Testi

 

02.01.2013

Würdigung grosser Toggenburger Persönlichkeiten

Neujahrsanlass vom 2. Januar 2013 in Wattwil

29.12.2012

In den Urgrund hinabsteigen

Interview mit Rolf App, St. Galler Tagblatt vom 29. Dezember 2012 Christoph Blocher betreibt nicht nur Politik mit Energie. Er interessiert sich auch intensiv für die Geschichte unseres Landes. Seit einigen Jahren würdigt er in Vorträgen grosse Persönlichkeiten einzelner Regionen. Am Mittwoch tritt er in Wattwil auf, doch vorher stellte er sich und sein Geschichtsbild unseren Fragen. (Rolf App) Männedorf, Kugelgasse 22. Hier hat Christoph Blocher sein Büro. Das Sitzungszimmer ist eine kleine Galerie. Eine prachtvolle Landschaft von Giovanni Giacometti beherrscht die eine Seite, daneben, geschmackvoll arrangiert, kleinere Bilder. «Dieses hier hat Adolf Dietrich vom Untersee gemalt», erklärt er. «Und das habe ich gekauft, weil es den Zürichsee zeigt. Es stammt von Gottardo Segantini, dem Sohn von Giovanni Segantini. Da steckt nicht mehr die Kraft des Vaters drin.» Ja, kraftvolle Persönlichkeiten sind es, die Blocher faszinieren. Drei von ihnen will er am 2. Januar in Wattwil ehren. Drei Toggenburger Persönlichkeiten. Herr Blocher, Ihr Parteipräsident Toni Brunner hat uns auf Ihren Auftritt im Toggenburg hingewiesen mit der Bemerkung, es handle sich um eine unpolitische Rede. Geht das überhaupt bei Ihnen? Christoph Blocher:  Ja, die aktuelle politische Situation wird nicht zur Sprache kommen. Aber ich kann mich natürlich nicht verleugnen, der Mensch ist ja ein Ganzes. Sie sind schon im Berner Seeland aufgetreten, im Emmental, im zürcherischen Niederglatt. Warum wählen Sie denn jedes Jahr eine andere Region? Blocher: Ich habe diese Veranstaltungen 2009 ins Leben gerufen, weil wir Politiker uns zu sehr mit der Oberfläche beschäftigen. Wir sind aber letztlich das Produkt unserer Geschichte. Jede Schweizer Region verfügt über historische Persönlichkeiten, die eine grosse Wirkung entfaltet haben, auch für die heutige Schweiz – und meist darüber hinaus, ja für die ganze Welt. Diese Persönlichkeiten sind wertvoll, deshalb vermittelt meine Rede auch eine Wertvorstellung. Im Toggenburg bringen Sie drei Persönlichkeiten ins Gespräch: Huldrych Zwingli, Ulrich Bräker, Anna Barbara, genannt Babeli Giezendanner. Fangen wir mit Huldrych Zwingli an und mit seiner Bedeutung. Blocher: Zwingli hat die ersten sechs Jahre in Wildhaus gelebt, seine Bedeutung kann gar nicht genug geschätzt werden. Von allen Schweizern hat er wohl die grösste weltpolitische Wirkung entfaltet. Denn die Reformation Zwinglianischer Prägung hat sich – dann vor allem durch Calvin – bis in die USA ausgebreitet und wirkt heute noch nach. Zwingli war durch und durch Theologe, aber seine Glaubens- und Sittenlehre hat gesellschaftlich und politisch durchgeschlagen. Der frühere Zürcher Stadtpräsident Sigmund Widmer – ein Historiker – erklärt in seiner Geschichte über die Stadt Zürich, dass die Reformation das Bruttosozialprodukt verdreifacht habe. Was trennte denn Zwingli von Luther? Blocher: Luther musste die Fürsten überzeugen, Zwingli den Kleinen und den Grossen Rat: Da schlägt die schweizerische Demokratie durch. Sowohl Zwinglis Vater wie sein Grossvater waren Gemeindammann in Wildhaus und schon vor 500 Jahren vom Volk gewählt. Das prägte Zwingli. Gut sichtbar wurde der Gegensatz in der Disputation in Marburg. Da: Professor Doktor Martin Luther, der grosse Deutsche und dort der Leutpriester Zwingli, in Nagelschuhen. Luther wollte Latein sprechen, Zwingli deutsch. Das Volk müsse