Blocher, und er ist es nicht. Die Faszination der realen Person bleibt unbestritten, sonst sässen wir nicht hier. In diesem Roman habe ich mit ihm gearbeitet und mit seiner aktuellen Person gespielt, aber die literarische Figur ist nicht identisch mit der aktuellen. Zum Beispiel ist mein Schiess noch nicht Bundesrat. Herr Blocher, in den Schiess-Passagen des neuen Muschg-Romans geht es um das grosse Thema, das Sie beide trennt: die Europafrage. Fühlen Sie sich richtig eingeschätzt als Politiker, der durch seinen Isolationismuskurs die letzten Freunde der Schweiz verscheucht? Blocher: Ich habe das Buch gekauft, Herr Muschg. Es hat Dinge drin, die stimmen: Ich wohne am Zürichsee, bin Milliardär. Ein Unternehmer muss ja reich sein, denn es gibt nichts Traurigeres als arme Unternehmer. Ich sammle Albert Anker, das weiss man. Mein Dialekt ist schaffhauserisch, ich bin im Zürcher Weinland aufgewachsen, und das Zürcher Weinland ist Schaffhausen orientiert und hat darum eine etwas eigene Sprache, aber ich spreche leider keinen reinen Dialekt, weil meine Eltern Zürichdeutsch gesprochen haben. Ich habe das Buch zu lesen begonnen und die ersten zwanzig, dreissig Seiten verstanden, dann kam ich nicht mehr mit. Wenn es eine Spuk- oder eine Geistergeschichte ist, liegt es an mir, weil ich mich als Unternehmer und pragmatischer Politiker mehr mit der Realität auseinandersetze . . . Deshalb finden Sie die EU-Begeisterung von Herrn Muschg weltfremd. Blocher: An Herrn Muschg schätze ich, dass er zu den Leuten gehört, die sich mit der Schweiz auseinandersetzen. Man setzt sich ja nur mit etwas auseinander, zu dem man eine intensive Beziehung pflegt. Ich schreibe über niemanden, der mir gleichgültig ist. Aber wir stehen auf einer politisch ganz anderen Grundlage. Ich bin ein liberal-konservativer Politiker seit je, Herr Muschg ist ein Sozialdemokrat, er hat für den Ständerat kandidiert. Damals habe ich ihn schon aus der Ferne bekämpft, weil ich gesagt habe: «Der darf nicht nach Bern, das ist nicht in Ordnung!» Können Sie sich an diese Auseinandersetzung noch erinnern? Muschg: Das war 1975. Ich wurde von einem Pfarrer in Witikon aufgefordert zu predigen. Herr Blocher hat daraufhin in einem Leserbrief im Zürcher Unterländer gegen mich und meine vermeintlich linke Gesinnung geschrieben. Ich habe Blocher dann gefragt, ob er die Predigt überhaupt gelesen habe. Das hatte er nicht. Und seither leben wir, sagen wir mal, asymmetrisch: Er liest mich nicht, und ich lese ihn ziemlich intensiv. Was ist weltfremd an Adolf Muschgs Haltung zur EU? Blocher: Die Hauptdifferenz zwischen uns ist, dass er für einen EU-Beitritt ist, ich verachte ihn dafür nicht, aber es ist eine völlig falsche Richtung für die Schweiz. Ich bin überzeugt, dass ein Beitritt der Schweiz schaden, dass die Schweiz an Wohlfahrt, Freiheit und Selbstbestimmung einbüssen würde. Herr Muschg, hat sich Ihre Position bezüglich EU gelockert oder verhärtet? Muschg: Die Position hat sich radikalisiert. Erstens: Der Ausgangspunkt für mich ist die Schweizer Geschichte. Ich gehe dabei vom 19. Jahrhundert aus. Die Schweiz wurde ja nicht 1291 gegründet, sondern 1848. Wenn ich die damaligen Diskussionen innerhalb der Schweiz verfolge, gleichen sie strukturell aufs Haar den Diskussionen, die wir heute innerhalb der EU erleben. Die Schweiz war ein heterogener Verbund. Es brauchte enorme Energie und einen kleinen Bürgerkrieg, dass sie 1848 zusammenkam. Die Linke und die Liberalen waren noch vereint, die Konservativen und Föderalisten waren auf der anderen Seite. Gescheite Leute sassen schon damals zwischen vielen Stühlen. Zweitens: Ich gehöre zu denen, die das Jahr 1945 als ein auch auf die Schweiz bezogenes Datum erleben. Ich bin als kleiner Superpatriot aufgewachsen: Man musste am 1. August beim Höhenfeuer dabei sein und «Rufst du, mein Vaterland» singen. Nach 1945 hat sich dieses uns umgebende Europa aus Trümmern wieder erhoben und einen Staatenbund geschaffen, den ich auch für mich als verpflichtend empfinde. Für mich als Schweizer – das meine ich mit «Radikalisierung» – verlangt diese Konstruktion Teilnehmer, nicht Zuschauer, wenn ihre Statik in Frage steht wie heute. Ich hafte genauso für ihre Haltbarkeit, wie wenn ich Deutscher wäre oder Franzose oder Lette oder Russe. Die staatspolitische und die friedenspolitische Leistung der EU ist eine einzigartige Errungenschaft und ein Muster auch für die übrige Welt. Herr Blocher, warum kommen Sie als Bewunderer der Schweizer Bundesstaatsgründung nicht zu den gleichen Schlüssen wie Adolf Muschg? Sie müssten ja eigentlich auch die Parallelen sehen. Blocher: Wer sagt, wir sollten der EU beitreten, das sei wie 1848, der sagt, die Schweiz solle ein Kanton von Brüssel werden. Das will ich nicht, das ist auch nicht nötig. 1848 war die Diskussion eine ganz andere. Erstens: Hinter 1848 lagen fünfzig Jahre mehr oder weniger ausländische Beeinflussung der Schweiz. Die Franzosen waren gekommen und gestalteten die Schweiz nach ihrem Gusto. Napoleon zog dann relativ schnell wieder ab, allerdings nahm er noch den Berner Goldschatz mit. Danach rafften sich die Schweizer auf. Wesentlich war, dass man gesagt hat: «Wir nehmen die Sache selbst in die Hand!» Ich wäre damals auf der Seite der liberalen Vorkämpfer des Bundesstaats gestanden. Danach wurde eine eigene Währung geschaffen, aber nicht eine politisch begründete wie später in der EU. Nochmals: Ein EU-Beitritt wäre für die Schweiz ein Fehler. Er brächte uns Nachteile und der EU nichts – ausser unserem Geld, das wir abliefern müssten. Andere Staaten traten der EU bei, weil sie sich Vorteile versprachen. Für die Schweiz gilt, was ich als Unternehmer meinen Leuten sagte: «Denke global, aber handle lokal!» Aber es stimmt doch: Die EU von heute könnte sich zusammenraufen wie einst die in souveräne Kantone zergliederte Schweiz. Blocher: Das Motto dieser Veranstaltung lautet: «Welche Schweiz wollen wir?» Das klingt ja so, als ob man eine Schweiz wollen und konstruieren könnte. Genau so geht es nicht. Die Schweiz ist nicht erfunden worden, sondern sie ist entstanden und gewachsen. 1848 wurde ein neuer Staat gegründet mit zentralen Kompetenzen, mit Landesverteidigung. Die Kantone sollten etwas zu sagen haben, gleich viel wie das Volk. Das gibt es alles nicht in der EU. Schliesslich wurde in der Schweiz die direkte Demokratie massiv ausgebaut. Nichts davon in der EU. Dieser Punkt, Herr Muschg, müsste Sie beunruhigen. Wir beobachten in EU-Mitgliedstaaten einen Ruf nach mehr direkter Demokratie. Die Turbulenzen um den Stuttgarter Bahnhof sind nur ein aktuelles Beispiel. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Schweiz in der EU nicht unter die Räder kommt? Muschg: Ich habe diese Gewissheit so wenig wie Sie, aber ich kann mithelfen, die Chance dafür zu verbessern. Ich rede nicht als EU-Vertreter, sondern als selbstkritischer Patriot, wenn ich daran erinnere: Um zu werden, was sie ist, musste die Schweiz genau wie Europa zuerst kurz und klein geschlagen werden, zuerst 1798 von den Heeren der Französischen Revolution. 1803 korrigierte Bonaparte den verfehlten Einheitsstaat durch seine Mediation. Dass wir Kantone haben, verdanken wir den Franzosen. Und wo kam die Neutralität her, die bewaffnete? Sie wurde der Schweiz verordnet am Wiener Kongress 1815 auf Betreiben des Zaren Alexander I. von Russland. Das Volk war tief gespalten bis zum Bürgerkrieg 1847. Da haben nicht wir, nicht Sie und nicht ich gewonnen, sondern eine bestimmte Partei, die Fortschrittsliberalen, hat ihre Schweiz durchgedrückt, und der Rest des 19. Jahrhunderts wurde darauf verwendet, die andere Hälfte der Schweizer Schritt für Schritt zu integrieren, die nicht für die Verfassung von 1848 gestimmt haben. Deren Väter waren gegen die direkte Demokratie. Die hat erst die Demokratische Partei in den siebziger Jahren eingeführt. Blocher: Ich bin gar nicht einverstanden. Es ist typisch, dass der Schriftsteller nur die geschriebenen Rechtsakte sieht. Dabei ist die Neutralität der Schweiz viel älter. Sie geht zurück auf die Schlacht von Marignano 1515. Muschg: Wenn Sie mein Buch gelesen hätten, fänden Sie einen Marignano-Saal. Blocher: Ich habe davon gehört. Auf die  Schlacht von Marignano geht unsere Neutralität zurück, die ist viel älter als der Bundesstaat. Es folgte der berühmte Satz, der Niklaus von der Flüe zugeschrieben wird: «Machet den Zun nit zuwit», und: «Mischt euch nicht in fremde Händel.» Jetzt ist die Schweiz hier. Würden wir der EU beitreten, müssten wir die wesentlichen Elemente unseres Staates preisgeben, die Neutralität, aber auch  direkte Demokratie. Herr Muschg, ist es nicht doch so? Die Schweiz würde sich in einer EU auflösen wie ein Stück Zucker im Tee. Muschg: Hat sich Dänemark aufgelöst? Die Niederlande? Der grosse Unterschied zwischen Ihnen und mir, Herr Blocher, ist eben, dass ich mich an der EU mitbeteiligt fühle. Ich sehe viele Schweizer, vor allem im Ausland, deren politisches, föderalistisches, demokratisches Know-how in der EU überaus gefragt wäre, wenn sie es denn einsetzen könnten. Letten und Portugiesen sind ebenso weit auseinander wie Appenzeller und Genfer; sie müssen einander nicht mögen. Es funktioniert trotzdem. Und die Weisheit, die nötig ist, um diesen Erdteil zusammenzuhalten – eine Festung muss er darum nicht werden –, diese Weisheit ist der Schweiz schon ein Stück weit in Gewohnheit übergegangen. Diese Mitgift müssen wir nicht für uns behalten. Dass die Schweiz sich begnügt, im Windschatten des epochalen Versuchs zu segeln, tut mir weh, wie eine unverdiente Beleidigung. Herr Blocher, es stimmt ja, dass sich dieses Land immer gegen ausländische Vögte und Machtgelüste zur Wehr gesetzt hat. Handkehrum achtete man darauf, die anderen nicht zu sehr zu reizen. Gehen Sie mit Ihrem Konfrontationskurs zu weit? Blocher: Wenn man in einem selbständigen Land lebt, ist es mühsamer, die eigene Position zu vertreten, als sich von einem Dritten vereinnahmen zu lassen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die Schweizer Geschichte ist seit 700 Jahren geprägt durch das mühselige Ringen um die Unabhängigkeit. Es stimmt nicht, dass die anderen Staaten nicht wüssten, was die direkte Demokratie sei. Sie wollen sie nicht! Das nehme ich der EU nicht einmal übel. Ich bin kein Missionar für die direkte Demokratie in anderen Ländern. Natürlich hat die Demokratie auch Mängel. Volkes Stimme ist nicht Gottes Stimme. Das ist mir auch klar. Aber wenn ich die Geschichte anschaue: So schlimm ist die direkte Demokratie nicht herausgekommen. Die Fehlentscheidungen der Politiker und der Regierungen waren viel verheerender. Als die Schweiz 1848 gegründet wurde, gab es weder die Volksinitiative noch das Referendumsrecht in der Bundesverfassung. Wieso soll sich die EU nicht in diese Richtung entwickeln? Blocher: Wir können ihr ja immer noch beitreten, wenn sie sich so wunderbar entwickelt! Muschg: Beitragen, Herr Blocher, beitragen! Blocher: Herr Muschg, sehen Sie, die Politiker in Bern sagen, wir könnten dann mitreden. Stimmt: Die Politiker könnten sicher mitreden, aber doch nicht die Bevölkerung. Hier liegt der Unterschied: Wenn Österreich der EU beitritt, dann verlagert sich die Macht vom Regierungsgebäude in Wien auf das Regierungsgebäude in Brüssel. Bei uns verlagert sich die Macht von der Urne nach Brüssel. Herr Muschg, wollen Sie aus Eigeninteresse in die EU, weil Sie dann, als politischer Intellektueller, möglicherweise als Berater für Brüssel wirken könnten? Muschg: Im Gegensatz zu Herrn Blocher bin ich 76, und meine Karriereerwartungen halten sich in Grenzen . . . Blocher (lacht): . . . meine beginnen erst . . . Muschg: . . . mein ökonomisches Interesse an einem EU-Beitritt darf ich vernachlässigen. Für das kulturelle und das geistige Interesse wehre ich mich. Die Schweiz und die EU sitzen im gleichen Boot. Wir können schon ­einen Salon darin einrichten und uns vormachen, dieser Salon sei autonom. Übrigens klingt das Klagelied, das Sie, Herr Blocher, gegen Brüssel anstimmen, ähnlich wie dasjenige gegen Bundesbern. Auch deutsche Politiker brauchen Brüssel gern als Sündenbock für alles, was im eigenen Land nicht läuft. Frankreich wirft, ohne Volksabstimmung und Schäfchenplakat, unerwünschte Ausländer hinaus. In Deutschland wird «Multikulti» plötzlich für tot erklärt. Herrscht in der EU überhaupt der Geist, den Sie, Herr Muschg, dort vermuten? Muschg: Man muss dort, wie überall, für diesen Geist kämpfen. Zum Glück bietet die Schweiz Beispiele genug für eine geglückte Ausländerpolitik. Auch Herrn Blochers Vorfahren sind im 19. Jahrhundert zugewandert, wie die Nestlés, die Browns, Boveris und Bührles. Der erste Rektor der Uni Zürich war ein Flüchtling aus Thüringen. Der Aufbau der Schweiz wäre ohne «Asylanten» und ihren Beitrag nicht möglich gewesen. Auch die ETH gäbe es nicht. Was aber sagen Sie, wenn nicht Professoren einwandern, sondern Islamisten, die gegen die Aufklärung anrennen, die Sie hochhalten? Muschg: Das Problem ist unbestritten. Aber für die Lösung ist es nicht gleichgültig, welcher Symbole man sich bedient. Das schwarze Schaf, das von den weissen rausgekickt wird – als wäre die