Testi
Personale
29.09.2003
18.09.2003
«Natürlich, ich habe Angstträume»
Interview in der "WOZ" vom 18. September 2003 Was inspiriert diesen Mann eigentlich? Wie schafft er es, dass seine Partei so geschlossen auftritt? Die WOZ zu Besuch bei einem ihrer mächtigsten politischen Gegner. von Urs Bruderer und Constantin Seibt Ihrem Bruder sagten Sie einmal: "Überhaupt ist es so - der Sieger ist im Grunde der Verlierer." Christoph Blocher: Da steckt eine tiefe Wahrheit dahinter. Am Abstimmungssonntag nach der EWR-Abstimmung ging ich als Sieger abends um halb acht nach Hause und ins Bett, ich war so kaputt. Suchen Sie dieses Verlierergefühl? Christoph Blocher: Sie können noch weitergehen. Es gibt Leute, die gehen als die grossen Sieger durch die Welt. Wenn Sie genau schauen, haben die meistens gar nichts erschafft, sondern schwimmen nur obenauf. Wer wirklich etwas bewegt, muss oft untendurch. Nehmen Sie Winston Churchill. Mit seinem Durchhaltewillen, der an Sturheit grenzte, hat er für die Befreiung Europas gesorgt. Danach wurde er abgewählt, er konnte nicht einmal den Friedensvertrag unterschreiben. Vordergründig war er der Verlierer, in Wirklichkeit aber der Sieger. Sie sind vordergründig ein grosser Sieger. Christoph Blocher: Ich sehe es nicht so. Jeder Erfolg der Partei macht mir auch Angst: Können wir jetzt machen, was wir müssen? Die Verantwortung wahrnehmen? Suchen Sie diese Angst? Christoph Blocher: Nein. Wie kommen Sie auf diese Idee? Sie haben Churchill erwähnt, den Sie in fast jeder Rede zitieren. Auch ein anderes Ihrer Vorbilder, Generalfeldmarschall Rommel, kämpfte im Zweiten Weltkrieg. Die Liste liesse sich verlängern. Sehnen Sie sich nach harten Zeiten? Christoph Blocher: Nein. Suchen Sie Angst, Not, Gefahr? Christoph Blocher: Nein. Ich nehme die Zeiten so, wie sie sind. Sie sagten auch schon, es sei für ein Volk sehr hart, eine lange Zeit des Wohlstands aushalten zu müssen, wie die Schweiz sie seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Christoph Blocher: Das stimmt. Auch die Unternehmen gehen immer in den guten Zeiten kaputt. In guten Zeiten macht man leichter Fehler. Die Fusionitis der neunziger Jahre war ein für gute Zeiten typischer Grössenwahn. Heute hören Sie von "Fokussierung auf die Kernkompetenz", blöde Wörter, die nichts anderes heissen als: "Wir machen nur noch, was wir können." Sie haben auch schon gesagt, es gehe die halbe Lebenswirklichkeit verloren, wenn es einem gut geht. Mögen Sie gute Zeiten nicht? Christoph Blocher: Doch, natürlich. Ich bin auch nur ein Mensch. Aber ich weiss auch, dass sie schwerer zu ertragen sind, weil die disziplinierenden Lebensbedingungen fehlen. Disziplinierende Lebensbedingungen fanden Sie auch, als Sie in den siebziger Jahren Präsident der SVP des Kantons Zürich wurden. Die Partei lag bei zirka zehn Prozent. Warum entschieden Sie sich damals nicht für die FDP, die voll im Saft war? Christoph Blocher: Weil ich ein 68er bin, nur einer von der anderen Seite. Während Moritz Leuenberger und Thomas Held mit dem berühmten Mao-Buch unter dem Arm unterwegs waren, war ich Mitbegründer des liberal gesinnten Studentenringes. 1972 haben alle drei bürgerlichen Parteien von Meilen gleichzeitig bei mir angeklopft, nachdem sie mich an einer Gemeindeversammlung reden gehört hatten. Die FDP hätte vom Gedankengut her zu mir gepasst, doch waren mir die zu hochnäsig. Was danach folgte, war eine der brillantesten Managementleistungen der Schweiz: der Aufbau der SVP zur grössten Partei. Christoph Blocher: Da war die Partei am Boden, sonst wäre ich nie zum Präsidenten gewählt worden. In guten Zeiten wählt man einen Verwalter, nicht jemanden, der etwas bewirken will. Damals gab es Leute, die meinten, die SVP sollte sich nach links öffnen. So hätten wir die Glaubwürdigkeit und die letzten Wähler aber auch noch verloren. Ich sah das, und das war eine wichtige Weichenstellung. Das Problem war, dass die SVP damals fast ausschliesslich eine Bauern- und Gewerbepartei war. Ganze Bereiche lagen brach, die Bildung, die Aussenpolitik, die Finanzpolitik kam nur am Rande vor. Ich musste die Partei im Gedankengut prägen. SVP-Politiker sind deutlich disziplinierter als Mitglieder anderer Parteien. Wie bringt man das hin? Christoph Blocher: Unser Vorteil ist, dass wir konzeptionell arbeiten, also langfristig und grundsätzlich. Die SVP hat sich ihre Positionen intern erstritten. Diese Arbeit haben die anderen Parteien nie gemacht. Ich gebe zu: Ich war und bin in dieser Beziehung die treibende Kraft. Mit wie vielen Leuten haben Sie das gemacht? Christoph Blocher: Am Anfang braucht es nicht mehr als zwei, drei. Sie können nicht mit sechzig Personen ein Papier formulieren. Aber nachher müssen Sie in die Breite gehen, ins Parteibüro, in die Parteileitung, den Vorstand und die Delegiertenversammlung, wo dann 400 Leute gemeinsam beschliessen. Wer waren damals die beiden anderen Köpfe? Christoph Blocher: Sie fragen jetzt nach zwei, andere sagen, es braucht nur einen… In Zürich war Ruedi Ackeret wichtig. Professor Karl Spühler hat viel gemacht. Heute arbeitet Christoph Mörgeli an diesen Dingen oder, im Sozialbereich, Toni Bortoluzzi und andere. Die Partei wurde immer grösser und mit ihr die Fraktion… Christoph Blocher: Ein grosses Problem. …Politiker sind eitel, wollen sich profilieren. Auffälligkeit erzeugt man durch Dissens. Wie schaffen Sie es, dass die Zürcher SVP im Kantonsrat wie betoniert auftritt? Christoph Blocher: Das ist uns gut gelungen. Am Tag nach den Wahlen 1999, als wir von 45 auf 72 Sitze zulegten, war mir klar, dass wir zusammensitzen müssen. In einer zweitägigen Fraktionssitzung gingen wir alle Punkte durch, die wir verwirklichen wollten, und stimmten darüber ab. Dann haben wir das Programm in der Zeitung veröffentlicht, mit Köpfen und Unterschrift. Politiker anderer Parteien klagen, dass SVP-Vertreter in der Kommission eine Meinung vertreten und nach der Fraktionssitzung das Gegenteil. Christoph Blocher: Das kommt vor. In den Kommissionen werden die Leute mit Information von der Verwaltung zugedeckt, und manchmal sind die Mitglieder nicht in der Lage, das sofort zu durchschauen. Man sollte zuerst in der Fraktion arbeiten und nachher erst in den Kommissionen. Dann würden die Politiker in der Kommission keine eigene Meinung vertreten, sondern als Sprachrohr der Partei auftreten. Christoph Blocher: So, wie es heute läuft, ist die Versuchung riesig, sich auf die Seite der Verwaltung zu stellen. Die liefert ihnen die Begründungen, denken müssen Sie gar nichts. Wie stimmt man die Leute eigentlich um? Christoph Blocher: Indem man eine Sache tiefer durchschaut. Es hat auch mit Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu tun. Heute gelingt es mir leichter als früher, weil die Leute wissen, dass meine Politik bis jetzt erfolgreich war. Ich habe das nicht so gern. Die Leute müssen inhaltlich überzeugt sein, sonst kippen sie, sobald der Erfolg einmal ausbleibt. Gibt es eigentlich Freundschaft in der Politik? Christoph Blocher: Im Volksmund gibt es die Steigerung: Feind, Todfeind, Parteifreund. Da steckt wie immer ein Körnchen Wahrheit drin. Aber ich habe gute Freunde auch in der eigenen Partei. Unter den Überzeugten ergibt sich auch eine menschliche Beziehung, man macht viel durch, wird zu einer Art Schicksalsgemeinschaft. Bei welchen Leuten in der Partei hören Sie genauer hin? Wer inspiriert Sie? Christoph Blocher: Sie müssen verstehen, dass ich darüber nicht rede. Jeder, den ich nenne, ist einer zu viel, jeder, den ich nicht nenne, einer zu wenig. Man tut ja oft so, als ob ich in der SVP eine Herde blökender Schafe hinter mir hätte. Das ist nicht so. Als Politiker muss man oft geben. Um dies zu können, muss man aber auch hören, aufnehmen, und, ganz wichtig, Sie müssen auch Informationen von ausserhalb der Partei haben. Ich habe Leute aus der Wirtschaft, aus der Kultur, aus der Wissenschaft von ausserhalb der Partei. Nur darf ich die nicht nennen, weil ich so umstritten bin, dass die verschossen wären, wenn ich öffentlich sage, dass ich eine Beziehung zu ihnen habe. Das klingt beneidenswert nach Filmstar. Christoph Blocher: Wieso? Nach einem bösen Helden mit sehr viel Macht. Christoph Blocher: Die "classe politique" lehnt doch alles ab, was von Blocher kommt. Nun, es kommt darauf an, wie Sie es servieren. Kellnerqualitäten haben Sie jedenfalls nicht. Christoph Blocher: Servieren hat seine Zeit, und Fordern hat seine Zeit. Wenn Sie den Mainstream ändern wollen, dürfen Sie nicht servieren. Dann müssen Sie die Leute von den Geleisen werfen. Das stimmt, und da sind Sie seit 25 Jahren dran… Christoph Blocher: Und es gelingt nie, wollen Sie sagen. Es ist auf jeden Fall ein sehr entschlossener Versuch. Warum wollen Sie grosse Änderungen in diesem angenehmen, nicht sehr sensationellen Land? Christoph Blocher: Ich finde die Schweiz ein sensationelles Land. Sie nicht? Ich schon! So ein kleines Land, mit vier Kulturen, zweihundert Jahre ohne Krieg und hohem Wohlstand trotz schlechten ökonomischen Voraussetzungen. Ich finde das alles sensationell und glaube nicht, dass wir grosse Änderungen brauchen. Auf der WOZ haben wir seit ungefähr zwei Jahren die Devise "Nicht jammern". Bei Ihnen haben wir den Eindruck, dass Sie uns im Jammern längst überholt haben. In Ihren Reden zeichnen Sie die Schweiz als ein Land, das seine Bürger schröpft… Christoph Blocher: Das stimmt aber auch! …und in dem die Freiheit bedroht ist… Christoph Blocher: Und das auch! Fühlen Sie sich in Ihrer Freiheit bedroht? Christoph Blocher: Ich weniger, weil ich mich in einer beneidenswerten Lage befinde. Freiheit ist auch eine Frage des Status. Aber wenn ich nicht mehr mitentscheiden kann, fühle auch ich mich eingeschränkt. Fühlen Sie sich geschröpft? Christoph Blocher: Das sowieso. Aber ich kann die Schröpfung besser ertragen als einer, der mit Mitteln nicht gesegnet ist. Wer wird denn unerträglich geschröpft? Christoph Blocher: Der Mittelstand wird geschröpft. Wer ist der Mittelstand? Christoph Blocher: Ich definiere so: Wer zu wenig arm ist, um auf staatliche Unterstützung zählen zu können, aber nicht so reich, dass er nach Monaco zügeln muss, weil er sich den Wohnsitz in der Schweiz nicht mehr leisten kann, der gehört zum Mittelstand. Die Definition ist nach oben offen. Christoph Blocher: Nicht ganz. Sie müssen nicht nach Monaco. Christoph Blocher: Darum gehöre ich auch zum Mittelstand. Und unfrei fühlen Sie sich auch? Christoph Blocher: Nehmen wir das neuste Beispiel. Bis jetzt konnten Gemeindebürger sagen, wen sie ins Bürgerrecht aufnehmen. Jetzt hat das Bundesgericht das verboten. Das ist eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit… Sie reden einem Verhältnisblödsinn das Wort. Einbürgerungswillige müssen sich bewerben. Vor einer Kommission geht das, da gibt es gerechte Prüfungen. Aber vor 3000 Leuten, was soll man da machen? Eine Werbekampagne? Den 3000 Bürgern fehlen die Grundlagen für den Entscheid, und Entscheidungen ohne Grundlage sind eine Idiotie. Christoph Blocher: Erstens hat man eine Grundlage, man kennt die Leute, man kann sie kennen, in den Gemeinden, an der Gemeindeversammlung… Jetzt reden Sie an den Realitäten vorbei. Christoph Blocher: Dass Sie nicht gleicher Meinung sind, ist klar. Vielen Bürgern liegt daran, da zu bestimmen, Sie können das gut oder schlecht finden, aber die sind unfrei. Ich gehe weiter. Wir haben x Sachen, die wir wegen internationaler Verträge nicht tun können. Wollen Sie aus allen internationalen Verträgen aussteigen? Christoph Blocher: Da und dort wäre es vielleicht gut. Auf jeden Fall sollten wir uns nicht dauernd mit neuen Verträgen binden. Das sind ja oft Verwaltungsverträge. Die Schweizerinnen und Schweizer haben nichts dazu zu sagen. Sie vermischen Ebenen. Wir sprachen von der persönlichen Freiheit der Bürger. Dass die Schweiz als Land freiwillig Verträge eingeht mit anderen Ländern, ist klar. Christoph Blocher: Ich rede von den Bürgern. Die Politiker können vielleicht noch entscheiden, die Verwaltungsleute auch. Aber die Bürger nicht mehr. Das sind doch normale Entscheidungen. Die Verträge haben Vorteile und Nachteile - sie schaffen Rahmenbedingungen. Es gibt keine Freiheit im leeren Raum. Christoph Blocher: Das stimmt. Aber bei uns fallen immer mehr Entscheidungen in der Verwaltung, sodass der Bürger nicht mehr frei entscheiden kann. So verlieren wir Freiheit an den Staat. Das geht bis in die kleinen Dinge, den Abfall, das Abwasser, Gebühren et cetera. Die Bürokratie fällt über einen her wie der Schnupfen, klar, aber ob das eine wirkliche Einschränkung der Freiheit ist? Christoph Blocher: Ich empfinde es so. Sie empfinden es weniger. Ich nehme an, Sie haben weniger Sachen, wo sie in der Freiheit eingeschränkt sind, als ich als Unternehmer, der bauen muss, der exportieren muss, der Leute anstellen muss, Abrechnungen erstellen, Statistiken ausfüllen. Und Reden halten. Wie bereiten Sie sich darauf eigentlich vor? Christoph Blocher: Die meisten Reden halte ich frei, aber die Albisgüetlirede zum Beispiel schreibe ich auf. Innerlich arbeite ich an der Rede monatelang, bis ich die Konzeption habe. Dann setzte ich mich und schreibe mit Bleistift. Ich