es verstehen. Sie zeichnen von Zwingli ein durchaus positives Bild. Aber blenden Sie dabei nicht ein paar sehr dunkle Punkte aus? Dass Zwingli Krieg führte und auch im Krieg starb zum Beispiel. Und dass er die Täufer blutig verfolgen liess. Nach heutigen Massstäben muss man ihn wohl als religiösen Fundamentalisten bezeichnen. Blocher: Ihre Ansicht hat durchaus etwas für sich. Zwingli wollte zu viel, er hat den Zweiten Kappelerkrieg gegen die Innerschweiz angezettelt und dafür auch mit dem Leben bezahlt. Die Täufer hat er nicht nur aus religiösen Gründen verfolgt, sondern weil sie als Staatsfeinde galten. Ich halte Zwingli nicht für makellos, aber mich interessiert sein Werk. Nicht der Gutmensch, sondern das Gute ist entscheidend. Die Toggenburger haben Grund, auf Zwingli stolz zu sein. Sind die Toggenburger stolz genug auf Ulrich Bräker? Blocher: Ich glaube nicht. Obwohl Bräkers Bedeutung woanders liegt. Er war ja ein wirklich origineller Schriftsteller mit einer minimalen Schulbildung. Man muss ihn als Gotthelf des Toggenburg bezeichnen. Anders als Gotthelf hat er aber sein eigenes Leben erzählt, deshalb ist er authentischer. Auch Bräker ist keine makellose Figur: Alles andere als ein  ordentlicher Ehemann, seine Frau hatte einiges durchzumachen. Er aber hat sie sehr schlecht geschildert. Welche Geschichte verbindet Sie denn mit Ulrich Bräker? Blocher: 1998 habe ich zu Bräkers 200. Todestag das Shakespeare-Theater ins Toggenburg gebracht. Dann wollten es die Toggenburger nicht. Jetzt steht es im Europapark Rust. Auch für den Schweizer Auftritt an der Frankfurter Buchmesse war Bräker damals leider kein Thema. Das sei keine Kultur, tönte es aus dem Bundesamt für Kultur! Babeli Giezendanner ist die unbekannteste Ihrer drei Personen. Blocher: In Bern habe ich den Berner Albert Anker gewürdigt, in Niederglatt den Stadtzürcher Rudolf Koller. Von beiden besitze ich Bilder. Von Babeli Giezendanner nicht. Ihre Kunst ragt aber aus  der «Art brut» der ganzen Region heraus. Sie malte und ging mit ihren Bildern von Haus zu Haus. Diese Bilder werden zu recht zu immer höheren Preisen gehandelt. Im letzten Jahr haben Sie über Gottfried Keller und Alfred Escher gesprochen – und mit Ihrer Darstellung den Widerspruch des Historikers Jo Lang herausgefordert. Sie reduzierten Gottfried Kellers Leben auf eine Demonstration von Nation, Freiheit und Unabhängigkeit, hat er geschrieben. Und: «Aus Eschers Werk und Schicksal schnitzt er ein Ebenbild seiner selbst.» Hat Jo Lang recht? Blocher: Nein. Jo Lang ist ein stark linker, grüner Politiker, der Escher sicher anders schildern würde als ich. Escher ist voller Tragik, hat zwei Mal Konkurs gemacht und in seiner Macht- und Ämterfülle Verträge mit sich selber abgeschlossen – als Zürcher Regierungspräsident, als Nationalratspräsident, als Unternehmer. Trotzdem gäbe es Zürich so nicht ohne ihn. Ihm verdanken wir die Gotthardbahn, die Kreditanstalt, die Südostbahn und vieles mehr. Escher war eine Zeit mit vielen Möglichkeiten geschenkt. Und Gottfried Keller war ein liberaler Geist, das passt Jo Lang naturgemäss nicht. Trotzdem wirft gerade der Fall Escher die Frage auf, ob Sie den Einzelnen nicht überschätzen. Ob es also nicht mehr auf die Zeit ankommt, in der jemand lebt. Blocher: Man muss die Menschen in ihrer Zeit sehen. Zwingli verfolgte die Täufer in seiner Zeit. Aber die Zeit war reif für die Reformation. Dies zu würdigen, geht erst aus einer gewissen Distanz. Zu Lebzeiten sieht man zu viele Nebensächlichkeiten, die Wesensart zählt zu viel. Der SP-Nationalrat