Kerneigenschaft der Ausländer ihre Kriminalität: Das ist keine Politik, sondern, milde gesagt, kurzsichtig – und kleinmütig. Blocher: Die schwarzen Schafe, die hier sind und kriminell sind, die haben das Land zu verlassen. Aber wenn Sie meine Familie ansprechen: Mein Urururgrossvater hat nach dreissig Jahren in der Schweiz für die Einbürgerung einen halben Jahreslohn hinblättern müssen. Daran sehen Sie, was damals eine Schweizer Staatsbürgerschaft noch wert war. Mit den heutigen Problemen hat das nichts zu tun. Herr Muschg, wo liegt für Sie beim Thema Ausländer die Grenze zwischen legitimer Sorge und dem Schüren von Fremdenhass, wie Sie es Herrn Blocher vorwerfen? Muschg: Diese Grenze kennt keiner von uns zum Vornherein, man muss sie an sich selbst erfahren – und für mich ist der Test immer der einzelne Fall. Wie ist der konkrete Sans-Papiers in seine Lage gekommen? Was lerne ich von ihm, auch über mich und meine Gesellschaft? Und was das Grundsätzliche betrifft, Herr Blocher: Wir haben immerhin ein paar internationale Vereinbarungen unterschrieben, dazu gehört das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses hat fundamental mit Menschen- und Völkerrechten zu tun. Sie strapazieren diese Rechtsgüter. Wir landen mit Recht vor «fremden Richtern», falls wir Ihre Ausschaffungsinitiative annehmen sollten. Der Gegenvorschlag des Bundesrates ist allerdings ein Beweis dafür, wie Sie und Ihre SVP seit einigen Jahren die Agenda der Classe politique bestimmen! Ich bin so wenig für den Gegenvorschlag wie für die Initiative, denn er fährt im Kielwasser Ihrer Initiative und macht sie nur gerade knapp völkerrechtskonform. Aber wenn Sie mit Ihrem Ja durchkommen, könnten wir in die Lage der Appenzeller geraten, als sie vom Frauenstimmrecht einfach nichts wissen wollten – da mussten sie auf dem Rechtsweg eines Besseren belehrt werden. Will unser Land, der Sitz internationaler und humanitärer Organisationen, eine ähnliche Abfuhr riskieren? Kann es sich die Schweiz leisten, mit wesentlichen völkerrechtlichen Verträgen, die sie selber unterschrieb, in Konflikt zu geraten? Blocher: Wir sind verpflichtet, das zwingende Völkerrecht einzuhalten. Non­Refoulement bedeutet: Man darf Leute nicht in ein Land zurückweisen, wo die Lebensbedingungen für sie nicht mehr vorhanden sind. Solche Leute sind von unserer Initiative nicht betroffen. Allerdings: Es gibt in der Uno-Flüchtlingskonvention eine Bestimmung, die das Non-Refoulement ausser Kraft setzt. Nämlich für Personen, welche die Sicherheit in ihrem Gastland gefährden. Das wird stets verschwiegen. Schliesslich: Sich auf das Völkerrecht im Ganzen zu berufen, ist problematisch. Man hat das Gefühl, die Völker hätten dieses Recht gemacht. Doch es waren Expertenkommissionen, Beamte, die mit anderen Beamten Verträge geschlossen haben. Es sind lediglich Verträge, die wir auch künden können. Trotzdem: Die Schweiz hat immer darauf geachtet, dass sie nicht alle anderen zu sehr provoziert hat. Mit Ihrem Kurs, Herr Blocher, droht die Schweiz als eine Art Schurkenstaat ins Visier zu geraten. Und dann hat die Schweiz, wie es Herr Muschg formuliert, wirklich keine Freunde mehr. Blocher: Wir müssen doch nicht denken, die ganze Welt müsse uns lieben. Ein Spannungsverhältnis gehört zum Alltag. Wir reden ja auch nicht nur gut über die anderen, das ist doch nicht so schlimm. Und es gibt kein Land, wo so viele Leute hinmöchten wie in die Schweiz. Wir sind auch kein Schurkenstaat. Dieser Vorwurf wäre lächerlich. Wir sind ein Rechtsstaat. Aber wir wollen unser eigenes Recht festsetzen, und da gibt es natürlich Schwierigkeiten mit anderen Staaten, die uns ihre Rechtsvorstellungen aufzwingen möchten. Herr Muschg, Sie betonen den Vorrang des Völkerrechts vor dem Landesrecht. Da müssten Sie ja eigentlich auch für militärische Interventionen wie seinerzeit im Irak gewesen sein. Da wurde ein Terrorregime mit Waffengewalt gestürzt im Namen westlicher Werte. Muschg: So argumentierte damals Joschka Fischer, der deutsche Aussenminister, bei der Intervention in Afghanistan. Wenn man allgemeine Grundsätze geltend macht, ist das immer eine Gratwanderung. Wie viel spezielle Interessen sind daran beteiligt? Es war eine grosse Errungenschaft der Aufklärung, die Menschenrechte für allgemeinverbindlich zu erklären. Aber im konkreten Fall haben sie immer auch eine Nase, und oft sitzt sie schief. Ganz andere Gesellschaften, die darum nicht minderwertig sein müssen, sehen dann nur die machtpolitische Einmischung, die Fortsetzung des alten Kolonialismus. Sind Sie ein Kolonialist für Menschen- und Völkerrechte? Muschg: Es ist ein Dilemma. Die Erbschaft der Aufklärung sollten wir im Sinne Voltaires weitertragen: «Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich setze mein Leben dafür ein, dass du sie äussern kannst.» Grandios – machen wir’s doch eine Nummer kleiner, dafür mit echtem Respekt für das Anderssein der anderen. Auch Idealisten manipulieren, am meisten sich selbst. Vielleicht müssten wir weniger von Toleranz reden und mehr von Neugier und Interesse. Nicht nur gegenüber Chinesen, auch gegenüber den «eigenen» Ausländern müsste gelten: Schweizer sein heisst, fähiger werden, mit Differenzen zu leben, Widersprüche auszuhalten, die man nicht heute oder morgen bereinigen kann. Probleme bleiben unsauber, die Schweiz kann so sauber sein, wie sie will. Grundsätze sind zweischneidig, Verallgemeinerungen fatal. Und hier muss ich einen meiner heiligen Sätze loswerden: Wahrheiten erkenne man immer daran, dass das Gegenteil genauso wahr sei. Das steht in Goethes «Wanderjahren», es gilt auch, sagte Niels Bohr, in der Teilchenphysik. Blocher: Ich würde dazu lieber ein praktisches Beispiel nennen: Ich habe mit Führung zu tun, den ganzen Tag. Ich lehre alle meinen Direktoren: Bringen Sie die Alternative! Wenn wir eine Lösung haben, haben wir nie eine gute Lösung, sondern immer die am wenigsten schlechte. Auch diese hat noch Nachteile, aber das dispensiert mich nicht vom Entscheid, entsprechend zu handeln. Trotz den Nachteilen. Bei der EWR-Abstimmung, als ich sehr alleine war, musste ich den ganzen Tag hören, wie die Crème de la Crème der Wirtschaft bis hin zu den Gewerkschaften, Parteien, Regierungen, Diplomaten sagten, die Schweiz habe keine Überlebenschance, wenn wir zum EWR nein sagen. Ich habe damals oft schlecht geschlafen, weil ich mir auch nicht immer ganz sicher war, ob ich recht habe. Jetzt geht es mir besser. Wir kommen nicht darum herum zu entscheiden. Und auch in der Asylpolitik ist es wichtig, dass man entscheidet und handelt. Als Bundesrat hatte