bin immer unzufrieden, schreibe einen Entwurf nach dem anderen. Der zirka achtzehnte, den ich nehmen muss, weil keine Zeit mehr bleibt, ist der wenigst schlechte. Denken Sie beim Redenschreiben an die Wirkung? Christoph Blocher: Meine Hauptsorge ist immer, ob man mich versteht. Man sagt, ich rede so einfach. Das musste ich lernen. Als ich noch jung war und meine Kinder klein, hielt ich ihnen meine Reden. Sie mussten aufstrecken, wenn sie etwas nicht verstanden. So habe ich gemerkt, wo ich zu kompliziert formulierte oder, häufiger, wo etwas nicht durchdacht war. Und wie fühlen Sie sich vor 1500 Leuten? Christoph Blocher: Nach dem ersten Satz bin ich innerlich bei der Sache. Davor habe ich jedes Mal unglaublich Lampenfieber. Auf dem Weg zum Pult habe ich oft das Gefühl, die Beine können mich vor lauter Zittern nicht mehr tragen. Träumen Sie davon? Christoph Blocher: Natürlich, Angstträume. Ich stehe vor den Leuten, und es kommt mir nichts in den Sinn. Oder ich sage etwas, das ich gar nicht sagen will. Was halten Sie eigentlich für typisch links? Christoph Blocher: Links steht für viel Staat, rechts steht für wenig Staat. Der Linke glaubt ans Kollektiv und will möglichst viel regeln. Das Kollektiv soll alles richten. Rechts obwiegt der Glaube an den Einzelnen, an den Bürger. Darum sagt der Bürgerliche "Nein" zu zu viel Kollektiv. Die Praxis sieht häufig anders aus. Da haben Sie nicht Unrecht. Zum Beispiel ist die SVP eine wesentlich kollektivere Partei als die SP. Christoph Blocher: In welcher Beziehung sind wir kollektiver? Zum Beispiel in Sachen Geschlossenheit beim Abstimmungsverhalten. Derart ent- und geschlossene Parteien gab es auf linker Seite zuletzt unter jenen Leuten, die mit der Mao-Bibel unterwegs waren. Christoph Blocher: Ich habe diesen Leuten nie Geschlossenheit vorgeworfen, sondern dass sie, geschlossen oder nicht, in die falsche Richtung liefen. Wer nicht an der Spitze steht, hat in der Geschlossenheit beschränkte Aussicht: Er sieht den Vordermann, spürt den Hintermann. Christoph Blocher: Wenn jemand stets eine völlig andere Meinung vertreten will, geht er besser in eine andere Partei. Sie definieren Freiheit als eine Frage von mehr oder weniger Staat. Es geht aber auch um Lebensmöglichkeiten. Wer hart arbeitet, um dann die Pensionierung zu geniessen, führt ein unfreieres Leben als jemand, der in der Hängematte liegt. Es gibt auch die Möglichkeit der Freiheit ausserhalb des Ganzen. "Wenn man einen Beinbruch hat und ein paar Wochen an Krücken geht", sagten Sie einmal, "dann wird das arbeitsfreie Leben plötzlich interessant." Christoph Blocher: Ich habe dieses Beispiel früher an mir selber erlebt, als ich mich an die arbeitsfreien Tage zu gewöhnen begann. Wissen Sie, von mir aus kann einer den ganzen Tag in der Hängematte liegen. Aber wenn die andern das bezahlen müssen, dann wehre ich mich. Diese Mentalität verstehen wir nicht, dieses Gefühl, irgendwie betrogen zu werden. Christoph Blocher: Die Selbstverantwortung verlangt, dass nicht andere für jemanden sorgen, der selbst für sich sorgen könnte. Wir haben einfach einen zu grossen Staat, zu hohe Zwangsabgaben. Es gibt kein System mit perfektem Wirkungsgrad, eine gewisse Verschwendung ist immer da. Christoph Blocher: Man muss Verschwendung bekämpfen, auch wenn man sie nicht ganz verhindern kann. Das ist auch in einem Betrieb so. Nach Ihren Erfolgen könnten Sie sich zur Ruhe setzen. Weshalb widerstehen Sie der Versuchung des arbeitslosen Lebens? Christoph Blocher: Dass ich nicht mehr muss, macht ja den Reiz der Sache aus. Das gibt mir Unabhängigkeit und damit Wirkung. Ich frage mich auch nicht immer, ob ich es andersherum schöner hätte. Ich mache einfach, was ich im Moment für richtig halte. Ist das eine moralische Haltung? Christoph Blocher: Sicher keine moralistische. Moralisten schauen nur darauf, dass sie eine reine Weste haben. Sie machen alles nur, um gute Menschen zu sein. Wer dagegen eine hohe Moral hat, tut das Gegenteil: Er macht etwas, um das Gute zu ermöglichen - ohne ans eigene Ansehen zu denken. Fragen Sie sich manchmal, ob Sie ein guter Mensch sind? Christoph Blocher: Nein. Aber ich frage mich immer wieder, ob es richtig ist, was ich tue oder was ich tat. Diese ewigen Zweifel begleiten mich ununterbrochen. Warum merkt man davon nichts? Christoph Blocher: Wieso soll man das zur Schau stellen? Wer seine Aufgaben gemacht hat, innerlich, der muss nicht seine Zweifel ausbreiten, sondern mit dem Ergebnis kommen. Zweifel auszubreiten, wo Entscheide gefragt sind, ist feige. Sie sagten auch schon, zu differenzieren sei eine Feigheit. Christoph Blocher: Nein, das nicht. Vor einem Entscheid muss man alle Aspekte einer Sache zur Kenntnis nehmen. Hinter jedem Entscheid lauert ja ein Fehlentscheid. Man kann auch ohne Differenzierung zu einer Meinung kommen, nur hält die dann in der Diskussion nicht stand. In der Politik kenne ich fast alle Argumente meiner Gegner im Voraus Führt das mit der Zeit nicht zu einer Art Pingpong? Christoph Blocher: Vor Abstimmungen wird es manchmal fast langweilig. Politik scheint Sie unterdessen ohnehin zu langweilen, oder? Christoph Blocher: Ich fand Politik nie besonders interessant, von allem Anfang an, vor allem das Parlament nicht. Ich erlaube mir oft, nicht dort zu sein. Ich habe in der Politik eine andere Bedeutung bekommen: Ich gebe heute Richtungen vor. Wer, abgesehen von Ihnen, macht das noch? Christoph Blocher: In meiner Partei ist Christoph Mörgeli einer, der stark so arbeitet. Ist er nicht ein bisschen zu scharf und ein bisschen zu hors-sol? Christoph Blocher: Ich habe gern, wenn die Jungen so sind. Sonst werden sie im Alter fertige Philister. Und in den anderen Parteien? Christoph Blocher: Im Moment gibt es nicht sehr viele. Auf der Linken gab es früher den Bodenmann. Warum können das nur so wenige Leute? Christoph Blocher: Ich bin nicht gescheiter als die und auch nicht fähiger. Die befassen sich einfach weniger mit der Sache und heucheln dafür ein bisschen mehr. Auch darum muss ich manchmal aus dem Parlament und nach Hause. Ich halte jedes Klima gut aus, nur nicht das Heuchelklima. Wo wird denn mehr geheuchelt, in der Politik oder in der Wirtschaft? Christoph Blocher: In der Politik, eindeutig. Heucheln heisst ja immer die Lebenswirklichkeit verneinen. In der Politik hat das keine Konsequenzen, in der Wirtschaft gehen Sie so unter. Viele Unternehmen haben über Ethik gesprochen, um eigenen Dreck zuzudecken. Aber sie gingen unter. Man sieht Ihnen eine gewisse Freude an, wenn Sie das erzählen. Christoph Blocher: Ich habe Freude, dass es