Andreas Gross unterstellte Ihnen vor ein paar Jahren ein sehr hierarchisches Führungsverständnis. Und sagte: «Er glaubt, einen Auftrag zu haben von Gott oder vom Volk.» Steckt dieses Denken nicht auch in Ihrer Würdigung grosser Persönlichkeiten? Blocher: Wer führt, kommt um die Hierarchie nicht herum! Führen heisst ja, mit anderen Menschen ein Ziel zu erreichen. In meiner Führungslehre gibt es einen bekannten Satz: Es gibt keine schlechten Mitarbeiter, es gibt nur schlechte Chefs. Ein guter Chef macht aus schlechten gute Leute – oder er ersetzt sie. Die Verantwortung ist das Wesentliche. Erfolgreich ist nur die Auftrags-bezogene Führung. Der Auftrag, nicht der Mensch steht im Zentrum. Was Gott betrifft: Natürlich frage ich mich jeden Tag, was denn das Richtige ist. Ich weiss, alles ist nur Gnade Gottes. Das gilt zum Glück auch für Andreas Gross. Aber verdeckt Ihr Personenkult nicht die Tatsache, dass es Entwicklungen gibt, die ganz unabhängig vom Wollen des Einzelnen geschehen? In unseren Zeiten zum Beispiel die Globalisierung. Blocher: Das ist so zu allen Zeiten. Deshalb kommt es auch so sehr darauf an, dass man im Kleinen anfängt und im eigenen Bereich wirkt.  Zwingli hat in der Kirche gepredigt. Die Wirkung und Ausbreitung – später über Calvin und Bulliger hinaus – lag nicht in seinen Händen. Bräker hat als Schriftsteller grosse schriftstellerische Leistungen vollbracht. Und Babeli Giezendanner hat als Senntumsmalerin Bewundernswertes bewirkt. Ich schaue, was das für Menschen waren. Und frage: Aus welchen Wurzeln spriesst dies alles? Und welcher Region sind sie entsprungen? Das Werk zählt. Gilt Ihr Respekt vor allem Menschen, die es aus einfachen Verhältnissen zu etwas gebracht haben. Blocher: Auch. Aber ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Es ist etwas aus diesen Menschen geworden. Wenn alles Gnade ist, dann auch dies. Zwingli kam nicht aus ärmlichen Verhältnissen, Escher sowieso nicht. Und einfach hatten sie es schon gar nicht, im Gegenteil. Der alte Escher wurde gemieden, Huldrych Zwingli sogar gevierteilt. Man darf nicht glauben, dass sie zu ihrer Zeit besonders geschätzt wurden. Vor einem Jahr haben sie in der NZZ gesagt, die Demokratie sei die Staatsform der Mittelmässigkeit, und das sei gut so. Blocher: Ja, das stimmt. Das ganz Exzellente ist in der Demokratie nicht möglich, aber das ganz Schreckliche auch nicht. Braucht es da grosse Einzelne? Blocher: Die Demokratie braucht eine Elite, damit der Durchschnitt stimmt. Als Bundesrat habe ich gemerkt: Die Schweiz ist  eine gut organisierte Anarchie. Das hat meinen Regierungskollegen nicht gefallen, aber es ist so. Das Volk ist der oberste Gesetzgeber. Das Volk will keine starke Regierung, die zu sehr führt oder verführt. Was wollen Sie bewirken? Blocher: Den Menschen das Bewusstsein verschaffen, dass viel aus ihrem Boden kommt. Diesmal aus dem Toggenburg. Gerade in unserer oberflächlichen Zeit ist es wichtig, hinabzusteigen in den Urgrund. Das Bedürfnis, dies zu erfahren, gibt es: Beim ersten Mal haben die Journalisten gefragt, wer überhaupt komme an einem 2. Januar, noch dazu am Morgen. Dann sind Hunderte gekommen. Bedeutet das nicht, dass sie die guten Seiten der Geschichte sehen und die weniger schmeichelhaften ausblenden wollen? Etwa die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg? Blocher: Ach, das hört man doch jeden Tag an unserem Staatsradio. Von den grossartigen Seiten aber hören die Menschen wenig. Ich halte es da mit Albert Anker. der gesagt hat: «Ich stelle die Schönheit der Welt dar.» ENDE