ich mit Personen zu tun, die nach Hause mussten, und natürlich haben sie mir leidgetan. Sie sagten mir, sie hätten es hier doch besser als daheim. Ich erwiderte: Sie haben recht. Wären Sie alleine in der Schweiz, könnten Sie hier bleiben. Wenn ich nun aber ja sage, dann haben wir 10 000 oder 20 000 Menschen, die dasselbe wollen. Dieser Entscheid war nicht per se richtig oder falsch für diese Person. Mir tat es leid, dass die betreffende Familie gehen musste, und es tut mir leid, dass in Somalia schlechtere Verhältnisse herrschen als hier, aber wir können nicht anders vorgehen. In Europa wird diese unbewältigte Ausländer- und Asylfrage noch böse Folgen zeitigen. Muschg: Herr Blocher, wenn ich diese ­Nuance – das Leidtun – in Ihrer Politik wiederfände: wunderbar. Ich fürchte nur: Dann wären Sie nicht der erfolgreiche Politiker, der Sie sind. Sie wissen, wie man Fronten begradigt – in der Kunst haben Sie, so viel ich sehe, einen weniger holzschnittartigen Geschmack. In der politischen Praxis opfern sie die drei armen ­Leute einem Prinzip: Für Pestalozzi hätte die Menschlichkeit beim Einzelfall angefangen. Bei der summarischen Behandlung hört sie auf. Blocher: Das können Sie sagen! Wenn der Verantwortliche in Bern das sagt, dann ist das angenehm für ihn, für die drei Betroffenen vielleicht auch, aber für das Land nicht. Muschg: Lieber Herr Blocher, ich meine ja nicht, dass sie einen Gnadenakt im Sinne des absolutistischen Souveräns aussprechen. Aber es ist ein deutlicher Unterschied, ob man eine Gesellschaft dazu trainiert, auf die anderen, auch wenn sie stören oder fremd sind, mit Abwehr zu reagieren. Ob man dann das Problem von den kriminellen Rändern her definiert oder ob man daran erinnert, was wir Ausländern verdanken. Das geltende Gesetz, das Sie als Justizminister noch gehandhabt haben, hat Sie nicht gezwungen, Ausländer nach Schwarz und Weiss zu sortieren. Dass Ihre Abstimmungspropaganda mit dieser schrecklichen Vereinfachung operiert, mag einprägsam sein; ich beneide Sie nicht darum. Es tut dem Land nicht gut. Es fördert die politische Idiotie, zu Deutsch: die Enge in eigener Sache. Statt Teil der Lösung, wird die Schweiz immer mehr zum Teil des Problems. Herr Blocher, es ist ja unbestritten, dass sich Ausländer immer als ideale politische Sündenböcke eignen. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen berechtigter Politik und Hetze? Blocher: Es ist gar nicht so kompliziert. Natürlich kann man Bevölkerungsmassen irreführen. Noch viel leichter ist es, Parlamente in die Irre zu führen. Ich habe das als Bundesrat gesehen. Vor dem Blick hat niemand so viel Angst gehabt wie die Bundesräte. Das Volk war dagegen viel stärker immun. Zweitens bin ich ein realistischer Menschenbeurteiler. Der Mensch ist nicht nur gut. Er ist manchmal sogar böse. Ich habe nichts übrig für sogenannte Gutmenschen. Ich mag jene, die das Gute bewirken. Wo ist also die Grenze? Sie haben gefragt, wieso bringen Sie pointierte, provokative Botschaften ans Volk, wonach die kriminellen Ausländer rausmüssen? Weil wir während Jahren nicht gehört wurden im Parlament und im Bundesrat! Am Schluss müssen Sie sich doch an den Souverän wenden, an die betroffene Bevölkerung. Und ich habe nicht den Verdacht, dass die Schweizerinnen und Schweizer eine manipulierbare Masse sind, die man auf alle Seiten treiben kann. Herr Blocher, Sie haben Herrn Muschg in der Debatte um nachrichtenlose Vermögen hart attackiert. Von Ihnen sind wenig schmeichelhafte Voten über Intellektuelle überliefert. Sind Sie ein Intellektuellenhasser? Blocher: Ich bin kein Intellektuellenhasser. Die Frage lautet: Was ist ein Intellektueller? Wenn ein Intellektueller jemand ist, der studiert und einen Doktortitel hat, bin auch ich einer. Ich kämpfe gegen diejenigen, die nur Intellektuelle sind. Die haben nur eine einzige Ader, die massgebend ist: den Intellekt. Emotionen werden ausgeklammert, das konkrete Leben wird übersehen. Intellektuell kann man alles immer gut begründen, auch das Falsche. Deshalb sagte ich 1992: Die EU, der EWR und der Euro sind intellek­tuelle Fehlkonstruktionen. Jetzt haben wir am Beispiel Griechenland gesehen, dass der Euro tatsächlich nicht funktioniert. Ich bin klar gegen intellektuelle Systeme, die das Leben ausklammern. Ich lebe gerne! Muschg: Herr Blocher, mit Ihrem Bild des Intellektuellen, das Sie eben gezeichnet haben, haben Sie musterhaft illustriert, warum es in der Schweiz keinen Platz für ihn gibt, und schon gar keinen Respekt ihm gegenüber. In Frankreich wüsste man besser, was ein Intellektueller sein kann: Einer wie Voltaire, der für seine Meinung das Leben einsetzt und das Exil der Unterwerfung vorzieht. Glauben Sie, als Zola sein «J’accuse» der bürgerlichen Gesellschaft entgegenschleuderte, das sei ohne Emotionen abgegangen? Oder das Bekenntnis europäischer Intellektueller zur Schweiz von 1848? Wenn man sich in der Schweiz eine intellektuelle Leistung an den Hut steckt, dann erst hinterher: zum Beispiel Spittelers Rede 1914 «Unser Schweizer Standpunkt». Wann feierte man sie? 1919, nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte – gelesen hat man ihn darum noch lange nicht. Zwischenfrage aus dem Publikum: Herr Muschg, sind Sie als überzeugter Demokrat der Meinung, dass die Europäer über die Dubliner und die Nizza-Verträge abstimmen sollten? Muschg: Sie haben schon gewählt – nicht nur durch ihre Parlamente, auch durch Gewohnheit. Doch ist mir schon klar: Wenn in jedem Land ein Politiker mit dem Talent Herrn Blochers wirkt, der für den Alleingang trommelt, liegt die Antwort auf der Hand: Überall ergäbe die Volksabstimmung ein Nein zur EU. Zum Glück ist die EU kein Fall für Entweder-oder-Entscheidungen. Sie ist etwas für intelligente Leute – oder besser: für anspruchsvolle Leute. Blocher: . . . nach dem EWR-Nein hat es geheissen: Die Dummen haben nein gestimmt und die Gescheiten haben ja gestimmt. Da habe ich gesagt: Ich gehöre ab sofort gerne zu den Dummen. Muschg: Bitte schreiben Sie fürs Protokoll auf: für anspruchsvolle Leute, danke. Herr Blocher, ist Herr Muschg für Sie ein Patriot? Blocher: Ich glaube, er ist ein Patriot. Weil er sich mit dem Land auseinandersetzt. Er hat einfach völlig falsche Vorstellungen, er ist ein gefährlicher Idealist, weil er so weit weg vom menschlichen Leben ist. Herr Muschg, Sie bekämpfen Herrn Blocher jetzt schon seit über dreissig Jahren. Hat es sich gelohnt? Muschg: Sagen wir es so: Ich möchte Herrn Blocher, der mir bescheinigt, dass ich völlig unrecht habe, entgegnen: Er hat völlig halbrecht; und das sind die Schlimmsten!