schief geht, wenn die Lebenswirklichkeit nicht befolgt wird. Schadenfreude kennen Sie nicht? Christoph Blocher: Nein. Geht der Entscheid, sich besonders unheuchlerisch zu geben, nicht auch an der Lebenswirklichkeit vorbei? Christoph Blocher: Wenn einer sagt, er lüge einfach nie, ist das ebenso falsch, wie wenn einer sagt, er lüge immer. Wenn jetzt eine Frau vorbeikommt und ich finde sie furchtbar hässlich, dann lüge ich vielleicht und sage ihr das nicht. Wieder ist das Motiv entscheidend. Der Zweck heiligt die Mittel. Gilt das auch bei politischen Kampagnen? Christoph Blocher: Ja. Aber nicht jeder Zweck heiligt die Mittel, und nicht jedes Mittel wird vom Zweck geheiligt. Wo ist die Grenze? Christoph Blocher: Die muss man selber finden. Bei Provokationen zum Beispiel? Christoph Blocher: Bei Ehrverletzungen und Ähnlichem. Das Messerstecherinserat zum Beispiel muss enorm Spass gemacht haben. Christoph Blocher: Es brachte die Sache auf den Punkt. Da war gar nichts einzuwenden! Die "Filzläuse" waren auch sehr komisch, das Wort "Weichsinnige" auch, die "Zweisinnigen" waren tödlich gut. Christoph Blocher: Wir sind manchmal nächtelang zusammengesessen, bis wir die richtigen Worte fanden. Wer ist wir? Christoph Blocher: Leute aus der Partei und andere, die Ehefrauen waren auch schon dabei. Und wie arbeiten Sie da? Christoph Blocher: Die "Linken und Netten" zum Beispiel entstanden so: Ich habe gefragt, warum es mit unserer Justiz und Verbrechensbekämpfung so schlecht stehe, wo wir Bürgerliche doch die Mehrheit haben. Dann hat einer den Franz Hohler zitiert "Si si halt alli so nätt", und dann kam einer auf die Idee: "Das haben wir den Linken und den Netten zu verdanken." Sie arbeiten bewusst an Ihrer Sprache. In der Ems-Chemie haben Sie Begriffe wie Vision oder Strategie verboten. Christoph Blocher: Ich verbiete Modewörter, Begriffe, die von allen benutzt werden und von allen anders. "Strategie" war einmal so ein Wort. Da habe ich gesagt, wir reden nicht mehr von Strategie, wir reden von Plänen. Das ist viel bodennäher. Heute können wir "Strategie" wieder brauchen, dafür ist "Fokussierung" verboten. Ich habe lieber, wenn die Leute sagen: "Ich beschränke mich auf etwas." Und wenn einer das sagt, weil er weiss, dass der Blocher das gern hört, frage ich als Zweites: "Und was lassen Sie weg?" Eine ungenaue Sprache führt zu einer schlechten Führung. Wie kommt es eigentlich, dass die bestbezahlten und vielleicht auch mächtigsten Leute zwar nicht bei ihren Anzügen, aber in ihren Köpfen nach einer Mode gehen? Was läuft da schief? Christoph Blocher: Mit der Mode gehen ist halt wunderbar einfach. Sie stossen nirgends an.
29.07.2003
Zürich muss in Bundesbern offensiver auftreten
Christoph Blocher und Ruedi Jeker über den kritischen Zustand des Finanzplatzes Zürich, Rahmenbedingungen für Unternehmen und das Gezänk um den Flughafen. Streitgespräch mit Ruedi Jeker in der "Bilanz" vom 29. Juli 2003 Von Medard Meier und Hanspeter Vetsch BILANZ: Unser Magazin hat vor vier Jahren eine erste Spezialausgabe zum Wirtschaftsstandort Zürich veröffentlicht. Damals hing der Zürcher Himmel voller Geigen, heute herrscht Katerstimmung. Was ist schief gelaufen, Herr Jeker? Ruedi Jeker: Der Standort Zürich steht zunehmend nicht mehr mit Basel, Zug oder Genf im Wettbewerb, sondern muss sich gegen starke internationale Konkurrenz behaupten. Das hinterlässt Spuren. Wir sind deshalb daran, für die im Wirtschaftsraum Zürich ansässigen Unternehmen möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen, aber das ist politisch alles andere als einfach, da die Schweizer Weltmeister darin sind, beim Umsetzen von Reformen auf halber Strecke stecken zu bleiben. Viele wollen das noch immer nicht wahrhaben. Christoph Blocher: Zürich ist wie ganz Europa von einer Rezession betroffen - darüber müssen wir nicht reden. Aber Zürich hat zusätzlich massiv hausgemachte Probleme. Der Zusammenbruch von falsch geführten und strategisch falsch ausgerichteten Unternehmen ist ein gewaltiges Desaster. Die illusionären Strategien einiger Finanzhäuser - Stichwort Allfinanz - sind ebenso zusammengebrochen wie der Wirtschafts-Polit-Filz - Stichwort Swissair. Dass das Zürich empfindlich trifft, zeigt sich allein an der Tatsache, dass Zürich mehr Arbeitslose als der Rest der Schweiz hat. Neben dieser wirtschaftlichen Dimension gibt es eine politische: die aufgeblähten Staatsausgaben, gegen die die Zürcher SVP seit Jahren kämpft. So hat es der Kanton Zürich verpasst, die Steuern zu senken, was den Unternehmen Auftrieb gegeben hätte. Dafür haben sich im Kanton Zürich die Staatsausgaben innert zehn Jahren von 5,1 Milliarden auf 11,7 Milliarden Franken im Jahr 2003 erhöht. Das ist unverantwortlich. Jeker: Ich gehe mit Herrn Blocher einig, dass wir strukturelle Probleme haben. Solange die Strukturbereinigung der Finanzbranche läuft, werden wir mit einer relativ hohen, gar steigenden Arbeitslosenrate leben müssen. Zu den Steuern muss ich Herrn Blocher jedoch entgegenhalten: Es ist mir auch klar, dass jeder Steuerfranken, den ein Unternehmen zahlen muss, einer zu viel ist - aber so einfach darf man es nicht sehen. Eine neue Studie belegt, dass ich als Unternehmer in Deutschland 200000 Euro ausgeben muss, damit ein Kadermitarbeiter schliesslich 100000 Euro in seiner Tasche hat. In den USA sind es 153000 Euro und in unserer Region 130000 Euro. Das beweist, dass man nicht allein auf die Unternehmenssteuern abstellen kann, sondern die gesamte Belastung durch Abgaben in Betracht ziehen muss. Im Bereich der Unternehmensbelastung können wir noch besser werden, aber was die Belastung durch Abgaben insgesamt anbelangt, sind wir sehr kompetitiv. Blocher: Es ist ausserordentlich gefährlich, wenn wir uns mit einem derart negativen Beispiel wie Deutschland vergleichen. Von den Vermögenssteuern wird nicht gesprochen. Früher haben wir uns mit den Allerbesten verglichen - das muss die Schweiz auch heute noch und Zürich erst recht. Zürich hat für die Schweiz etwa denselben Stellenwert wie Deutschland für Europa - Deutschland ist der Wirtschaftsmotor Europas, Zürich ist der Wirtschaftsmotor der Schweiz, da rund ein Viertel der Wertschöpfung unseres Landes im Kanton Zürich generiert wird. Wenn es also dem Standort Zürich schlecht geht, geht es der Schweiz schlecht. Und wir wissen, dass es Zürich nicht gut geht. Ich sage nochmals, dass die Besteuerung der Unternehmen im Kanton Zürich einer der Gründe dafür ist, dass wir nicht vorankommen. Sogar der Sozialdemokrat Schröder hat erkannt, dass er die Steuern senken muss. Und was tut Zürich?! Die