06.12.2012

20 Jahre nach dem Nein der Schweiz zum EWR (III)

Interview mit der Weltwoche vom 6. Dezember 2012 Herr Blocher, Bundesrat Didier Burkhalter lanciert gemäss Medienberichten eine europapolitische Offensive gegen Sie. Die NZZ schreibt: „Hier kämpft einer für etwas, woran er glaubt“. Was halten Sie davon? Dass ein Bundesrat für etwas kämpft, woran er glaubt, scheint eine Ausnahme zu sein (lacht)! Burkhalters Pressecommunique steht unter dem Titel: „Fortsetzung der Gespräche zu den institutionellen Fragen mit der EU“. Was heisst das? Wo ist die Strategie? Sie verzerren. Burkhalter spricht nur von „Reformen“. Was für Reformen? Es ist alles so konzeptions- und strategielos. Gemäss Duden ist eine Strategie „ein genauer Plan zur Erreichung des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein (...) Ziel zu erreichen, und indem man diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen könnten, zum vornherein einzukalkulieren versucht“. Was ist das schweizerische Ziel des bilateralen Weges? Ich finde es nicht. Ist etwa der bilaterale Weg das Ziel? Ein Weg? Das mag für eine Freizeitgesellschaft noch angängig sein. Aber nicht für internationale Verhandlungen. Gemäss Burkhalter ist das strategische Ziel, einen Weg zu suchen, der für die EU akzeptabel ist. Na und? Jeder Vertrag muss von der anderen Seite angenommen werden. Das ist das Ende, nicht schon der Anfang. Was will die Schweiz und bis wohin kann man gehen? Wie ich aus Erfahrung weiss, ringt der Bundesrat vor Verhandlungen nie um diese Fragen. Ganz anders die andere Seite: Die EU weiss, was sie will. Nämlich, dass die Schweiz das künftige EU-Recht, das die EU allein setzt, akzeptiert und die EU-Gerichtsbarkeit akzeptiert und so die Schweiz schlussendlich in die EU zwingt. Nichts anderes als Kolonialverträge: Die EU bestimmt, die Schweiz akzeptiert. Letztlich will Bundesrat, Verwaltung und das Parlament in die EU. Doch zugeben würden sie es heute nicht mehr. Der Bundesrat lügt die Leute an? Wir reden von Politikern. Da sagt man nicht lügen, wenn sie ihre wahren Absichten verschleiern oder etwas anderes sagen, als sie denken. Während der letzten 20 Jahre tat Bundesrat und Parlament so, als würden sie bilaterale Verträge mit der EU abschliessen, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu wahren. In der EU sagten die Diplomaten das Gegenteil. Die Schweiz komme dann schon in die EU, das Beitrittsgesuch liege ja schon in Brüssel! Ist der bilaterale Weg so verheerend? Es gibt ja nichts anderes. Wie wollen sie etwas regeln, ohne Vertrag? Was heute zum „bilateralen Königsweg“ hochgeschrieben wird, ist seit 700 Jahren für die Schweiz Alltag. Aber Verträge können nur freie, eigenständige Staaten schliessen. Dank des EWR-Neins 1992 kann dies die Schweiz noch. Wäre die Schweiz im EWR, wäre ein Vertrag weder möglich noch nötig. Die EU sagt, der bilaterale Weg sei am Ende. Es brauche eins stärkere institutionelle Anbindung der Schweiz an die EU. Auch das erklärte die EU vor 20 Jahren. Was haben wir seither gemacht? Eher zu viel als zu wenige solcher bilateraler Verträge. Leider