03.11.2010

Christoph Blocher: «Je n’ai pas de contacts avec Eric Stauffer

Interview «Tribune de Genève» 3.11.2010 L’ex-conseiller fédéral, de passage à Genève, livre sa stratégie pour l’UDC et milite pour le renvoi des criminels étrangers. Fusionner l’UDC genevoise et le MCG? Pas question! A l’occasion de sa venue à Genève pour un débat sur le renvoi des criminels étrangers, l’ex-conseiller fédéral Christoph Blocher dément tout contact entre l’Union démocratique du centre et le Mouvement citoyens genevois. Rencontre. Quel regard portez-vous sur la section genevoise de l’UDC? Les UDC genevois ont perdu du temps à cause de querelles de personnes, c’est dommage. Ces querelles n’intéressent pas les électeurs. Mais la section est encore jeune, elle est comme un vin qui a besoin de mûrir. Avec la nouvelle présidente, Céline Amaudruz, la situation s’est améliorée. L’UDC genevoise a laissé le MCG s’emparer du thème des frontaliers. Une erreur? Oui, peut-être. Je suis un entrepreneur; quand je suis venu à Genève il y a un an, je leur ai dit: ne travaillez pas contre la concurrence. Travaillez pour la Suisse, parlez de la souveraineté suisse et des problèmes avec les étrangers! Eric Stauffer, président du MCG, dit être en contact avec vous… Non, ce n’est pas vrai! La dernière fois que je l’ai vu, c’était sur le plateau de Léman Bleu. On s’est dit bonjour, c’est tout. Il n’y a pas de négociations avec le MCG. Stauffer m’a écrit ensuite deux ou trois fois, mais je n’ai pas répondu. Donc un rapprochement entre l’UDC et le MCG n’est pas prévu? A Berne, c’est l’UDC qui compte, pas le MCG. Je connais ce genre de groupes, on vit la même situation au Tessin avec la Lega. Ils partagent les vues de l’UDC sur certains points, pas sur d’autres. Ces groupes se créent quand la section UDC ne travaille pas bien, puis ils régressent ou disparaissent. L’UDC genevoise souffre aussi de son manque de leaders… Oui, on n’en voit pas encore émerger. C’est le problème avec les jeunes sections, même si, en Valais, on a Oskar Freysinger, par exemple. A Genève, Yves Nidegger a voulu entrer au gouvernement. Mais c’est trop tôt! Il faut d’abord lutter comme parti d’opposition, se renforcer dans les Parlements avant de songer au Conseil d’Etat. Les partis bourgeois promettent de discuter avec l’UDC, de l’aider… Mais j’ai l’expérience de la politique, je connais ces promesses faites au moment des élections. Vous visez 30% des voix aux élections fédérales 2011. A Genève, l’UDC a fait 20% en 2007. Quel est votre objectif cantonal? On ne vise pas 30% dans tous les cantons: certains font plus, d’autres moins, là où les sections sont plus jeunes. Pour Genève, le but sera de faire mieux qu’en 2007. Les opposants à votre initiative sur les délinquants affirment qu’elle ne respecte pas le droit international. Que leur dites-vous ? C’est faux. Elle est compatible avec le droit international contraignant qui proscrit la torture et le refoulement de réfugiés reconnus. Mais de toute manière aujourd’hui, si quelqu’un n’est pas d’accord, il dit toujours que le droit international interdit ceci ou cela, mais c’est faux. On peut être amené à négocier tels ou tel point avec un pays, c’est tout. S’il est condamné un criminel étranger paye deux fois : une fois par la prison, une fois par l’expulsion. Un Suisse criminel ne paye qu’une fois. Normal ? Mais oui ! Tous les pays expulsent les criminels étrangers, les USA par exemple. C’est de la responsabilité d’un pays de reprendre ses citoyens qui se conduisent mal. Et parfois, un pays expulse même si un crime n’a pas été commis : on le voit en France avec les Roms. Un étranger de la deuxième ou de la troisième génération née en Suisse subirait le même sort. C’est normal aussi ? Oui, mais il peut tout faire pour ne pas être criminel, et il peut demander sa naturalisation. Les chiffres sont très clairs : nous avons 22% d’étrangers en Suisse, or ils commettent 59% des crimes graves, 54% des lésions corporelles, 62% des viols. Il faut agir. Mais notre initiative a surtout un effet dissuasif. Parce qu’aujourd’hui, les étrangers criminels n’ont pas peur de faire de la prison ici, avec la télévision en cellule et un bon menu. Mais chez eux, c’est une autre affaire… Vous liez le crime et la nationalité. Mais les étrangers sont aussi proportionnellement plus pauvres, moins formés que les Suisses. Vous pourriez déclarer la guerre aux inégalités pour diminuer la criminalité… Ces causes existent peut-être, mais il faut surtout diminuer la criminalité étrangère qui est considérable et n’est pas engendrée par des Allemands, des Autrichiens ou des Français, il faut le dire. Les étrangers et l’ouverture des frontières sont liés à beaucoup de problèmes : ceux de l’assurance invalidité, du chômage, le trafic routier. Il faut corriger la situation. Cela se fait en Hollande, et en Allemagne ou Angela Merkel a dit que la société multiculturelle était finie. Ici, l’UDC est le seul parti à défendre la souveraineté suisse et le non-entrée dans l’Union européenne. En tant qu’entrepreneur vous savez que la prospérité suisse est aussi liée à la main d’œuvre étrangère. Oui et non. On doit chercher d’abord des employés en Suisse. Evidemment, c’est plus pratique pour un entrepreneur d’avoir plus de monde à disposition pour faire ses choix. Mais après, c’est le pays qui paye. Pour expulser, il faut signer des accords de réadmission. Visiblement, c’est difficile. Que faire ? Il faut négocier avec les pays concernés et bloquer l’aide au développement si cela ne marche pas. Si on veut, on peut faire beaucoup de choses, je l’ai vu au Conseil fédéral ! Si votre initiative est conforme au droit international, pourquoi les Chambres ont-elles présenté un contreprojet ? Pour priver l’UDC d’un succès ! Ils nous disent toujours : « Nous sommes d’accord avec vous, mais… ». Mais quoi ? Leur contreprojet ne dit pas combien de temps un étranger expulsé doit rester hors de Suisse. Il peut faire recours. Cela peut durer des années. Le contreprojet cherche en fait à ne renvoyer personne. De plus en plus, des initiatives fédérales jouent avec les limites du droit international. Selon vous, la souveraineté du peuple l’emporte toujours sur le droit international ou y a-t-il une limite ? Il y a une limite, le droit international contraignant. La peine de mort n’est pas interdite par ce droit. Vous auriez voté pour un rétablissement si l’initiative en sa faveur était passée devant le peuple ? Non, je suis contre. Il y a trop d’erreurs judiciaires possibles. Mais ce genre de proposition reviendra toujours, c’est un sujet émotionnel et quand des crimes horribles sont commis, certains y pensent. Le PSS vient de publier son nouveau programme. Il réclame notamment la fin de l’armée et la rupture avec le capitalisme. Pour vous, ce parti garde-t-il sa place au Conseil fédéral ? Quand le PSS a annoncé qu’il voulait supprimer l’armée, j’ai cru que j’avais mal entendu ! C’est absurde. Le PS veut retourner au communisme. Comment peut-on chercher des compromis avec lui? Cela dit, arithmétiquement, le PS a sa place au Conseil fédéral. Mais il faut voter pour nous bien sûr! Après les élections, je pense qu’il faudra discuter avec les quatre grands partis d’une réforme de notre système. La concordance a bien-sûr des avantages, mais on peut envisager d’aller vers un système bipolaire, avec des majorités et des minorités. On verrait mieux les responsabilités des uns et des autres.