Regierung verschiebt das Inkrafttreten der Unternehmenssteuerreform um ein weiteres Jahr. Zug und Schwyz können sich da nur ins Fäustchen lachen. Jeker: Das sind Kantone, die ungleich weniger Ausgaben für Infrastrukturen haben als Zürich. Wer am Tellerrand sitzt und nur die Vorteile von Zürich geniesst, hat leicht reden. Wenn beispielsweise der Zimmerbergtunnel gebaut ist, bin ich von Zug in 14 Minuten im Hauptbahnhof Zürich - man stelle sich einmal diesen Standortvorteil für Zug vor, den grösstenteils Zürichs Steuerzahler berappt haben werden! Nochmals: Wir sind mit unserer Steuerpolitik noch nicht dort, wo wir sein sollten und wo wir auch hin wollen, aber wir sind auf dem richtigen Weg. Sie haben, Herr Blocher, davon gesprochen, dass die Schweiz und Zürich sich mit den Besten vergleichen müssten. Wer liefert die Benchmark? Blocher: Im Steuerbereich ist die ganze Schweiz und hier insbesondere Zürich ins Hintertreffen geraten. Wir waren früher vor Japan, vor den USA. Und England ist uns dicht auf den Fersen, London hat Zürich bereits überholt. Zudem ist der Rückstand aller anderen kleiner geworden. Grund dafür ist der Umstand, dass die Schweiz in den letzten zehn Jahren die Zwangsabgaben - also Steuern und Gebühren - von allen Industrieländern am stärksten erhöht hat. Gerade in einer Zeit, in der die Wirtschaft leidet, sind diese durch eine Mitte-links-Steuerpolitik verursachten, überhöhten Zwangsabgaben Gift für einen Standort. Dank dem Föderalismus sind wir wenigstens im Bereich der bürokratischen Hindernisse etwas besser als viele, insbesondere Deutschland, doch es gibt in der Schweiz noch immer zu viel Bürokratie. Wo ich Herrn Jeker Recht gebe: Die Zentrumslasten Zürichs sind ein Problem. Sie werden sich mit dem Neuen Finanzausgleich nochmals erheblich verschärfen. Müsste Zürich egoistischer werden, Herr Jeker? Jeker: Nein, so würde ich das nicht sagen. Aber Zürich muss sich in Bundesbern offensiver positionieren. In Kontakten mit dem Bundesrat und den Eidgenössischen Räten müssen wir unsere Haltung zum Beispiel zu Flughafenfragen, zum Neuen Finanzausgleich oder zum Ausbau der Schieneninfrastruktur unmissverständlich darlegen. Blocher: Der Kanton Zürich soll nicht bluffen, aber klar machen, dass er 25 Prozent der Bundeseinnahmen nach Bern schickt und ein entsprechendes Gewicht hat. Die Kosten der Nutzniesser der Zentrumslasten sind zu verrechnen. Jeker: Das kann ja durchaus ohne Arroganz, sondern mit einem gewissen Charme geschehen. Wir müssen darum kämpfen, dass wir unsere nach wie vor vorhandenen Standortvorteile politisch wieder besser abstützen können. Ein Beispiel dafür ist der Finanzplatz: 14 bis 15 Prozent unserer Wertschöpfung kommen von den Finanzdienstleistern. Leicht auszurechnen, was für uns eine Lockerung des Bankkundengeheimnisses bedeutet. Ein anderes Beispiel ist der Flughafen, bei dem es nochmals um 10 bis 15 Prozent unserer Wertschöpfung geht. Die Bundespolitik ist hier gefordert, dass wir bessere Rahmenbedingungen erhalten und Unternehmen unterstützen können. Stichwort Flughafen. Neben den wirtschaftlichen Problemen sorgt er vor allem wegen der Lärmdebatte für schlechte Stimmung in und um Zürich. Vermiest es Ihnen auch die Laune, wenn schon bald die Jets über Ihr Haus in Herrliberg donnern, Herr Blocher? Blocher: Ich wohne zwar auf der anderen Seite des Pfannenstiels, aber die Angelegenheit an sich kann einem schon die Laune verderben. Es ist doch ein absoluter Stumpfsinn, Lärm demokratisch verteilen zu wollen. Der Flughafen ist ein gutes Beispiel, um aufzuzeigen, wie der Kanton Zürich nach aussen auftreten sollte: nicht hochnäsig und rücksichtslos, aber bestimmt. Der Flughafen ist doch keine rein zürcherische Angelegenheit! Die ganze deutsche Schweiz und auch die angrenzenden Gebiete in Deutschland sind wirtschaftlich auf ihn angewiesen. Zürich muss das ausspielen und keinen diskriminierenden Vertrag annehmen, wie ihn uns Deutschland aufzwingen will. Es ist eine tiefe Tragik, dass Zürich in Bern einen Bundesrat hat, der dies nicht einsieht. Die Zürcher Regierung muss in der Flughafenfrage viel härter auftreten. Jeker: Es ist leicht zu sagen, Zürich unternehme in Sachen Flughafen zu wenig. Es geht keineswegs nur um die Diskussionen auf Bundes-, interkantonaler und internationaler Ebene. 95 Prozent der problematischen Flugbewegungen finden über Zürcher Gebiet statt. Dass wir hier gute Lösungen finden, ist nicht nur für den Frieden im Kanton wichtig, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen: Es drohen Entschädigungsforderungen in Milliardenhöhe - auch das sind Gelder, die aus der Volkswirtschaft wegfliessen, wenn wir das Problem nicht sorgfältig zu lösen versuchen. Blocher: Es gibt doch ausser in Zürich niemanden auf der Welt, der auf der einen Seite eine freie Anflugschneise über dünn besiedeltem Gebiet hat und nun über die Stadt Zürich und angrenzende Hügel an- und abfliegen soll. Ein ungeheuerliches Sicherheitsrisiko und ein Emissionsunsinn. Das ist doch… Jeker: ...eine Vermischung unterschiedlicher Themen. Auch mir geht es um ein Maximum an Sicherheit. Aber es geht mir auch darum, zwar klar aufzutreten, aber gleichwohl eine verhandlungsfähige Position einzunehmen und dem Wirtschaftsstandort keinen Schaden zuzufügen. Es ist ein Stück Lebensqualität, einen guten Job zu haben - und es ist ein Stück Lebensqualität, ruhig schlafen zu können. Wir müssen beidem Rechnung tragen. Abgesehen davon war für mich immer klar, dass wir standortmässig nur von der Kombination Unique und Swiss einen optimalen Nutzen haben. Blocher: Das ist doch der Ursprung des Problems. Zürich hat sich nicht auf den Flughafen konzentriert, der für den Standort von ausschlaggebender Bedeutung ist, sondern sich auch für die Swiss engagiert und 300 Millionen Franken investiert. Der Flughafen ist von den alten Seilschaften schon auf ein gigantisches Fehlkonzept der Swissair ausgerichtet worden. Und nun noch das Abenteuer Swiss. Dabei ist es doch wirtschaftlich ganz einfach: Wenn eine Swiss rentiert, dann gibt es eine - allenfalls redimensionierte -, und wenn eine Swiss nicht rentiert, dann braucht es keine, und sie wird vom Markt verschwinden. Zürich und auch der Bund sollen sich auf den Flughafen konzentrieren. Der Flughafen jedenfalls hat die Situation begriffen und vernünftig zu redimensionieren begonnen. Jeker: Da habe ich eine dezidiert andere Haltung. Das Lufttransportsystem als Ganzes ist für Zürich von höchster Bedeutung. Die 300 Millionen Franken, die Zürich einmalig in die Swiss investiert hat, hatten zum Ziel, einen optimalen Nutzen aus