wird der Bundesrat wieder nachgeben. Chefunterhändler Michael Ambühl verneint. Der Bundesrat widerspricht Ihnen. Es geht nicht um einen neuen EWR, sondern darum, gegenüber der EU eine mehrheitlich mit Schweizern bestückte Behörde zu installieren, die in Konfliktfällen entscheiden kann, ob die Schweiz bestimmte EU-Regelungen übernehmen soll oder nicht. Wir behalten die Möglichkeit, nein zu sagen. Das war im EWR anders. Das wird die EU nicht akzeptieren. Sie will letztlich die Gerichtsbarkeit. Aber bleiben wir bei der Rechtssetzung. In der Schweiz ist der Bürger die oberste Instanz bei der Rechtssetzung. Wenn die Schweiz das von der EU gesetzte künftige EU-Recht übernimmt, hat der Bürger nichts mehr zu sagen. Eine der grossen Errungenschaften der Schweiz – die direkte Demokratie – würde preisgegeben. Warum hat die Schweiz weniger Schulden als andere Länder? Weil das Volk die Politiker besser kontrolliert. Schuldenbremse, obligatorische Referenden in Gemeinden, Kanton und Bund für Steuern etc. Dieses Recht ginge weitgehend verloren. Faktisch sind wir doch längst im EWR. Wie viel Prozent unserer Gesetze übernehmen wir heute schon von der EU? 80 Prozent? Nein. Natürlich regeln wir vieles gleich. Aber nur, wenn es der oberste Gesetzgeber – die Bürger – zulassen. Wir können es auch wieder ändern und abschaffen. Dagegen ist doch nichts einzuwenden. Wenn wir z. Bsp. die Autobahnen gleich anschreiben wie in der EU, ist das freiwillig und sinnvoll. Viele bilaterale Verträge sind aber fast ausschliesslich im Interesse der EU. Aus EU-Sicht entscheidend ist der Verkehrsvertrag. Er regelt die Durchfahrt durch die Alpen. Ein Pfand für die Schweiz? Natürlich. Wie wichtig das ist, sah ich 1989, als die Gotthardbahn verschüttet und während dreier Wochen blockiert war. Die norditalienische Industrie geriet in Versorgungsschwierigkeiten. Ich hätte nie gedacht, dass der Alpendurchgang noch heute von derart zentraler Bedeutung ist. Nochmals: Wir sind doch heute schon faktisch im EWR und übernehmen EU-Recht. Das nicht. Aber wir haben zweimal gesündigt. Erstens: Die Grenzöffnung durch Schengen/Dublin. Hier übernehmen wir automatisch das Recht. Das funktioniert nicht und bringt mehr Kriminalität. Wir haben die Visahoheit verloren und die Kontrolle über die Aussengrenzen, und haben statt – wie versprochen – halb so viel Asylsuchende bald das Dreifache. Sie sassen im Bundesrat, waren aber dagegen… Ja, das ist bekannt. In der bundesrätlichen Botschaft steht so viel bewusst Falsches. Statt der ausgewiesenen Kosten von 7 Mio CHF sind es jetzt 130 Mio CHF pro Jahr. Das konnte ich aus Gewissensgründen nicht vertreten. Was ist die zweite Sünde? Personenfreizügigkeit. Das müssen wir anpassen. Das sind verantwortungslose Vereinfachungen. Wenn die Schweiz die Personenfreizügigkeit kündigt, stürzt das bilaterale Vertragswerk ein. Nein. Nur wenn die EU das will. Aber das liegt nicht in ihrem Interesse. Glauben Sie doch nicht, dass die EU alle Verträge kündigt! Keiner ist so dumm, sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Wird die EU das Verkehrsabkommen kündigen? Sie müsste den Verstand verlieren, das zu tun. Aber wenn sie es trotzdem macht, geht für die Schweiz keine Welt unter. Ende der Personenfreizügigkeit? Die Leute aus der EU kämen trotzdem, um bei uns zu arbeiten. Kürzlich sagte Rolf Soiron, Verwaltungsratspräsident Holcim, es sei matchentscheidend für die Industrie, dass die Schweiz das neue Strommarktabkommen mit der EU abschliesse. Engere institutionelle Bindungen, wie sie der Bundesrat für diesen Modellvertrag vorsieht, seien zu akzeptieren. Matchentscheidend? In welchem Match spielt er? Wie die Leute, die schon 1992 bei einem EWR-Nein den Untergang der Schweiz prophezeiten, malen sie wieder neue Schreckgespenste an die Wand. Es ist ja niemand gegen vertragliche Regelung der Energiezu- und -ausfuhr. Aber stellen wir doch nicht deswegen die ganze Schweiz und ihre Wohlfahrt auf den Kopf. Es ist himmeltraurig, wenn führende Schweizer Industrielle ihren Match nur noch dann zu gewinnen glauben, wenn sie vorher die Schweizer Demokratie abschaffen. Sie unterstellen den damaligen EWR-Befürwortern, sie hätten nichts gelernt und wollten immer noch in die EU. Das stimmt nicht mehr. In der Schweiz wollen die wenigsten Politiker in die EU. Die haben doch auch etwas gelernt. Sie schämen sich inzwischen, dass sie damals für den EWR waren. Auch die Classe politique liest Meinungsumfragen und sieht: 80% der Leute wollen nicht in die EU. Also passen sie ihre Überlegungen an. Aber im Bundesrat, in der Bundesverwaltung, im Parlament sind 80 % für den EU-Beitritt oder nehmen ihn zumindest in Kauf. Das ist auch verständlich. Sie müssen die Interessen sehen: Wer verliert eigentlich, wenn die Schweiz in die EU oder den EWR geht? Wer profitiert? Die Classe politique verliert nicht. Im Gegenteil: Politiker können auch in der EU mitreden. Dort sind alle für alles zuständig und niemand für etwas. Finanziell ist die EU ebenfalls hochinteressant für Politiker, weil sie für stattliche Bezahlung in vielen Gremien „herumschwimmen“ können, ohne dass das Volk dreinredet. Für die Schweizer Politiker, die Grossfirmen, Interessenverbände ist das Volk eine Belästigung. Sie werden stets gebremst, sich frei zu bedienen und Geld auszugeben. In der EU ist das anders. Woche für Woche eine Gipfelkonferenz. In den elitären Gremien fühlen sich Herr Soiron von Holcim, oder Herr Kielholz von der CS und Rückversicherung, der immer wieder sagte, die Schweiz müsse in die EU, wohl. Solche Leute haben direkten Zugang zu den EU-Gremien. Was aber ist mit dem Schweizer Handwerker? Diese  und die Frau oder der Mann auf der Strasse sind ausgeschlossen. Sie sind auf den Stimmzettel angewiesen. Der Alleingang, den Sie propagieren, setzt voraus, dass man Widerstand leisten kann in der Art, wie Sie das vielleicht machen. Aber die Politiker und Beamten, Sie sagen es ja selber, haben ein anderes Ziel. Die Schweiz hat gar nicht das Personal, um Ihre Strategie umzusetzen. Sie haben Recht. Sie können nicht den Vegetarier schicken, um für den Metzgermeisterverband möglichst viel heraus zu holen. Aber sollen wir die Schweiz aufgeben, nur weil die falschen Leute in Bern sitzen. Alle entlassen? Nein, aber Sie können die Köpfe in eine andere Richtung drehen, wenn sie die richtigen Aufträge erteilen. Doch trotzdem: Über den Volksentscheid wird man sich auch in Bern nicht ganz ungestraft hinwegsetzen können. Immerhin die Schweiz ist heute – dank dem Volksentscheid 1992 – nicht in der EU. Ein kluger Bankier,  mit dem wir kürzlich gesprochen haben, hält es für unmöglich, dass die EU die Schweiz als Wohlstandsinsel in ihrer Mitte noch lange tolerieren wird. Der Anpassungsdruck werde zu gross. Aus seiner Sicht hat er Recht. Die Banken machen ja nichts anderes als jeden Tag ein bisschen nachgeben. An solchen Stimmen sollte man sich derzeit nicht orientieren. Ihm ist zu sagen: Druck des Auslandes auf die Schweiz ist eine Konstante der Schweizer Geschichte! Aber Widerstand auch. Das heisst nicht, dass man nicht irgendwo ab und zu nachgibt. Aber man gibt doch nicht schon von Anfang an auf. Und nicht bei den Staatssäulen. Erinnern wir uns: In den 60er Jahren war Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen – ehemals Generaldirektor des Welternährungsrates – eher dem Internationalen zugeneigt. Seiner Meinung nach hätte sich die Schweiz Europa politisch öffnen sollen. Aber er erklärte gegenüber ausländischen Forderungen sinngemäss: Wir als Regierung haben in der Schweiz zum EWG-Beitritt nichts zu sagen. In der Schweiz ist das Volk der Souverän, der Gesetzgeber. Und dieser will seine Souveränität nicht preisgeben. Er will auch in der Zukunft selbst bestimmen. Deshalb kann die Schweiz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht beitreten. Wo ist heute diese Sprache? Sie haben als Milliardär, der von seinem Feldherrenhügel herab Widerstandsparolen ausgibt, leicht reden. Die Risiken des Alleingangs blenden Sie aus, Ihnen kann nichts mehr passieren. Das Wichtigste in jeder Verhandlung ist, dass man dem anderen sagt, wo die Grenzen sind. Wir wollen die anderen nicht reizen, aber ihnen erklären, selbstständig und unabhängig bleiben zu wollen. Nach dem letzten Krieg haben alle Staaten feierlich erklärt - auch die europäischen: Es darf keine Kolonien mehr geben, weder indische noch afrikanische. Und das soll nur noch für afrikanische Staaten, nicht aber für die Schweiz gelten? Was wird der EU-Funktionär erwidern, wenn ich ihn anständig daran erinnere, dass auch die Schweiz keine Kolonie sein möchte? Und was den Milliardär angeht… ..auf seinem Feldherrenhügel.... - ich wohne nicht einmal zu oberst (lacht)! Hinter diesen Milliarden stehen doch Exportunternehmen mit dem Standort Schweiz. Unternehmer müssen reich sein. Es gibt nichts Traurigeres als arme Unternehmer! Wir wissen was exportieren heisst, was die Stärken und Schwächen des schweizerischen Wirtschaftsplatzes sind. Zum Beispiel die EMS-Chemie im Bündnerland. 2/3 der Produkte verkaufte man schon 1992 in die EU. Da muss mir doch keiner, der noch nie einen Bleistift verkauft hat, erzählen, dass man diesem Bürokratenverein beitreten müsse, um den Export zu stärken. Wir arbeiten doch schon lange auch viel mit China zusammen, aber es würde mir nie in den Sinn kommen zu fordern, die Schweiz müsse China beitreten oder einen chinesischen EWR abschliessen. Mit Amerika? Sicher nicht. Die NZZ schreibt in ihrem aktuellen Leitartikel: „20 weitere Jahre der leeren Polemik kann sich die Schweiz gegenüber Europa nicht mehr leisten.“ Wahrscheinlich gilt bei der NZZ jede andere Meinung bereits als Polemik. Wir haben doch 20 wunderbare Jahre hinter uns. Die Schweizer haben gearbeitet und ihre Wohlfahrt gesichert. Die Schweiz blieb unabhängig, ist gegen den Willen der ganzen Classe politique nicht in der EU, hat eine Schuldenbremse beschlossen, obwohl diese von der ganzen Linken bekämpft wurde. Wir haben einen Sinn für Wettbewerb entwickelt. Viel Eigenverantwortung. Die Nationalbank hatte in den 90er Jahren den Mut, obwohl die Wirtschaft schwächelte, eine Anti-Inflationspolitik durchzusetzen. Und heute? Steht die Schweizer Wirtschaft besser da als die EU. Grosse Teile des hochgelobten EU-Wachstums der 90iger Jahre beruhten auf faulen Krediten – z. Bsp. in Spanien, Griechenland, Portugal, etc. Heute stehen diese Staaten vor einem Totalschaden und verursachen eine wirtschaftliche Misere. Das sieht die NZZ nicht. Sie sieht nur, dass einer mal gesagt hat, die EU sei eine intellektuelle Fehlkonstruktion. Das ist ja furchtbar polemisch (lacht). Der frühere SP-Präsident Peter Bodenmann bezeichnete Sie in der letzten Weltwoche als „Märchenonkel“. Herr Bodenmann kennt den tieferen Sinn von Märchen nicht. Er meint, ein Märchen sei eine falsche Geschichte. Märchen aber formulieren eine tiefere Wahrheit. Märchen sind mehr als die Wahrheit. Insofern hat es mich gefreut, dass er mich als Märchenonkel beschrieb. Was hat Sie an der Diskussion zu 20 Jahren EWR überrascht? Erstens: Dass die politische Elite lange nicht zugeben wollte, dass der Entscheid richtig war, und jetzt 20 Jahre als Ziel den EU-Beitritt anstrebte. Diese Auseinandersetzung wird mit dem nächsten Vertrag wieder kommen. Zweitens: Ich war überrascht, dass die Bevölkerung heute noch stärker gegen den EWR ist als 1992. Es fängt an zu tagen. Den Kampf zu führen, fällt heute leichter, denn die Leute haben auch Augen und Ohren, um die EU zu beurteilen. Nennen wir zum Abschluss ein paar Namen, und Sie sagen uns ganz knapp, was Ihnen dazu einfällt. Michael Ambühl? Ein Stürmi. Ueli Maurer? Ein sorgfältiger VBS-Chef. Didier Burkhalter? Weiss nicht, was er will. Adolf Ogi? ….hat vergessen, dass er damals für den EU-Beitritt war. Franz Blankart? Er kommt wieder aus seiner Höhle. Er war ein guter internationaler Verhandler. Gäbe man ihm einen klaren Auftrag und liesse man ihn dann machen, müsste der Bundesrat nicht mehr selber verhandeln, was ein Vorteil für die Schweiz wäre. Eveline Widmer-Schlumpf? ...ist, glaube ich, Bundesrätin. Ihr grösster Gegner? ….ich finde ihn nicht mehr. Das ist ein Problem (lacht).§

06.12.2012

Öffentlicher Gedenkanlass vom 2. Dezember 2012 in Biel

zum 20. Jahrestag des EWR/EU-NEIN vom 6. Dezember 1992

06.12.2012

Schweiz ist der Einäugige unter Blinden

Interview Obersee-Nachrichten vom 6. 12.2012 zum Thema 20 Jahre EWR/EU-Nein