03.11.2010

Blocher: Herr Nay ist ein Parteigutachter

Interview in der «Südostschweiz» vom 3. November 2010 mit Peter Simmen Herr Blocher, die Bündner SVP hat sich über Jahre gegen den Proporz gewehrt. Jetzt aber hat sie eine Initiative zur Einführung des Proporzes lanciert. Sind Sie selber für den Majorz oder den Proporz? Blocher: Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile. Bei der heutigen Wahlkreiseinteilung in Graubünden mit vielen kleinen Wahlkreisen ist aus politischer Sicht sowohl der Proporz als auch der Majorz möglich. Im Kanton Zürich dagegen wäre ich nie für den Majorz. Die SVP Graubünden hat aber Grund, auch in Graubünden den Proporz zu verlangen. Die Gewährleistung der Bündner Kantonsverfassung mit dem Majorz war 2004 im Bundesparlament umstritten. Sie haben sich damals als Bundesrat für die Bündner Verfassung eingesetzt. Blocher: Ja, weil sie der Kanton Graubünden so wollte. Die Gewährleistung der Verfassung war in der Verwaltung rechtlich umstritten. Das zeigt sich an der Botschaft des Bundesrates, in der abschätzige Bemerkungen gegen den Kanton Graubünden enthalten sind. Die Botschaft wurde noch vor meiner Zeit als Bundesrat geschrieben und ich habe mich darüber aufgeregt. Umstritten war nicht das Wahlsystem sondern die Wahlkreiseinteilung. Im Parlament ging die Diskussion nur ums Wahlverfahren. Als Antwort auf die kritischen Äusserungen des Bundesrats verabschiedete das Parlament sogar einen Bericht, in dem die Verfassungsmässigkeit des Majorz betont wurde. Blocher: Die Frage Majorz oder Proporz ist eine politische Frage, nicht eine rechtliche. Ich stellte mich damals auf den Standpunkt, dass es nicht am Bundesparlament liegen könne, eine vom Volk abgesegnete Verfassung in Frage zu stellen, die nicht offensichtlich bundesverfassungswidrig sei. Das Wahlverfahren ist also kompatibel mit der Bundesverfassung. Blocher: Meines Erachtens sind sowohl das Proporzverfahren als auch das Majorzverfahren kompatibel. Aber ich bin nicht das Bundesgericht. Alt Bundesgerichtspräsident Giusep Nay meint, das Bundesgericht toleriere erstens den Majorz, und das Gericht werde zweitens eine vom Volk erst vor wenigen Jahren verabschiedete und vom Parlament gewährleistete Verfassung nicht antasten. Blocher: Herr Nay kann so wenig für das Bundesgericht sprechen wie ich. Er ist heute ein Parteigutachter und für ihn gilt: Im Zweifel gegen den Standpunkt der SVP. Nicht nur hier! Tatsache ist, dass das Bundesgericht nicht an die Gewährleistung durch das Parlament gebunden ist. Es kann einen Sachverhalt selbstständig prüfen und beurteilen, das macht es auch. So hat das Bundesgericht das Zürcher Wahlverfahren geändert, das auf einer gewährleisteten Verfassung basierte. Auch im Kanton Appenzell i.Rh. hat das Bundesgericht korrigiert. Das Bundesgericht beanstandete im Fall von Zürich die Wahlkreiseinteilung, und die war nicht in der Verfassung sondern auf Gesetzesstufe geregelt. Blocher: Aber sie beruhte auf gewährleisteter Verfassung. Nach dem alten System hatten wir über 100 Jahre gewählt. Es war nie verfassungswidrig. Besonders heikel ist der Fall Appenzell: Bei der Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene sagten das Bundesparlament und der Bundesrat ausdrücklich, die Kantone seien nicht verpflichtet, dasselbe zu tun. Dennoch mussten die Appenzeller auf Geheiss des Bundesgerichts ihre gewährleistete Verfassung ändern. Die Gewährleistung dieser Verfassung lag zum Zeitpunkt des Bundesgerichtsentscheids Jahrzehnte zurück. Die Bündner Verfassung wurde erst vor sechs Jahren gewährleistet. Sie setzten sich im Bern ja auch für die Bündner Verfassung ein. Nay meint, es sei nicht Sache des Gerichts, jetzt die Verfassung jetzt schon zu überprüfen. Auch Sie meinen, das Volk sollte das letzte Wort haben, nicht die Richter. Blocher: Ich habe mich als BR für die Gewährleistung ausgesprochen. Hätte der Kanton Graubünden ein Proporzverfahren beschlossen, wie dies die Bündner SVP vorschlägt, hätte ich dies ebenfalls getan. Ich hatte als Bundesrat nur rechtlich zu urteilen. Nay und andere Rechtsexperten sagen, die SVP-Initiative müsse mit Blick auf die ständige Rechtssprechung des Bundesgerichts als ungültig erklärt werden. Das letzte Urteil des Bundesgerichts betrifft den Kanton Nidwalden und wurde in diesem Jahr gefällt. Blocher: Wenn die Initiative eingereicht wird, sollte sie auf keinen Fall aus Respekt vor dem Initiativrecht des Volks für ungültig erklärt werden. Wird sie vom Volk angenommen, sollte sie auch gewährleistet werden, da dies dem Bundesrecht nicht schadet. Und in Nidwalden ging es nicht um die Frage Proporz oder Majorz, sondern um die Wahlkreiseinteilung. Ob die heutige Wahlkreiseinteilung in Graubünden vom Bundesgericht geschützt würde, weiss ich nicht. Wo kein Kläger, ist kein Richter. Der Majorz auf der Basis historisch gewachsener Strukturen, wie er in Graubünden gilt, werde vom Bundesgericht toleriert, sagen Nay und andere Rechtsexperten. Blocher: Ich habe nichts dagegen. Aber das sollte auch für den Proporz gelten, denn bei den heutigen Wahlkreis-Einteilungen werden die Nachteile mit dem Proporz kleiner. Nay betont, dass er sich bei seiner Argumentation an der Rechtssprechung des Bundesgerichts orientiere. Blocher: Das Bundesgericht hat in diesem Falle nichts entschieden. Und auch Herr Nay hat politische Gründe, um zu