dem Flughafen zu gewinnen. Und es bleiben unter dem Strich immer noch die 1,2 Milliarden Franken Sozialkosten, die gespart werden konnten, weil nach dem Ende der Swissair die Swiss gegründet wurde. Ich investiere lieber in eine Chance, als den Löffel wegzuwerfen. Blocher: Der Fehler ist gemacht… Jeker: Es war kein Fehler. Blocher: …und ich frage einfach, was geschieht im Fall, wenn es die Swiss nicht schafft? Wenn das stimmt, was Herr Jeker behauptet, gäbe es nachher von Zürich aus keine Flugverbindungen mehr. Ich behaupte, dass andere private Gesellschaften die Lücke schliessen werden, wie sie ohne Abenteuer Swiss schon früher geschlossen worden wäre. Jeker: Andere Fluggesellschaften würden andere Prioritäten setzen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass jede Interkontinentalverbindung, die gestrichen wird, unseren Standort schwächt. Die exzellente Anbindung Zürichs dank dem Flughafen und der Swiss ist ein enormer Vorteil für den Wirtschaftsstandort Zürich. Schlechtere Verbindungen bedeuten für uns schlechtere Karten. Wenn ich so argumentiere wie Sie, Herr Blocher, kann ich gleich das Bankkundengeheimnis aufheben und sagen, der Markt wirds auch auf dem Finanzplatz richten. Blocher: Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das Bankkundengeheimnis ist der Schutz des Bankkunden durch den Staat - und das kann nur der Staat garantieren. Flugverbindungen hingegen sind keine staatlichen Aufgaben mehr. Aber es ist klar, wenn das deutsche Regime wie geplant kommt, werden das weder der Flughafen noch die Swiss überleben. Deshalb sage ich klipp und klar: Man müsste mit Deutschland viel klarer sprechen, einseitige Anordnungen ablehnen, die Verhandlungen über die bilateralen Abkommen mit der EU abbrechen und die Transitverkehrsregelungen zur Disposition stellen. Jeker: Ich unterstütze ein selbstbewusstes Auftreten gegenüber Deutschland, aber ich halte fest: Wir wollen unsere Ziele über Verhandlungen erreichen. Der Flughafen hat gravierende Probleme, der Finanzplatz hat gravierende Probleme: Wird Ihr Büro im kommenden Winter noch geheizt werden können, Herr Jeker? Jeker: Selbstverständlich werden wir noch heizen können. Fragt sich, um beim Bild zu bleiben, bloss, ob wir im Büro eine Jacke anziehen oder wie bisher auch im Winter im kurzärmligen Hemd arbeiten können. Aber wir müssen mit allen Mitteln um unseren Standort kämpfen. Es ist zu einfach zu sagen, der Markt wird es schon richten. Wir müssen unsere Infrastruktur intakt halten und stellenweise verbessern - der Flughafen ist das Paradebeispiel dafür… Blocher: …wobei stets Ausgaben und Einnahmen im Gleichgewicht sein sollten. Da hat Zürich gesündigt… Jeker: Es geht doch um eine langfristige Betrachtungsweise. Blocher: …und es sündigt weiter. Einst war in Zürich die Rede davon, Zentren wie München oder Stuttgart ein- oder gar zu überholen. Heute ist der Rückstand grösser geworden. Weshalb ist Zürich auf der schiefen Ebene, weshalb kommen nicht mehr Direktinvestitionen? Jeker: Ich muss auf die klassische Arbeitsteilung zwischen Politik und Wirtschaft verweisen: Es ist immer noch die Wirtschaft, die die Wirtschaft betreibt. Die Strukturbereinigungen, die anstehen, müssen endlich konsequent umgesetzt werden. Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen zu gestalten. Blocher: Eben! Da gibt es noch viel zu tun. Unternehmen kommen in die Schweiz, wenn die Situation in den Bereichen Steuern und Bürokratismus stimmt. Die Infrastruktur wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Und hier haben wir doch eindeutige Probleme, beispielsweise beim privaten Verkehr, der täglich zusammenbricht. Wir leisten uns zwar den Luxus des ständigen Ausbaus der öffentlichen Verkehrsmittel, doch für den privaten Verkehr wird vergleichsweise wenig gemacht. Jeker: Es stimmt, dass die Umfahrung Zürichs Verzögerungen erfahren hat. Aber wenn wir den öffentlichen Verkehr nicht so gut ausgebaut hätten - Stichwort S-Bahn -, dann möchte ich lieber nicht wissen, wo wir heute stehen würden. Sie sagen, Herr Blocher, was die Politik unternehmen sollte. Was müssen die Unternehmen tun? Blocher: Gute Unternehmen entstehen an Orten mit guten Bedingungen. Schlechte Unternehmen sterben. Es gilt zu berücksichtigen, dass die derzeit im Gang befindliche Redimensionierung nicht nur ein Zeichen der Krise ist, sondern zumindest teilweise auch mit dem Verschwinden einer Blase zu tun hat, die nie eine Daseinsberechtigung hatte. Die Swissair war Grössenwahn, das Allfinanz- und Globalisierungsgetue der Banken war Grössenwahn - das verschwindet jetzt halt wieder. Unter dem Druck der Rezession finden wir wieder zu Qualität und Bescheidenheit zurück - das hat auch sein Gutes. Ein wichtiger Standortfaktor ist die Qualität des Schulwesens. Wie steht es damit in der Region Zürich? Blocher: In seiner Zeit als Regierungsrat hat Ernst Buschor eine Politik der Versuche, einen Aktivismus verfolgt, der letztlich zu Nivellierung und Qualitätsabbau führte. Wir brauchen aber in der Wirtschaft das Gegenteil. Wir dürfen uns nicht am Durchschnitt in Europa orientieren, sondern müssen zu den Besten gehören. Jeker: Ganz klar, wir brauchen hervorragende Ausbildungsstätten. Ganz klar, Leistung darf nicht als etwas Negatives betrachtet werden. Und ganz klar: Es braucht neben guten öffentlichen auch mehr internationale private Schulen. Hier liegt einiges brach. Rahmenbedingungen, Verkehr, Schulen... das klingt nach Langfristmassnahmen. Doch die Probleme sind jetzt da. Hat man geschlafen? Jeker: Nein. Das dringend nötige Grossprojekt Durchgangsbahnhof Zürich beispielsweise startete vor mehr als fünf Jahren, auch im Bereich des Verkehrs kommen langfristig geplante Projekte jetzt zum Tragen. Ich halte nichts von der Unterscheidung zwischen antizyklischem und zyklischem Verhalten. Im Infrastrukturbereich muss man immer aktiv sein - und das sind wir. Blocher: Ich glaube vielmehr, dass es in Zürich zu lange zu gut gegangen ist und deshalb Weichen nicht rechtzeitig gestellt worden sind. Das gilt insbesondere für die Banken und Versicherungen, denen der Erfolg in den Kopf gestiegen ist. Und das gilt auch für den Kanton Zürich, der zu lange zu wenig tat, um den Wirtschaftsplatz attraktiv zu erhalten. Wo steht Zürich in fünf Jahren, Herr Jeker? Jeker: Wir werden noch sehr schwierige Zeiten durchleben. Ich bin aber überzeugt, dass es uns gelingt, dass am Ende die Wirtschaft ihre Stärken wieder ausspielen und der Staat seine strukturellen Schwächen beseitigen kann. Zürich bleibt weiterhin ein starker Wirtschaftsstandort in Europa - auch in fünf Jahren.
17.07.2003
Wie unsozial darf der Sozialstaat sein?
Mein Artikel in der "Weltwoche" vom 17. Juli 2003 Der Missbrauch der Invalidenversicherung habe in unserem Land beängstigende Ausmasse angenommen, meint Christoph Blocher. Versicherungsbetrug gehöre zur Tagesordnung. Von Christoph Blocher Ärzte, Psychologen, Anwälte, Unternehmer, Journalisten, Politiker, die Ämter, die Soziallobby, alle wissen es: Die Scheininvalidität ist zu einem gravierenden Problem geworden. Doch öffentlich darüber reden? Lieber nicht. Aus falscher Rücksicht. Aus Feigheit. Aus Eigennutz. Aus Bequemlichkeit. Waren 1990 noch rund 160000 Personen IV-Bezüger, sind es 2002 schon knapp 260000. Der Anteil der IV-Renten ist auch im Verhältnis zur arbeitenden Bevölkerung rasant angestiegen: Seit 1990 um über fünfzig Prozent. Entsprechend düster sehen die Finanzen aus. Kostete die Invalidenversicherung 1990 noch etwa vier Milliarden Franken, sind es heute bereits zehn Milliarden pro Jahr. Gemäss den zuständigen Ämtern in Bern sollen die Kosten weiterhin um jährlich fünf bis acht Prozent steigen. Das heisst für 2010 IV-Kosten in Höhe von zwanzig Milliarden Franken, für 2020 vierzig Milliarden Franken, sofern nicht Einhalt geboten wird. In den letzten Wochen erreichten mich zahlreiche Briefe von Ärzten, Juristen, Sozialstellen und Privatleuten, die das Missbrauchspotenzial der gegenwärtigen Invalidenversicherung belegen. Ein Anwalt schreibt: «Es gibt nichts Besseres, als ein Mandat im IV-Bereich zu haben. Wird für eine IV-Rente gekämpft, werden die Anwaltsrechnungen – und erst noch grosszügig – durch die IV bezahlt.» Dies gilt ebenso für die zahlreichen Gutachten, Expertisen, Sonderabklärungen und Spezialbehandlungen. Die Losung heisst: zum Nulltarif durch die Instanzen. Wer eine Rente will, bekommt sie auch Ein empörter Unternehmer berichtet von einem jugoslawischen Mitarbeiter (Jahrgang 1960), der am 30. November 1993 seine Firma verlassen habe. Im Jahr 2002 wird ihm mitgeteilt, der ehemalige Mitarbeiter habe nun eine hundertprozentige IV-Rente erhalten, rückwirkend auf den 1. Juli 2001. Kurz darauf macht der Mitarbeiter geltend, dass er eigentlich seit Januar 1994 invalid sei, aber den Antrag aus verschiedenen Gründen nicht gestellt habe. Die AHV/IV versucht darauf, die Pensionskasse des damaligen Arbeitgebers finanziell haftbar zu machen. In einer Dissertation der Universitätspoliklinik Zürich wurde schon vor Jahren die Anerkennungsquote «psychogener Invalidität» erforscht. Bei den 31 untersuchten Fällen empfahlen die Psychiater lediglich sieben Vollrenten und eine Halbrente. Schliesslich erkämpften sich 23 Personen eine volle Rente und vier eine Halbrente. Originalton des Autors Hans R. Früh: «Es zeigt sich eine imponierende Durchsetzungsfähigkeit der Patienten, die ja schliesslich alle eine Vollrente wollten.» Fazit: Wer unbedingt eine Rente will, bekommt sie auch. Es ist ein offenes Geheimnis, dass vor allem grosse Gemeinden geradezu darauf spezialisiert sind, betreuungsintensive Sozialfälle in die Invalidität zu «entsorgen». Hauseigene Sozialexperten weisen den Weg, wie etwa der Psychiatrisch-psychologische Dienst der Stadt Zürich. Dieser erstellt IV/Suva-Gutachten «für Patienten und Patientinnen, die seit langem chronisch krank unerkannt dahingelebt hatten». Es braucht offenbar städtische Angestellte, die den Mitmenschen beibringen, dass es ihnen krankheitsbedingt so schlecht geht, dass belastende Fürsorgefälle in IV-Fälle umgewandelt und damit die Kosten elegant abgewälzt werden können. Solche Amtsanstrengungen zielen besonders häufig auf Drogensüchtige, entlassene Strafgefangene und Kriegsgeschädigte aus Ex-Jugoslawien. Auch andere Institutionen und Firmen sehen in der IV ein praktisches Auffanglager für Probleme aller Art. Das ist zynisch und gegen den eigentlichen Sinn der Invalidenversi-cherung gerichtet. Nicht selten schieben Unternehmen überzählige Mitarbeiter ganz einfach in die Invalidenversicherung ab. Gerade staatliche Regiebetriebe, wie etwa die SBB, betreiben ihre Personal- und Pensionierungspolitik auf Kosten der arbeitenden Allgemeinheit. 2002 erreichten bei den SBB von total 586 Pensionierten nur gerade 28 Personen das ordentliche Rentenalter von 65 Jahren. Dafür wurden beinahe vierzig Prozent (!) im Durchschnittsalter von 51 Jahren als Invalide frühpensioniert. Da muss sich jeder dumm vorkommen, der bis 65 arbeitet und solche Missbräuche noch mit zusätzlichen Steuern und Lohnabzügen querfinanzieren muss. Wie selbstverständlich diese Abschiebepraxis geworden ist, zeigt folgendes Beispiel: Im Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates über die SBB vom 18. November 1999 steht vieldeutig: «Gemäss Atag Ernst & Young AG ist die Tendenz zu beobachten, dass ein Teil der vom Arbeitgeber initiierten vorzeitigen Pensionierungen durch ‹Invaliditätsfälle› gelöst wird. Dies ist aus Sicht des Arbeitgebers interessant, führt aber auf Seiten der Pensionskasse zu nicht budgetierten und versicherungstechnischen Verlusten.» Auf gut Deutsch: Hier ist ein Versicherungsbetrug im Gange, und niemand schreitet ein. Er gehört anscheinend zur Tagesordnung. Nicht nachweisbare Krankheiten Die Zusammensetzung der Invaliden zeigt, dass immer mehr psychische Ursachen (bereits 39 Prozent) eine IV-Rente nach sich ziehen. Eine Vielzahl neuer psychiatrischer Krankheitsbilder («Schmerzsyndrom», «psychosoziale Depression», «Entwurzelungssyndrom», «Kriegstrauma» etc.) oder Erkrankungen an Muskeln und Bewegungsorganen («Rückenschmerzen», «Schleudertrauma») dienen als kaum überprüfbarer Einstieg zur Invalidität. In manchen Spitälern gibt es ganze Abteilungen, die sich auf das diffuse Gebiet der Psychosomatik spezialisiert haben. Die Universitätsklinik Zürich etwa listet «Risikofaktoren