erreichen, dass die Abstimmung nicht zugelassen wird. Aber er beruft sich lieber auf das Recht und missbraucht seine frühere Stellung als Bundesgerichtspräsident. Die Bündner SVP ist wie ich auch der Meinung, dass mit der heutigen Wahlkreiseinteilung das Proprozverfahren besser und gerechter wäre, als der Majorz. Die Initiative will die Wahlkreise nicht verändern. In einem Zweierwahlkreis braucht ein Kandidat für die Wahl dann 33 Prozent der Stimmen, im Kreis Chur mit 20 Sitzen werden fünf Prozent reichen. Solche Unterschiede halten vor Bundesgericht nicht stand. Blocher: Aber im Majorz ist das noch schlimmer, denn im Majorz braucht es sogar 50 %! Kann das Parlament eine offensichtlich verfassungswidrige Initiative für gültig erklären. Blocher: Die Südostschweiz und Herr Nay bezeichnen dies als offensichtlich. Wenn die Initiative von der CVP, FDP oder der SP eingereicht worden wäre, würden Herr Nay, die Südostschweiz und alle anderen Kritiker die Initiative nicht bemängeln. Das Bundesgericht hat mehrmals gegen Kantone entschieden und einen verfassungswidrigen Proporz korrigiert. Blocher: Aber nicht wegen des Proporzes, den heute praktisch alle Kantone haben. Es ging immer um die Wahlkreise. Ich halte dafür, dass die Politik auch in diesem Falle den Volkswillen respektieren sollte und bei der Beurteilung der Rechtgültigkeit von Initiativen Zurückhaltung üben sollte. Die SVP-Initiative ist vom Volk noch gar nicht gutgeheissen worden. Es geht also nicht um den Volkswillen, sondern um die Verfassungskonformität. Blocher: Das Initiativrecht ist ein Volksrecht, das Politiker verständlicherweise nicht lieben. Leicht findet man rechtliche Gründe, um eine SVP-Initiative für ungültig zu erklären. Nach dem Nidwaldner Urteil geht selbst die Bündner SVP davon aus, dass die Initiative für ungültig erklärt werden wird. Prophylaktisch zeigt sie sich schon bereit, eine Änderung der Wahlkreise zu unterstützen. Blocher: Wenn der Proporz mit den heutigen Wahlkreisen nicht möglich ist, muss man die Änderung der Wahlkreiseinteilung prüfen. Dazu zwingen dann die Ungültigerklärer. Das ist opportunistisch, nicht ehrlich. Die SVP hat noch im Sommer Wahlkampf gemacht mit dem Argument, mit der Proporzinitiative könnten die Wahlkreise beibehalten werden. Jetzt sind die Grossratswahlen vorbei, und schon ist die SVP bereit, bei der strittigen Frage der Wahlkreiseinteilung Hand zu bieten. Blocher: Ihre parteiische Betrachtung übersieht: Die SVP hat versprochen: Proporz ohne Änderung der Wahlkreise. Das will sie. Wenn man ihr das mit rechtlichen Tricks verbietet, muss sie einen anderen Weg finden. Wer die beste Lösung nicht haben kann, muss die zweitbeste wählen, damit aus Sicht der SVP die schlechteste Lösung – d.h. der Majorz – nicht bleibt. Die SVP wusste von Beginn an, dass die Initiative rechtlich heikel ist. Hätte die SVP aber zusätzlich eine neue Wahlkreiseinteilung gefordert, hätte die Initiative bei der eigenen Basis keine Chance gehabt. Blocher: Die Initiative ist rechtlich nicht heikler als das Majorzverfahren mit den heutigen Wahlkreisen. Die SVP will die gleichen Wahlkreise mit Proporz. Lassen Sie das Volk entscheiden und argumentieren Sie politisch und nicht rechtlich. Das wäre ehrlicher! Bisher war die SVP mit Vehemenz gegen eine neue Wahlkreiseinteilung. Noch vor zwei Monaten spielte sich die SVP als Bewahrer der Kreise auf. Jetzt will sie die Kreise aufgeben. Blocher: Wie oft muss ich es Ihnen noch sagen: Die SVP will die heutigen Kreise nicht aufgeben. Das Verhalten gibt aber jenen Recht, die sagen, die SVP sei eine Slalom-Partei. Blocher: Das sagen unsere Gegner. Es gibt keine Partei, die so geradlinig politisiert wie die SVP. Ständerat Christoffel Brändli hat die Meinung zum Proporz seit 2004 um 180 Grad geändert. Das ist schwarz auf weiss belegbar. Blocher: Aus damaliger Sicht machte der Proporz für die SVP auch keinen Sinn. Die Zeiten haben sich seither geändert. Heute wird die SVP in Graubünden ausgegrenzt – von den anderen Parteien und von den Medien. Deshalb braucht sie das Proporzsystem. Jetzt, wo es der SVP nützt, ist sie für den Proporz. Blocher: Ist das anders bei den anderen Parteien? Weshalb wollen CVP, BDP und FDP den Majorz behalten? Weil er ihnen mehr nützt als der Proporz. Und die SP als kleine Partei ist seit Jahren für den Proporz. Die SVP könnte ja die Initiative zurückziehen und zusammen mit der SP eine echte Proporzinitiative mit grösseren Wahlkreisen lancieren. Blocher: Die SVP will die Wahlkreise behalten. Wenn sie ausgetrickst wird, muss sie eine andere Lösung prüfen. Vor dem Bundesparlament sagten Sie, Sie seien froh um die Klarstellung, dass der Majorz bei kantonalen Verfassungen  möglich ist, wenn das Volk das so will. Wären Sie dafür, wenn die SVP das Resultat der nächsten Wahlen, die sicher noch nach dem Majorz stattfinden werden, mit einer Beschwerde in Frage stellt. Blocher: Wenn man ihr den Proporz versperrt, ist dagegen nichts einzuwenden. Die SVP müsste sich also mit einer Beschwerde gegen die Verfassung wehren, für deren Gewährleistung Sie sich im Bundesrat noch gewehrt hatten. Blocher: Damit habe ich keine Mühe. Wenn man den Proporz bei den heutigen Wahlkreisen als verfassungswidrig erklärt, gilt das für den Majorz bei den heutigen Kreisen noch viel mehr. Ich bin nicht der oberste Richter und sage nicht, über mir steht niemand mehr.