für eine Schmerzkarriere» auf. Eine Auswahl: «niedriger Sozialstatus», «geringe Arbeitszufriedenheit», «psychische und soziale Schwierigkeiten», «eine belastende Kindheit», «mangelhafte emotionale Beziehung», «geringe Ge- borgenheit», «häufiger Streit im Elternhaus oder Scheidung». Das sind alles bedauernswerte Umstände. Aber wohin führt das, wenn jede Belastung im Leben zum medizinischen Problem wird? Am Ende wird die ganze Bevölkerung für spitalreif erklärt. Der rasante Anstieg der Invalidität ist auch eine Folge des neuen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) von 1994. Die SVP hat diese kostentreibende Revision als einzige Bundesratspartei bekämpft. Heute beeinflusst der Anbieter (Arzt) die Nachfrage (medizinische Leistung); sicher zum Wohl der Patienten, aber auch im eigenen Interesse. Auffällig ist, dass Gebiete mit hoher Ärztedichte eine weit höhere Invaliditätsrate aufweisen als solche mit niedriger Dichte. Hier wird offenbar ein Ärztekarussell angestossen, bis sich der entsprechend «verständnisvolle» Gutachter findet. Mit weitreichenden Folgen: Statt dass die (Wieder-)Eingliederung in die Arbeitswelt betrieben wird, führt die unerschöpfliche, rein medizinische Ursachenforschung zu einer rentenbeanspruchenden Haltung. Die IV wird zum Sammelbecken sozialer Schwächefälle aller Art. Was, wie Professor Erwin Murer von der Universität Freiburg ausführt, weder «sozial» noch «moralisch gut» ist: «Die Berentung muss Ultima Ratio sein – Eingliederung vor Rente!» Die auf diese Weise in die Invalidenversicherung ab-geschobenen Kosten veranschlagt Murer auf zwei bis vier Milliarden Franken. In den letzten Jahren ging fast jede zweite neu gesprochene IV-Rente an einen Nichtschweizer. Bereits heute werden Zehntausende von Renten ins Ausland bezahlt. In gewissen Ländern ist das allgemeine Lohn- und Preisniveau so tief, dass jemand mit der Schweizer Mindestrente das x-fache eines ortsüblichen Monatseinkommens erhält. Das ist eine verführerische Konstellation, zumal die Kontrolle in den jeweiligen Staaten kaum gewährleistet ist. Selbst die NZZ zitiert Ärzte und IV-Verantwortliche dahin gehend, dass «Angehörige zweier Nationalitäten» auffallend häufig eine IV-Rente beanspruchen würden. Um welche Nationalitäten es sich dabei handelt, wurde – politisch korrekt, feige wie immer – verschwiegen. Ein ehemaliger Leiter für Berufserprobungen bei der Suva sieht die Entwicklung grundsätzlicher: «Am Anfang hatten wir siebzig Prozent berufsgelernte Schweizer abzuklären. Am Schluss, nach 15 Jahren, waren es siebzig Prozent Ausländer. Da habe ich an der ganzen Geschichte zu zweifeln begonnen.» Unqualifizierte, «bildungsferne» Immigranten (viele davon mit Asylstatus oder Illegale) strapazieren nicht nur die schweizerische Fürsorge, die Arbeitslosenkasse, das Bildungswesen und die Justiz, sie landen auch überproportional häufig in der IV. Lukrative Sozialindustrie Ursprünglich wurde die Invalidenversicherung geschaffen, um Behinderte wieder einzugliedern und ihnen ein Existenzminimum zu sichern. Mittlerweile fliessen zehn Milliarden Franken pro Jahr in den IV-Trog. Davon gehen weit über drei Milliarden an Einrichtungen, Organisationen und individuelle Massnahmen. An diesen drei Milliarden hängen gewaltige Interessen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass dieser «gemeinnützige» Filz manchen Fürsprecher in Parlamenten, Institutionen und in der Verwaltung findet. «Soziale» Interessen lassen sich eben besonders weihevoll vertreten. Dabei sind es allzu oft die vehementesten Verteidiger des Sozialstaates, die persönlich von diesen Geldern profitieren. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die Milliardenbeträge für das Gesundheits- und Asylwesen. Unser Sozialstaat ist darum schon lange nicht mehr sozial und längst nicht mehr nur auf schwache Randgruppen und Bedürftige ausgerichtet. Er ist vielmehr unter dem Mantel der mitmenschlichen Hilfe und Nächstenliebe zu einem Umverteilungsstaat geworden, mit dem Ziel, das von Privaten erarbeitete Geld zugunsten einer durchorganisierten Staats- und Hilfsorganisationenelite samt ihrer Klientel zu verteilen. Zurück zur Verantwortung Wir haben es beim Sozialmissbrauch mit einem Konglomerat von Faktoren und Ursahen zu tun: renitente Scheininvalide, ein missglücktes KVG, eine gierige Soziallobby, überforderte Mediziner, wachsende Anforderungen vom Arbeitsmarkt, zu späte Massnahmen zur Wiedereingliederung, Psychologisierung der Gesellschaft, eine verfehlte Zuwanderungspolitik und nicht zuletzt der Ausbau der Schweiz zum sozialistischen Umverteilungsstaat. Dieser gefährdet unsere Volkswirtschaft, zerstört produktive Arbeitsplätze, bedroht den allgemeinen Wohlstand und verhindert echte Für- und Vorsorge. Ausser der SVP wollen alle anderen Parteien die Probleme durch immer neue Zwangsabgaben finanzieren und vor den Missbräuchen die Augen verschliessen. Sie setzen damit völlig falsche Signale. Es darf nicht sein, dass der verantwortungsbewusste Bürger für politisches Versagen zur Kasse gebeten wird. Allein in diesem Jahr beschloss das Parlament für die AHV, IV und Mutterschaftsversicherung zusätzliche 4,8 Milliarden Franken Zwangsabgaben. Für eine vierköpfige Familie bedeutet das im Durchschnitt 2600 Franken Mehrabgaben an den Staat pro Jahr. Ist das sozial? Was wir brauchen, ist ein Systemwechsel. Unser Sozialstaat begünstigt den Nutzniesser und bestraft die verantwortungs-bewussten Bürger, die für sich selbst sorgen und arbeiten. Darum gehört die Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber der Gesellschaft wieder in den Mittelpunkt unserer Sozialpolitik. Christoph Blocher, 62, Unternehmer, seit 1977 Präsident der SVP des Kantons Zürich und seit 1979 Nationalrat.
28.04.2003