09.10.2010

Die EU und die Schweiz – wie weiter?

Mein Beitrag für die «Schaffhauser Nachrichten», Beilage «Zeitfragen» vom 9. Oktober 2010 In der bundesrätlichen Europapolitik herrscht gegenwärtig ein beunruhigendes Durcheinander. Bundespräsidentin Doris Leuthard spricht von „Fortführung des bilateralen Weges“ als das für unser Land „am besten geeignete Instrument“. Gleichzeitig verkündet Aussenministerin Micheline Calmy-Rey: „Die Weiterführung des bilateralen Weges gemäss den bisher geltenden Modalitäten ist nicht denkbar.“ Noch-Bundesrat Moritz Leuenberger sagt: "Die Schweiz sollte der EU beitreten." Was gilt nun? Verdecktes Ziel Hier wird mit gezinkten Karten gespielt. Mit Ausnahme der SVP haben alle Regierungsparteien den EU-Beitritt seit den 90iger Jahren in ihrem Programm. In Brüssel liegt ein offizielles Gesuch zum EU-Beitritt der Schweiz. Das Schweizervolk, das die Vorteile einer unabhängigen Schweiz im Hinblick auf die Krisen in der EU immer mehr gewahr wird, ist immer mehr gegen einen EU-Beitritt. Es ist dem Bundesrat peinlich, dass er jetzt vor dem Wahljahr 2011 zur EU-Frage Stellung beziehen muss. Die offizielle Erklärung ist darum: "Heute kommt ein EU-Beitritt nicht in Frage, es gilt der bilaterale Weg". Doch sofort stellen sich Fragen: Wie ist es morgen? Wohin mit dem bilateralen Weg? Wie soll es nun konkret weiter gehen? Der Bundesrat handelt nach dem bewährten Grundsatz: Wer gar nicht mehr weiter weiss, gründet einen Arbeitskreis. So soll also eine gemischte Arbeitsgruppe aus Vertretern der EU und unserer Bundesverwaltung über „institutionelle Fragen“ beraten. EU-Funktionäre sollen also mitbestimmen, welche institutionelle Bindungen die Schweiz  eingehen soll! Mit neuen Institutionen soll still und heimlich – möglichst ohne Parlament und ganz sicher ohne Volk – künftiges EU-Recht übernommen werden. Das ist zum Nachteil der Schweiz. EU in schlechter Verfassung Als man 1992 den Kampf gegen den EWR führte, wusste man noch nicht, wie sich die damalige EG entwickeln würde. Die EG war noch ein Projekt. Unterdessen ist sie zur EU mutiert, bildet für 17 Staaten eine Währungsunion, hat die Sozialunion und eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Gewiss, ich war schon damals tief überzeugt, dass es sich bei der EU – erst recht mit einer gemeinsamen Euro-Währung – um eine intellektuelle Fehlkonstruktion handle. Aber die gesamte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite sah dies anders. Es gab fast nur Propheten, die der Schweiz ausserhalb der EU keine Chance beimassen. Heute sehen wir, dass es falsche Propheten waren. Zum Glück. Von den Schweizer Tageszeitungen sahen in der EWR-Frage einzig die „Schaffhauser Nachrichten“ klar.  Heute sehen wohl viele - auch die falschen Propheten - klarer: Unserem Land geht es ausserhalb von EWR und EU wesentlich besser als den andern europäischen Staaten. Die EU befindet sich in einer tiefen Krise und muss einzelne Mitgliedstaaten mit Milliardenversprechen vor dem Bankrott bewahren. Der Euro verliert massiv an Vertrauen und wird – nicht wegen des Bankkundengeheimnisses – auf die Schweizer Banken gebracht. Der verspottete Sonderfall wird plötzlich zum beneideten Vorbild. Neu aufflackernde EU-Diskussion Trotz des offensichtlichen Scheiterns der zentralistischen Brüsseler Bürokratie ist die Beitrittsdiskussion hierzulande wieder neu aufgeflackert. Mitte Juli forderte einerseits die angeblich liberale Avenir Suisse den EU- oder zumindest den EWR-Beitritt. Die EU-Spitze andrerseits diktierte, die Schweiz müsse künftig EU-Recht übernehmen und ihre Gerichte anerkennen. Der EU-Botschafter liess uns wissen, dass wir bei einem EU-Beitritt den Euro übernehmen müssten. 1. August-Redner wie Bundesrat Moritz Leuenberger oder alt Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz erklärten unsere Souveränität kurzerhand zum Mythos. Und alt Bundesrat Couchepin prophezeite, die Schweiz müsse wegen des starken Franken der EU beitreten. Nach Couchepins Logik müsste die Schweiz eigentlich Somalia beitreten, denn die dortige Währung ist noch schwächer als der Euro. Was ist zu tun? Die Erklärung, der „bilaterale Weg“ sei das Ziel unserer Europapolitik ist dumm. Die Erklärung hält sich an das Bonmot: "Der "Weg ist das Ziel". Wir lieben zwar diesen Satz. Er ist eine typische Erscheinung der Freizeit- und Vergnügungsgesellschaft. Darum wird einem ganz wohlig zumute. Wer immer diese Gedanken einbringt, erntet daher zustimmendes Gemurmel. Weil das Erreichen eines Zieles eben mühsam ist und verpflichtet, erklärt man den Weg zum Ziel. Denn wer kein messbares Ziel hat, muss schliesslich auch nichts erreichen. Doch genau besehen: "Der Weg ist das Ziel" ist eine der dümmsten Sätze. Er mag vielleicht für den Sonntagsspatziergang mit der Familie richtig sein. Aber auch dort nur bedingt und allenfalls für die Eltern, denn die Kinder wissen meist genau, wohin sie wollen - ihr Ziel ist das nächste Ausflugsrestaurant! Für die Schweizer Politik ist das Ziel unmissverständlich festgehalten in Artikel 2 unserer Bundsverfassung: „Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes.“ Darum darf und kann die Schweiz weder dem EWR noch der EU noch der NATO beitreten. Bilaterale Verträge sind dieser Zielsetzung vollumfänglich unterzuordnen und dürfen keinerlei institutionelle Bindungen eingehen. Bilaterale Verträge dürfen nur dem Zweck dienen, die Interessen der Schweiz zu wahren und nicht EU-Recht zu übernehmen, um schliesslich der EU beizutreten. Der Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs ist die zwingende Logik und der erste Tatbeweis. Wir haben an unserer eigenständigen Währung festzuhalten und jede weitere Staatsverschuldung ist zu vermeiden. Die Personenfreizügigkeit mit sofortigem Zugang zu den Sozialwerken ist unhaltbar und muss neu verhandelt werden. Der Schengen-Vertrag ist zu kündigen um ihn neu auszuhandeln: Die Kriminalität hat dank Schengen enorm zugenommen. Die SVP kämpft als einzige Partei konsequent gegen den EU-Beitritt der Schweiz. Wenn die SVP die Wahlen gewinnt, bleibt die Schweiz unabhängig. Im andern Fall geht der „bilaterale Weg“ unaufhaltsam in Richtung EU-Beitritt. Das schwächt Wohlfahrt, Freiheit und Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz.