Testi

 

26.03.2007

Schweizer Wirtschaft – Stiefkind der Schweizer Politik?

Referat von Bundesrat Christoph Blocher vor der Statistisch-Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, 26. März 2007, Universität Basel 26.03.2007, Basel Basel. In seinem Referat vor der Statistisch-Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in der Universität Basel vertrat Bundesrat Christoph Blocher den Standpunkt, dass die beste Förderung der Wirtschaft ihre Nichtbehinderung durch den Staat sei. Die Swiss sei ein besonders anschauliches Beispiel dafür, dass die Vermischung von Staat und Wirtschaft nichts Gutes bringe. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. 1. Etwas mehr Vernachlässigung, bitte Die Frage, der wir heute nachgehen wollen, lautet: Ist die Wirtschaft tatsächlich ein Stiefkind der Schweizer Politik? Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Wird der Schweizer Wirtschaft von der Politik zu wenig Beachtung geschenkt? Wird sie gar – wie es eine Redensart beschreibt – stiefmütterlich behandelt? Man denkt bei "Stiefkind" gewöhnlich an das Schicksal Aschenbrödels, an die böse Schwiegermutter, an Erbsen zählen, Gemeinheiten, Bevorzugung, Benachteiligung. Wer stiefmütterlich behandelt wird, der wird – so versteht es der Volksmund – vernachlässigt. Aber das Problem des Aschenbrödels – und jedes Kindes – ist nicht unbedingt das Problem der Wirtschaft. Wenn unter "Stiefkind" eine gewisse Vernachlässigung verstanden würde, wäre das für die Wirtschaft – im Gegensatz zu Kindern – gar nicht so schlimm. Das Problem der Wirtschaft ist eher in der staatlichen Überbetreuung zu suchen. An zu viel von allem. Zu viel Beachtung in Form von Vorschriften, Kontrollen, Regulierungen. Zu viel Hinwendung in Form von staatlichen Eingriffen. Zu vielen politischen Gelüsten, Erfolg umgehend mit Steuern zu bestrafen und zu vielen Politikern, die unbedingt in Bereiche eingreifen wollen, von denen sie nichts verstehen. So können wir festhalten: Wenn die Politik die Wirtschaft vernachlässigen, wie ein Stiefkind behandeln würde, wäre das allemal besser, als wenn die Politik sich wie eine fürsorgliche Hyäne auf die Wirtschaft stürzt. 2. Swissair-Swiss-Debakel Wir erinnern uns mit Schaudern an das Swissair-Swiss-Debakel. Dass die Swissair Konkurs ging, war bedauerlich, aber letztlich die Folge von Fehlentscheidungen seitens der Unternehmensführung. Der Prozess in Bülach scheint mir da mehr eine therapeutische Aufarbeitung zu sein als ein wirklich brauchbarer Umgang mit Missmanagement. Denn letztlich hat der Markt das Unternehmen und seine Führung genügend abgestraft. Weit lohnender wäre eine Beschäftigung mit der Swissair-Nachfolgerin Swiss. Denn dort glaubte die Politik, als staatlicher Erziehungsverantwortlicher eingreifen zu müssen. Um im Ausgangsbild zu bleiben: Die Swiss wurde von der Politik alles andere als wie ein Stiefkind behandelt. Die Politiker entdeckten und propagierten bei der Swiss-Entstehung das "Primat der Politik". Mit dem "Primat der Politik" wurden Eingriffe in die Wirtschaft verteidigt, die den Schweizer Steuerzahler am Ende mehrere Milliarden Franken kosteten. Ich will Ihnen diese Aktion mit ein paar Beispielzitaten aus jener Zeit versüssen. Der Bündner SP-Nationalrat Andrea Hämmerle in der Herbstsession 2001: "Wir müssen das Primat der Politik unbedingt wiederherstellen." Der Aargauer SP-Nationalrat Urs Hofmann: "Staatliche Wirtschaftspolitik heisst, das Primat der Politik im richtigen Moment, wenn es nötig ist, zu unterstreichen und auch mit staatlichen Geldern zu intervenieren." Die SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer aus Basel-Land: "Wir dürfen das Geschäft nicht weiter den Banken und der Privatwirtschaft überlassen. Sie haben das Meisterstück mit dem Ruin der Swissair bereits vorgeführt." Die Zürcher SP-Nationalrätin Barbara Marty Kälin: "Wer, wenn nicht der Staat, soll denn handeln, wenn die Wirtschaft offensichtlich unfähig dazu ist?" Das sind alles Aussagen aus dem Herbst 2001. Das sind alles Aussagen, die den Weg ebneten, um ein staatlich finanziertes und gewerkschaftlich diktiertes Airlinemodell namens Swiss zu kreieren. Das sind alles Aussagen, die uns zeigen, dass die Politik die Wirtschaft alles andere als "stiefmütterlich" behandelte. Leider. Was wir heute wissen: Die Swiss flog genau so lange, bis das anfänglich noch vorhandene Eigenkapital (sprich: die eingeschossenen Steuergelder) verflogen war. Was wir weiter wissen: Das 26/26/82-Modell (26 Lang- und Mittelstreckenlinien, 82 Kurzstreckenlinien) orientierte sich nicht an den Bedürfnissen des Marktes, sondern an den Bedürfnissen der Gewerkschaften. Was wir vor allem feststellen konnten: Das Primat der Politik in einem privaten Unternehmen führt fast zwangsläufig in den Ruin. Ich erinnere daran, dass der Staat schon bei der Swissair als grösster Einzelaktionär fungierte, aber da war niemand aus der Politik, der je den Verwaltungsrat kritisiert hätte oder die Hunterstrategie oder das Management. Der Grund dafür ist simpel: Schon für Private, die ein Unternehmen führen müssen, ist es schwierig – wie die SWISSAIR gezeigt hat. Für den Staat ist es nur in einer Monopolstellung möglich! Das ist nicht Ideologie, sondern Erfahrung. Auf schwierigem bis gefährlichem Gelände befindet sich die Schweiz übrigens derzeit auch mit der SWISSCOM, die – obwohl kein Monopolist mehr – nach wie vor mehrheitlich in staatlichen Händen liegt, und im Interesse der SWISSCOM und der Schweiz privatisiert werden sollte! 3. Der Staat als Unternehmer? In einem freien Wettbewerb darf der Staat nicht als Unternehmer auftreten. Er ist grundsätzlich der falsche Eigentümer. Erst recht, wenn damit eine internationale und damit zwangsläufig risikoreiche Tätigkeit verbunden ist. Dies zeichnet sich für die Swisscom immer deutlicher ab. Unsere nationale Telekommunikationsgesellschaft steht auch als privatisierter Betrieb weiterhin unter dem Schutz des Bundes, denn dieser hält die Mehrheit des Aktienkapitals. Damit ist die Eidgenossenschaft als grösster Wettbewerbsteilnehmer und gleichzeitig als Wettbewerbshüter in eine unmögliche Rolle geraten. Bundesräte sind und bleiben politische Behörden und sind nicht dafür gewählt, Unternehmen zu führen. Aber unabhängig davon, ob wir fähig sind oder nicht, dem Bundesrat obliegt nun mal die Verantwortung über die zum Staat gehörenden Unternehmen. Diese Verantwortung nicht wahrzunehmen – sei es aus Unfähigkeit, Furcht oder Schlamperei – auch das geht nicht. Darum musste der Bundesrat entscheiden, als er die Expansionsstrategie der Swisscom unterband. Und er hat richtig entschieden. Gleichwohl ist die Situation nach wie vor unbefriedigend: Die Stiefmutter Staat müsste das Stiefkind Swisscom eigentlich in die Unabhängigkeit entlassen. Die Swisscom ist kein Kind mehr, sondern erwachsen. Das gilt auch für alle anderen teil- und scheinprivatisierten Betriebe. 4. Der staatlichen Förderung entgeht nichts. Die Swiss war bloss ein besonders extremes und daher besonders anschauliches Beispiel dafür, dass die Vermischung von Staat und Wirtschaft nichts Gutes bringt. Die Swisscom-Geschichte wäre uns Auftrag genug, die Staatsbeteiligung an Unternehmen im freien Markt sofort herunterzufahren. Nun begnügt sich der Staat nicht mit Beteiligungen an jenen Betrieben, die den Bürgern so wolkig-gemütlich als "Service public" verkauft werden. Der Staat will auch sonst nur das Beste für die Unternehmen… Es wird gefördert, unterstützt, subventioniert, "anstossfinanziert", wo man nur kann – und natürlich immer mit dem besten Willen. Es ist erstaunlich, was in diesem Land alles gefördert werden muss. Dem Förderungsdrang entgeht sozusagen nichts und niemand. Wir kennen zum einen die "Klassiker" unter den Beförderten: Die Exportförderung, die Wohnbauförderung, die Tourismus- und Regionalförderung, die Kulturförderung und neuerdings auch die Gesundheitsförderung. Sie dienen alle meist nur der Beruhigung des schlechten Gewissens, aber ein positiver Nutzen ist kaum auszumachen. Ich möchte Ihnen anhand von ein paar unrepräsentativ zusammengestellten Beispielen aufzeigen, wie weit der Förderungsdschungel in der Politik schon gediehen ist. So gibt1 es unter anderem in der Schweiz eine… "Kommission für Technologie und Innovation zur Förderung des Kontaktes zwischen der Wissenschaft und der Wirtschaft insbesondere der Klein- und Mittelbetriebe" (das nützt wahrscheinlich so viel, wie es kompliziert klingt); dann gibt es eine Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie. Diese fordert, der Bundesrat solle einen Entwurf für ein Gesetz ausarbeiten, das den Ersatz von Zweiradfahrzeugen mit Zweitaktmotoren durch solche mit Viertaktmotoren fördert (jetzt sehen Sie, welche wichtigen Aufgaben der Bundesrat zu erledigen hat – da verblassen die Milliarden Staatsschulden daneben…); dann will die Redaktionskommission eines Verfassungsrates "Massnahmen zur Förderung geschlechterparitätischer Besetzung politischer Gremien" (die Frauenförderung begleitet uns schon seit ein paar Jahrzehnten); weiter will eine Kommission für Wirtschaft und Abgaben die "Förderung der Biervielfalt durch Entlastung der Kleinbrauereien" (Prost!); dann haben wir ein Jugendförderungsgesetz, eine Kommission zur Förderung des kulturellen Lebens, eine Kommission für Integration und Förderung des interkulturellen Austausches, eine Förderung der gegenseitigen Achtung und Toleranz aller EinwohnerInnen, eine Förderung der Forschungskompetenz… …und schliesslich widmet sich die Schweizerische Kommission für die Erhaltung der Pilze (SKEP) intensiv den Fragen und Problemen rund um die Erhaltung und Förderung der wildlebenden Pilze in der Schweiz. Hinter all diesen Bemühungen mögen die besten Absichten stecken. Aber sind sie nötig? Ist diese Förderungsmanie nicht bloss ein Ausdruck dafür, dass der Staat an anderer Stelle so viele Auflagen und Regulierungen erlässt, dass die Förderung überhaupt nötig wird? Es wird ja oft und gerne die Landwirtschaft als besonders abschreckendes Beispiel der staatlichen Unterstützungspolitik herangezogen. Nur können die Bauern nicht viel dafür. Ich habe schon vor Jahren gesagt: Man könnte die Ausgaben in der Landwirtschaft um eine Milliarde senken, ohne dass deswegen die Bauern nur einen Franken weniger bekämen. Allein dadurch, indem die Gelder nicht in politisch bevorzugte (vornehmlich ökologische) Projekte flössen, indem man die Agrarbürokratie abbaute und den Produzenten und Grossverteiler mehr Freiraum gäbe die verschiedenen Standards selber untereinander zu regeln. Wir haben ja schliesslich bereits bestehende Lebensmittel- und Tierschutzgesetze und -verordnungen. Jetzt hat eine Studie die Agrar-Geldflüsse für das Jahr 2002 näher untersucht. Von den 4,1 Milliarden Franken kamen 900 Millionen gar nie bei den Bauern direkt an. Dafür fliessen grosse Summen in nicht landwirtschaftliche Betriebe (608 Millionen), in die Verwaltung (107 Millionen) und Produzentenorganisationen (54 Millionen), zu Beratern (18 Millionen) und in die Forschung (153 Millionen). So geht das. Die Politik muss Abermillionen ausgeben, um jene Fehler auszugleichen, die sie selber mitzuverantworten hat. Die beste Förderung bestünde doch darin, die Wirtschaft (auch die Landwirtschaft) sich so weit selber zu überlassen, wie es nur irgendwie möglich ist. 5. Gut gemeint ist selten gut gemacht Gut gemeint ist selten gut gemacht. Man kennt in der Volkswirtschaft den so genannten "Kobra-Effekt". Benannt ist dieser Effekt nach einer kleinen Geschichte aus Indien. Dort litt ein Landstrich unter einer besonders grossen Kobra-Plage. Daraufhin setzte der Herrscher eine Prämie für jede erlegte Kobra aus. Pro abgetrenntem Kobra-Kopf wurde eine bestimmte Summe ausbezahlt. Die Folge davon: Die Menschen begannen massenhaft Kobras zu züchten und verdienten sich so ihren Lebensunterhalt. Wer will es ihnen verübeln? Unser Fazit: Ein an sich gut gemeinter staatlicher Erlass verkehrt sich ins Gegenteil. Wir können diesen Effekt sehr gut in anderen Bereichen aufzeigen, etwa im Arbeitsmarkt, bzw. im Versuch, den Arbeitsmarkt durchzuregulieren. Von Mindestlöhnen, Maximallöhnen, Kündigungsschutz, Betriebsräten, Senkung der Arbeitszeit, Beschränkung der Ladenöffnungszeiten usf. ist, besonders von linker Seite, oft die Rede. Alles gut gemeint. Schauen wir uns ein Beispiel genauer an: Die Linken wollen Arbeitslosigkeit verhindern, indem sie den Kündigungsschutz ausbauen. Nach ihrer Logik bewahrt ein starker Kündigungsschutz die Menschen vor Arbeitslosigkeit. Das stimmt. Aber nur für jene, die bereits eine Arbeit haben. Alle anderen (Arbeitssuchende, Berufseinsteiger, junge Menschen) werden dafür krass benachteiligt, weil sich jeder Arbeitgeber dreimal überlegt, ob er jemanden einstellt, den er nachher kaum mehr loswerden kann. Wer kurzfristig Arbeitskräfte für drei, vier Monate braucht, will sich nicht auf zwei oder noch mehr Jahre hinaus binden – und wird folglich gar niemanden einstellen. Unser Nachbar Deutschland zeigt eigentlich auf abschreckende Weise, dass ein hoher Kündigungsschutz für eine viel höhere Sockelarbeitslosigkeit verantwortlich ist, während unser flexibles, angeblich so unmenschliches Modell viel besser dasteht. Kobra-Effekt pur. Alles gut gemeint. 6. Die beste Förderung ist die Nichtbehinderung Somit kommen wir zum Schluss und den Schlüssen, die wir aus unseren bisherigen Überlegungen ziehen können. 1. Das Problem der Wirtschaft ist nicht ihre Vernachlässigung durch den Staat. Sondern zu viel Staat in Form von Vorschriften, Regulierungen, Eingriffen, Steuern und Abgaben. 2. Die Unternehmer sind keine Engel. Wenn sie an staatliche Fördermittel gelangen können, dann greifen sie ungeniert zu. Auch Unternehmer sind nur Menschen. 3. Nach einer möglichst freien Marktwirtschaft rufen also höchstens die benachteiligten Konkurrenten und zwar genau so lange, bis sie selber eine vorteilhaftere Position erringen, um ihrerseits unliebsame Mitbewerber wieder zu benachteiligen. Eine liberale Wirtschaftsordnung verhindert solche Bestrebungen. 4. Der Staat taugt definitiv nicht als Unternehmer. Verflechtungen mit Unternehmen, die im Markt stehen, schaffen Wettbewerbsverzerrungen und Risiken, die am Ende die Steuerzahler zu tragen haben. 5. Eine Politik, die sich überall einmischt, mag dies vielleicht aus hehren Motiven tun, doch die Folgen verkehren sich meistens ins Gegenteil. Gut gemeint bringt selten gute Resultate. 6. Was wir anstreben, ist eine liberale Wirtschaftsordnung: Die freie Marktwirtschaft erscheint nur dem Laien brutal. Denn die Geschichte beweist das Gegenteil: Es ist einzig die Marktwirtschaft, die so viel Wohlstand unter so viel Menschen gebracht hat, und es ist einzig die Marktwirtschaft, in der sich der Tüchtige dank seiner Tüchtigkeit durchsetzen kann – ungeachtet seiner Hautfarbe, Religion oder Herkunft. Die Neigung der Politik, und namentlich der Politiker, in die Marktwirtschaft einzugreifen, war und ist gross. Immer wieder und überall versucht man diesen Markt zu "gestalten", zu formen, zu bemuttern. Diese Eingriffe werden meistens für besonders "sozial" erklärt – aber wir haben es in Wahrheit nur mit besonders sozialem Geschwätz zu tun. Darum lautet 7. die letzte und wichtigste Schlussfolgerung: Die beste Förderung der Wirtschaft ist ihre Nichtbehinderung durch den Staat. Ein freier Wettbewerb ist immer die fairste Form des Wettbewerbs. Weil alle sich den gleichen Bedingungen stellen müssen. Darum lautet die Devise für die Politik: möglichst wenig Behinderungen und staatliche Eingriffe. Die Marktwirtschaft organisiert sich selber. Qualität und Preis setzen sich immer durch. So will es der Kunde. So will es der Konsument. Und an diesen haben sich die Marktteilnehmer zu richten. Auf dass der Bessere, Günstigere und Tüchtigere gewinne. 1Teilweise handelt es sich im Folgenden auch um historische Beispiele.

23.03.2007

Massnahmenvollzug aufgrund der neuen Strafgesetzgebung

Rede von Bundesrat Christoph Blocher an der Feier zur Eröffnung des Massnahmenzentrums Bitzi, 23. März 2007, Mosnang SG 23.03.2007, Mosnang Mosnang. Anlässlich der Eröffnung des Massnahmenzentrums Bitzi in Mosnang ging Bundesrat Christoph Blocher auf die Grundfrage ein, welches Ziel mit der Strafe verfolgt werde. Gemäss neuem Strafgesetzbuch habe der Strafvollzug das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben. Ein Massnahmenzentrum biete die Möglichkeit, Täter mit psychischen Störungen zu therapieren. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. Anrede Lassen Sie mich mit einer Grundfrage beginnen, welche die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigt. Sinn und Zweck der Strafe Was ist Sinn und Zweck der Strafe? Wozu dient die Strafe? Liegt der Sinn der Strafe in der Vergeltung, der Rache? Der Abschreckung, der Prävention? Der Wiedereingliederung in die Gesellschaft oder dem Schutz der Gesellschaft? Nach heutigem Verständnis haben Strafen ihren Zweck einerseits in der Vergeltung und in der ausgleichenden Gerechtigkeit, andererseits aber auch in der Verhinderung von künftigen Straftaten. Das neue Strafgesetzbuch hält fest: Der Strafvollzug hat das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben. (Art. 75 Abs. 1 StGB). Der Förderung des sozialen Verhaltens, dem Gedanken der späteren Wiedereingliederung in die Gesellschaft wird also grosse Bedeutung beigemessen. Was allerdings kein wirklich neuer Ansatz ist, und zudem ein Ansatz, den wir mit nötigen Fragezeichen zu versehen haben. Da alle Straftäter früher oder später aus dem Strafvollzug entlassen werden, ist es sicherlich vernünftig, die Strafe möglichst so zu gestalten, dass der Wiedereintritt des Straftäters in die Gesellschaft einigermassen reibungslos verlaufen kann. Aber: Weder während des Strafvollzuges noch nach dem Strafvollzug darf der Täter eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen! Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten eindeutig zu kurz gekommen. Es mussten erst grausame Verbrechen von Freigängern geschehen, bis der Strafvollzug den Schutz der Bevölkerung wieder ins Zentrum stellte. Dazu musste auch das von den 68ern geprägte Prinzip der „Resozialisierung“ korrigiert werden. Über Jahrzehnte gerieten Rechtssprechung und Strafvollzug ins Fahrwasser einer Ideologie, die im Straftäter in erster Linie ein Opfer der Gesellschaft, des „Systems“ sah. Mit entsprechenden Folgen für die Strafmasse und den Strafvollzug. Warum braucht es Massnahmenzentren wie Bitzi? Umstritten bleibt die Frage, wie man soziales Verhalten fördert und erreicht. Damit beschäftigen sich im ganzen Land über einhundert Gefängnisse und Strafanstalten, in denen Gerichtsurteile vollzogen werden. Sie unterscheiden sich bezüglich Grösse, Sicherheit, Unterbringung, Arbeits- und Bildungsangeboten, Geschlossenheit oder Offenheit. Eine Besonderheit stellen dabei die Massnahmezentren dar. In einem Massnahmezentrum werden so genannte „Massnahmen“ vollzogen. Das heisst, in solchen Zentren werden Behandlungen ermöglicht für Täter, deren Tat auf eine psychische Abnormität, eine psychische Störung oder eine krankhafte Abhängigkeit zurückzuführen ist. Man versucht den Täter so zu therapieren, dass Rückfälle verhindert werden. In schweren Fällen ist dabei die Behandlung in einer geschlossenen Einrichtung unerlässlich. Am besten geschieht dies in Massnahmezentren. Oft muss es auch in weniger geeigneten Strafanstalten geschehen. Massnahmen haben also je nach Täter verschiedene Aufgaben zu erfüllen: Sie dienen der Besserung der Besserungsfähigen – oder der Einsprerrung der Unverbesserlichen. Massnahmen in Gefängnissen oder psychischen Kliniken Psychisch schwer gestörte Insassen in Gefängnissen bringen für den normalen Betrieb grosse Probleme mit sich. Der „normale“ Strafvollzug hat nicht die Mittel, die für diese Täter benötigt werden. Ihnen kann nur mit speziellen Behandlungsmethoden und Betreuungsprogrammen geholfen werden. Eben mit den so genannten Massnahmen. Dazu braucht es aber geeignete Gebäude und geschultes Personal. Schon seit vielen Jahren wird darauf hingewiesen, dass es nicht ausreichend Einrichtungen für die Behandlung von psychisch kranken Tätern gibt. Die psychiatrischen Kliniken können nur wenig beitragen. Sie sind für Straftäter schlecht eingerichtet und in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend offener geworden. Die Betreuung vom flucht- und gemeingefährlichen Straftäter ist dort unmöglich. Genugtuung über die Eröffnung des Massnahmezentrums Bitzi Mit der Eröffnung des Massnahmenzentrums Bitzi werden jetzt zusätzliche Plätze geschaffen. Von allen Strafurteilen, die im letzten Jahr in der Schweiz gefällt wurden, betraf zwar lediglich ein Prozent eine so genannte Massnahme. Aber im Strafvollzug sind Prozentrechnungen nur bedingt eine Richtgrösse. Heute bestehen in der Schweiz Massnahmezentren wie St. Johannsen im Kanton Bern, La Pâquerette im Kanton Genf, Schachen im Kanton Solothurn und jetzt neu Bitzi im Kanton St. Gallen. Massnahmenvollzug nach dem neuen Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches Mit dem neuen Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches wurde bei den Massnahmen eine Reihe von Neuerungen eingeführt. Es sind neu Grundsätze für die Anordnung von Massnahmen festgelegt worden. So beispielsweise das Prinzip der Verhältnismässigkeit, die notwendige Begutachtung und die Möglichkeit eines vorzeitigen Massnahmenantritts. Die stationäre Behandlung von psychischen Störungen soll wenn nötig in einer geschlossenen Einrichtung durchgeführt werden können. Alle fünf Jahre muss sie – falls notwendig – durch ein Gericht verlängert werden. Ebenfalls neu geregelt ist die Entlassung aus einer stationären Massnahme: das entscheidende Kriterium für eine bedingte Entlassung ist eine ausreichend gute Bewährungsprognose. Wichtig ist, dass auch klar definiert ist, wer letztlich eine Entlassung anordnet und damit auch Verantwortung für diesen Entscheid zu übernehmen hat. Eine klare Zuteilung der Verantwortung ist wohl der beste Weg, die Bevölkerung vor Experimenten mit gemeingefährlichen Straftätern zu schützen. Für schwere Straftäter, bei denen die Rückfallgefahr trotz Therapie nicht beseitigt werden kann, ist die nachträgliche Verwahrung ausdrücklich möglich. Besonderheiten des Massnahmenzentrums Bitzi Bitzi schafft hier neu 16 Plätze im geschlossenen Teil und 36 Plätze in der offenen Betreuungsabteilung. Trotz dieses offenen Teils wird den erhöhten Ansprüchen an die Sicherheit genügt. Die Aufteilung in kleine, überschaubare Einheiten lässt für die Zukunft Möglichkeiten offen, ohne grosse Zusatzinvestitionen angemessene Veränderungen vornehmen zu können. In der Landwirtschaft, der Gärtnerei und der Schreinerei gibt es Arbeitsplätze, die den unterschiedlichen Fähigkeiten der Inhaftierten entgegenkommen. Es werden ihnen Entwicklungsschritte ermöglicht. Ich bin überzeugt, dass Lösungen für diese schweren Aufgaben gefunden werden können, wenn das klare Ziel immer vor Augen gehalten wird. Und dieses Ziel ist die Verbesserung des Verhaltens der Inhaftierten, der Schutz vor Rückfällen und damit: der Schutz der Gesellschaft. Dank Den Verantwortlichen und den Mitarbeitenden des Massnahmenzentrums Bitzi wünsche ich für die Zukunft viel Kraft und Erfolg. Sie haben eine schwierige Aufgabe, die Sie – auftragsgemäss – abgeschirmt von der Öffentlichkeit erfüllen. Trotzdem nehmen ich und viele andere wahr, wie wichtig Ihre Arbeit für uns alle ist. Dafür danke ich Ihnen. Und ich gebe meiner grossen Hoffnung Ausdruck, dass Sie die hohen Erwartungen, die mit dieser neuen Einrichtung an Sie gestellt werden, erfüllen; und dass somit diese Einrichtung als Ganzes die hohen Erwartungen, die die Gesellschaft zu Recht an den heutigen Strafvollzug stellt, erfüllen wird. Dem Ostschweizer Konkordat danke ich für die Initiative und die Realisierung dieses Vorhabens!

18.03.2007

Es geht aufwärts und vorwärts – die erfolgreiche Beziehung zwischen der Schweiz und Russland

Referat von Bundesrat Christoph Blocher am Russian Economic and Financial Forum, 18. März 2007, in Zürich 18.03.2007, Zürich Zürich. Zur Eröffnung des Russian Economic and Financial Forums würdigte Bundesrat Christoph Blocher die wachsenden Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Russland und betonte die Wichtigkeit, die Wirtschaftsbeziehungen zu vereinfachen. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. Noch vor 10 Jahren galt Russland für den Westen als beinahe hoffnungsloser Sanierungsfall. Was ist heute? Heute ist Russland wieder eine Weltmacht. Dies ist einerseits auf die enormen innenpolitischen Veränderungen zurückzuführen, andererseits aber auch mit der Bedeutung Russlands als Energieversorger. Die neue alte Weltmacht Nach Saudi-Arabien exportiert Russland zurzeit das meiste Erdöl. Russland verfügt über die weltweit grössten Erdgasreserven. Die russische Wirtschaft wächst ungebrochen: Seit 1999 durchschnittlich um mehr als sechs Prozent im Jahr. Im Jahre 2001 exportierte die Schweiz für 108 Milliarden Waren und Dienstleistungen ins Ausland. Die Schweiz lag noch 2001 auf Rang 17 der grössten Exportnationen. Im gleichen Jahr beliefen sich Russlands Exporte auf lediglich 103 Milliarden. Die Exporte des mächtigen Russland waren also kleiner als die der Schweiz. Ganz anders ist die Situation 2005: Obwohl die Schweiz die Exporte von 108 Milliarden auf 151 Milliarden gesteigert hat, wurde sie von Russland überholt: Russland steigerte sich von 103 auf 243 Milliarden Dollar! Man wird relativierend einwenden: Der Erdölpreis habe sich verdoppelt. Aber diese Relativierung relativiert sich wiederum selber: Denn die 243 Milliarden Dollar Exporterlöse bleiben 243 Milliarden. Und diese Milliarden wollen investiert werden. Rasant wachsende Handelsbeziehungen Heute steht Russland mit prallgefüllten Staatskassen da: Rund 250 Milliarden Dollar an Devisen- und Goldreserven. Wie erwähnt: Dieses Geld will investiert werden. In die heimische Infrastruktur oder in ausländische Industrien oder in Geldanlagen. Kein Wunder, dass die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und Russland wachsen. Ähnlich erfreulich ist das wachsende Investitionsvolumen auf beiden Seiten. Umso wichtiger ist es, die Wirtschaftsbeziehungen zu vereinfachen. Dafür haben die Schweiz und Russland letztes Jahr Freihandelsgespräche vereinbart. Migration Die Waren und der Handel sind das eine. Als Justizminister bin ich namentlich für die Migration in die Schweiz zuständig. Hier knüpfen die beiden Länder an Beziehungen an, die weit vor die sowjetischen Zeiten zurückreichen. Ab dem 15. Jahrhundert wanderten besonders viele Schweizer Architekten und Militärs nach Russland aus. Einer der bekanntesten Schweizer Architekten in Russland war Domenico Trezzini. Er entwarf die Pläne für die Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg! Ab dem 18. Jahrhundert haben sich dann vermehrt auch Schweizer Wissenschafter in Russland niedergelassen, darunter der Mathematiker Leonard Euler, der 1727 an die Universität St. Petersburg berufen wurde. Umgekehrt kamen um 1900 viele russische Studenten in die Schweiz; besonders junge Frauen, denen ein Studium in ihrem Heimatland damals noch verwehrt war. An der medizinischen Fakultät der Universität Genf verzeichnete man im Wintersemester 1911/12 659 Studierende, davon 408 Russen (zu drei Vierteln Frauen), 73 Bulgaren und nur gerade 88 Schweizer. Natürlich erinnern wir uns hier in Zürich auch an den Schweizer Aufenthalt Lenins. So kommt es, dass mir ein russischer Minister kürzlich zurief: "Hätte die Schweiz Lenin damals kein Asyl gewährt, wäre die Revolution ausgeblieben." Ich schob die Verantwortung – wie das unter Staaten üblich ist – weiter und antwortete ihm: "Nein, es waren die Deutschen. Sie haben Lenin eigenhändig wieder in Russland eingeschleust." Zugegeben: Es wäre wohl für alle besser gewesen, wenn Lenin in der beschaulichen Limmatstadt Zürich geblieben wäre und ein beschauliches Leben zu Ende geführt hätte. Neue Abkommen in Sicht Heute haben wir es mit anderen Migrationsverhältnissen zu tun. Ab 2008 tritt bei uns ein neues Ausländergesetz in Kraft. Russische Staatsangehörige, welche in der Schweiz einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, benötigen eine Bewilligung. Die Bewilligung hängt vom Interesse der Gesamtwirtschaft und den Chancen der nachhaltigen Integration auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt ab. Wir beabsichtigen aber, mit einem Visumabkommen die Reisetätigkeit zwischen unseren beiden Ländern zu vereinfachen. Ziel eines solchen Abkommens ist die gegenseitige Erleichterung der Visumausstellung. Bei einem Kurzaufenthalt bis zu 90 Tagen soll die Erleichterung erfolgen. So wie dies Russland mit der Europäischen Union auch vereinbart hat. Demnach gelten Visumerleichterungen beispielsweise für Mitglieder von offiziellen Delegationen, welche für Meetings, oder Verhandlungen in die Schweiz reisen. Insbesondere kommen aber auch Geschäftsleute wie Sie in den Genuss von Visumerleichterungen. Die baldige Zugehörigkeit der Schweiz zum Schengen-Raum wird in Zukunft Ihre Geschäfts- oder Privatreisen in die Schweiz zusätzlich erleichtern. Dadurch wird nämlich eine doppelte Visumbeantragung für russische Reisende nach Europa entfallen. Sie sehen: Die wirtschaftlichen und menschlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland sind auf bestem Weg. Schauen wir, jeder an seinem Ort, dass wir diese erfolgreiche Beziehung fortführen und verstärken können.

17.03.2007

Kriminalität, Sicherheit, Ausländer – eine Standortbestimmung

Referat von Bundesrat Christoph Blocher an der Delegiertenversammlung der SVP Schweiz, 17. März 2007, Lugano 17.03.2007, Lugano Lugano. Die Jugendgewalt muss laut Bundesrat Christoph Blocher als gesellschaftliche Fehlentwicklung bekämpft werden. An der Delegiertenversammlung der SVP drängte der Bundesrat darauf, die Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen und die Migrations-, Einbürgerungs- und Polizeibehörden besser zu vernetzen. Zudem müsse die Prävention intensiviert und die Integration ausländischer Jugendlicher forciert werden, sagte Bundesrat Blocher. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. Sehr geehrte Damen Sehr geehrte Herren 1. Das Ausmass der Taten In der Stadt Zürich vergewaltigt eine Bande von Jugendlichen ein dreizehnjähriges Mädchen. Alle zwölf Verdächtigen haben polizeiliche Vorakten, unter anderem wegen Raubdelikten. Die Medien und Behörden versuchen die Herkunft der Täter zu vertuschen. Erst Tage später schreibt der Tages-Anzeiger: „Unter den zwölf Verhafteten sind sechs Schweizer. Es soll sich um eingebürgerte Jugendliche aus dem Balkan und der Türkei handeln; die restlichen stammen ebenfalls aus dem Balkan sowie je einer aus Italien und der Dominikanischen Republik.“ Das sind keine Amtsgeheimnisse (TA 18.11.2006). Im November 2006 wird eine Massenvergewaltigung in Steffisburg (BE) bekannt. Die Beschuldigten: Zwei albanische Brüder (15 und 16 Jahre alt), ein Pakistani (15), ein Schweizer tamilischer Herkunft (16), ein Brasilianer (18) und zwei weitere 18jährige Ausländer. Das sind keine Amtsgeheimnisse (Blick, 15.11.2006) Ebenfalls im November 2006 wird die Schändung der katholischen Kirche von Muttenz bekannt. Die jugendlichen Täter aus dem Balkan (alle nichtchristlichen Glaubens) haben den Innenraum mit Kot und Urin besudelt. Das sind keine Amtsgeheimnisse, sondern öffentlich bekannte Taten. (Basellandschaftliche Zeitung, 21.11.2006) Bereits im Juni 2006 ereignete sich im bündnerischen Rhäzüns eine brutale Schändung eines 5jährigen Mädchens. Die Täter: Zwei Jungen (10 und 13 Jahre alt) stammen aus dem Kosovo. Alles öffentlich bekannt. In diesem Monat wurde ein weiterer Fall bekannt und zwar aus dem Kanton Freiburg. Junge bis jugendliche Täter sollen sogar über mehrere Monate minderjährige Mädchen vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen haben. Die Täter stammen laut dem Freiburger Justizdirektor Erwin Jutzet mehrheitlich aus dem Balkan. Auch dies ist öffentlich bekannt. Was ist diesen fünf Meldungen gemeinsam? Und was bestätigen eingehende Untersuchungen in Fachkreisen? 1. Das Ausmass der Jugendgewalt und die Brutalität haben erschreckend zugenommen. 2. Viele der jugendlichen Täter sind schlecht integrierte Ausländer, namentlich aus dem Balkan. 3. Es herrscht allgemeine Hilflosigkeit gegenüber dieser Entwicklung. Alle fühlen sich zuständig – also ist niemand wirklich zuständig. Alle halten die anderen für schuldig – also trägt keiner Verantwortung. 4. Nach wie vor versuchen Amtsstellen, aber auch gewisse Medien und politische Kreise das Thema Gewalt von jungen Ausländern zu leugnen, zu vertuschen oder zu verharmlosen. 2. Arbeitsgruppe zur Jugendgewalt Die Gewalt unter Jugendlichen beschäftigt viele Menschen. Die Bürgerinnen und Bürger – vor allem auch Eltern und andere Erziehungsverantwortliche – sind beunruhigt über die Entwicklungen in der Jugendkriminalität. – Dies gilt nicht nur für Ausländer, sondern allgemein. Ausserdem sind verschiedene Fachleute, Direktbetroffene, Ämter an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement gelangt. Die eingangs erwähnten Vorfälle haben uns weiter bestärkt, die Jugendgewalt zur Kernaufgabe im Jahr 2007 zu erklären. Seit Dezember 2006 ist unter meinem Vorsitz mit den Bundesämtern für Justiz, Migration und Polizei eine Projektgruppe intensiv an der Arbeit. Mehrere Aussprachen sind erfolgt, eine mit rund 30 Fachleuten, die sich in ihrer täglichen Arbeit mit Jugendgewalt befassen. Bei diesem und anderen Treffen wurde klar: Es besteht Handlungsbedarf. Die Jugendgewalt hat massiv zugenommen. Zugenommen hat nicht nur das Ausmass. Beängstigend ist, dass die Gewalt härter, brutaler und gnadenloser geworden ist. Es wird auf Schwache eingeprügelt, auch wenn das Opfer bereits wehrlos am Boden liegt. Und es gibt immer mehr auch organisierte Gewalt durch Gruppen und Banden, die sich oft ad hoc zusammensetzen und aktiv werden. Die Gesamtzahl der Jugendstrafurteile wegen Gewaltdelikten hat von 2000 bis 2005 um mehr als 80 % zugenommen, hat sich also fast verdoppelt (Statistik der Jugendstrafurteile 2006, S. 26?). Markant sind die Steigerungsraten insbesondere bei bestimmten Gewaltdelikten: Jugendstrafurteile nach Delikt, 2000-2005 (Statistik der Jugendstrafurteile 2006, Tabelle 14) 2000 2001 2002 2003 2004 2005 Einfache Körperverletzung 265 381 401 466 519 638 Raub (Art. 140 StGB) 209 241 259 322 332 374 Drohung (Art. 180 StGB) 148 208 218 244 298 317 Bekanntlich lässt sich von Strafanzeige- bzw. Strafurteilsstatistiken nicht ohne weiteres auf die tatsächliche Häufigkeit von Straftaten schliessen (sog. Dunkelfeldproblematik), so dass über das Ausmass und die Entwicklung der Jugendgewalt keine vollständige Klarheit besteht. Die Dunkelziffer dürfte aber erheblich sein: Oftmals getrauen sich die Opfer nicht, die Strafbehörden einzuschalten, häufig aus Furcht vor weiteren Repressalien. Vor diesem Hintergrund scheint es weitgehend sinnlos, sich über Steigerungsraten zu streiten. Fakt ist: Jugendgewalt besteht in einem beunruhigenden Ausmass und Jugendgewalt nimmt stark zu. Grundsätzlich stellen wir fest, dass die Hemmschwelle bei Jungen stark gesunken ist; sie schlagen schneller zu. Dabei spielt zum Teil übertriebener Alkoholgenuss eine Rolle, aber auch die omnipräsenten Gewaltdarstellungen im Alltag. Die Ausländerfrage spielt mit hinein. Die Zahlen und die Erfahrungen der Fachleute sprechen ein klare Sprache: Auffallend hoch ist der Anteil von Tätern mit „Migrationshintergrund“. Und dort wieder vor allem von Jugendlichen aus dem Balkan. Das ist die übereinstimmende Aussage der Verantwortlichen. Jugendstrafurteile nach Aufenthaltsstatus, 2005 (Statistik der Jugendstrafurteile 2006, Tabelle 12) Total Schweizer/innen Ausländer/innen mit Wohnsitz in der Schweiz Anzahl Anzahl % Anzahl % Einfache Körperverletzung 638 270 42,3 347 54,4 Raub 374 161 43,0 198 52,9 Drohung 317 147 46,4 159 50,2   Setzt man die Anzahl der Verurteilungen zur Anzahl der Angehörigen der entsprechenden Wohnbevölkerung in Beziehung, so akzentuieren sich die Unterschiede: Bei verschiedenen Delikten werden jugendliche Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz um ein Mehrfaches häufiger straffällig als Schweizer ihrer Altersgruppe (vgl. die Statistik der Jugendstrafurteile 2006, Tabelle 10). Aber auch unter den Jugendlichen ausländischer Herkunft bestehen beträchtliche Unterschiede. So machen gemäss den neuesten Zahlen aus dem Kanton Zürich bei Delikten gegen Leib und Leben Jugendliche aus Balkanländern 52,6 Prozent von allen ausländischen tatverdächtigen Jugendlichen aus. (Neue Zürcher Zeitung, 9.2.2007. Daten aus der Kriminalstatistik der Kantonspolizei Zürich.) So weit die ersten Erkenntnisse. So weit die ersten Schlüsse. So weit die erste Einkreisung des Problems. 3. Das übliche Reaktionsschema Als ich ein erstes Mal über die Ergebnisse einer dazu gebildeten dieser Arbeitsgruppe sprach, lief das übliche Reaktionsschema ab (wir kennen den Vorgang ja aus anderen Zusammenhängen): Die einen verharmlosen den Sachverhalt oder streiten ihn rundweg ab. Aus diesen Kreisen tönt es dann, die Jugendkriminalität habe im Vergleich zum Vorjahr gar nicht zugenommen. Es komme einfach auf das Zählverfahren an. Interessant. Die Kriminalität ist also bloss eine Frage der Buchhaltung. Andere rufen sofort: Aber halt! Der Justizminister ist für diese Frage gar nicht zuständig! „Eigenmächtige Einmischung“, betitelte eine Sonntagszeitung ihren Kommentar. Die Bekämpfung der Jugendkriminalität sei doch Sache der Kantone. Der Bundesrat dürfte ja gar nichts unternehmen gegen die Jugendgewalt. Eine dritte Gruppe beschwichtigt: Wir haben doch schon alles bestens geregelt. Wir verfügen über die nötigen Gesetze. Keine der vorgeschlagenen Massnahmen sei wirklich neu. Die Ausweisung von notorischen Jugendstraftätern etwa werde bereits praktiziert. Besonders beliebt ist es auch nach wie vor, jeden Hinweis auf den auffallend hohen Ausländeranteil unter jugendlichen Straftätern als „fremdenfeindlich“ abzutun. Auf die gleiche Weise wurde jahrelang der Asylmissbrauch verschlampt. Auf die gleiche Weise wurden sämtliche Ausländerprobleme geleugnet. Schlimmer noch: Wer die Ausländerkriminalität beim Namen nannte, wer die hohen Sozialkosten von Ausländern kritisierte, wer auf die Gewaltbereitschaft von Leuten aus dem Balkan verwies, wer auf die grossen Probleme in Schulen mit hohem Ausländeranteil zu sprechen kam, wurde sofort selbstherrlich von den Linken, den Medien und Gerichten in die fremdenfeindliche Ecke gestellt. Beim Thema Jugendgewalt läuft es ähnlich ab. Die einen sagen: Das Problem ist herbeigeredet. Die Anderen sagen: Doch, doch, wir haben ein Problem – aber schuld sind die anderen. Die Jugendämter sprechen von der Verantwortung der Schule. Die Schulen von der Verantwortung der Eltern. Die Eltern von der Verantwortung der Schulen. Die Politik von der Verantwortung der Polizei. Die Polizei von der Verantwortung der Politik. Das Fazit der ganzen Aufregung: Am Ende passiert gar nichts. 4. Probleme erkennen und benennen Der erste Schritt zur Problemlösung ist immer der gleiche: Zuerst muss das Problem erkannt werden und zweitens muss das Problem beim Namen genannt werden. Wie sieht es mit dem Anstieg der Jugendkriminalität aus? Es gibt Zahlen, soweit sich diese polizeilich erfassen lassen. Doch die Dunkelziffer ist relativ hoch. Einerseits stellt man fest, dass die Opfer sich aus Furcht vor Repressalien oft nicht getrauen, die Polizei einzuschalten. Andererseits bestehen namentlich in Schulen Hemmungen, die Polizei einzuschalten. Wie sieht es mit der Zusammensetzung bei den Jugendstraftätern aus? Der Anteil von Tätern mit „Migrationshintergrund“ ist sehr hoch. Dabei handelt es sich vor allem um Jugendliche mit Identitätsproblemen. Diese führt zu Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühlen. Unsicherheitsgefühle werden sehr oft durch Gewaltanwendung kompensiert. Wenn wir die Probleme lösen wollen, muss man sie ansprechen dürfen, ohne dass einem Rassismus vorgeworfen wird. Durch Verdrängen löst man keine Probleme. Wie sieht es mit den Erziehungsverantwortlichen aus? Wir leiden heute unter den Spätfolgen antiautoritärer Erziehungsformen. Die Kinder werden alleine gelassen. Die Eltern setzen Grenzen oder stellen Schranken oft zu spät auf. Oft erst, wenn die Kinder und Jugendlichen am Rand der Kriminalität stehen. Und verstehen Sie mich richtig: Die Erziehungsfrage betrifft uns alle. Schweizer und Ausländer. Es beginnt damit, dass nicht mehr feststeht, wer verantwortlich für die Erziehung ist. Ist es die Schule? Sind es die Eltern? Ist es „die Gesellschaft“? Eltern haben begonnen, einen Teil der Erziehung an die Schule auszulagern – das überfordert die Lehrer. Man kann nicht verlangen, dass die Schule allein für die Erziehung verantwortlich ist. Fachleute sprechen von einer eigentlichen „Erziehungsverweigerung“ der Eltern. Bei aller Idealisierung der externen Kinderbetreuung: Die Eltern sind und bleiben verantwortlich für das, was ihre Kinder tun. Sie sind auch in die Pflicht zu nehmen. Wie jeder Obhutspflichtige müssen auch Eltern zur Rechenschaft gezogen werden: Mit Schadenersatzzahlungen, bei ausländischen Kindern bis hin zur Ausweisung der ganzen Familie. Natürlich kann sich auch die Schule nicht aus der Erziehungsaufgabe abmelden. Die Lehrpersonen brauchen darin aber Unterstützung, was oft fehlt. In schweren Fällen hat die Schule mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Lange Zeit hatten viele Lehrpersonen ein gestörtes Verhältnis zur Polizei; sie duldeten keine Polizei im Schulumfeld. Erste Versuche zeigen, dass wir Gewaltprävention auch in den Schulen brauchen: Erziehung zum gewaltfreien Zusammenleben an Schulen durch dafür ausgebildete Personen wie etwa Polizisten, ähnlich der Verkehrserziehung. Passieren Straftaten auf den Pausenplätzen, muss die Schule die Polizei rufen: Verletzung von Regeln ist konsequent zu sanktionieren. Dort, wo die Situation sehr problematisch ist, sind regelmässige Polizeipatrouillen sinnvoll. 5. Was ist zu tun? Wo haben wir also anzusetzen? Ein Missstand ist, dass die Strafverfolgung nicht immer effizient funktioniert. Es scheint nicht in erster Linie ein Problem der Gesetze zu sein, sondern des Vollzugs. Die Verfahren dauern zu lange, die angeordneten Sanktionen greifen oft zu kurz und verfehlen deshalb ihre Wirkung, die Koordination staatlicher Tätigkeiten ist mangelhaft. Die Folgen sind gravierend: Polizisten und andere Vollzugsleute sind frustriert, weil sie sehen, dass nichts passiert. Das lähmt die Arbeit. Resignation ist weit verbreitet. Auch bei Lehrern. Tatsache ist auch, dass die Behörden zu wenig gut vernetzt sind; oft weiss die eine Behörde nicht, was die andere tut. Migrations-, Einbürgerungs- und Polizei-, Zivilstands- und Schulämter müssen besser zusammenarbeiten und gemeinsame Ziele verfolgen. Die ersten Ergebnisse bringen uns zu folgenden Schlüssen: 1.Die Eltern sind durch geeignete Massnahmen zu unterstützen: Eine Vielzahl von Studien geht heute davon aus, dass eine Ursache für Jugendgewalt durch Beziehungsdefizite in den Generationenbeziehungen zu erklären ist – also gestörte Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern, Lehrern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen. Auch die COCON Studie des Jacobs Centers for productive youth development bestätigt, wie wichtig die emotionale Verbundenheit zwischen Eltern und Kindern ist und wie prägend für den Entwicklungsstand des Mitgefühls und der Verantwortungsbereitschaft von Jugendlichen. Zu prüfen ist aber auch eine verstärkte Verpflichtung der Eltern zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung in der Erziehung. Denkbar wäre z.B. eine Verschärfung der zivilrechtlichen Haftung der Eltern bei Vernachlässigung elementarer Erziehungspflichten. 2. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden muss verbessert werden: Das gilt zunächst einmal für Migrations-, Einbürgerungs- und Polizeibehörden. Es darf nicht sein, dass diese Amtsstellen unabhängig voneinander vorgehen und die eine Behörde nicht weiss, was die andere tut. Hier ist vermehrte Koordination unabdingbar. Zentral erscheint aber die Zusammenarbeit zwischen den Schulen und der Polizei: Hier ist zu prüfen, ob für die Lehrkräfte bei Delikten einer bestimmten Schwere eine Anzeigepflicht geschaffen werden soll. Wenn auf Pausenplätzen gravierende Straftaten begangen werden, muss die Polizei darüber informiert werden. Diese Massnahmen haben aber nur dann Erfolg, wenn die Lehrerinnen und Lehrer in ihrer pädagogischen und erzieherischen Funktion gezielt geschult und unterstützt werden sowie im Zusammenspiel mit präventiven und intervenierenden und repressiven Massnahmen im Rahmen der Schulsozialarbeit umgesetzt werden. 3. Die Präventionsarbeit muss intensiviert werden, vorab an der Schule. Gewalt ist nicht nur als Thema in den Unterricht einzubauen, denkbar scheint insbesondere auch der Beizug erfahrener Polizeibeamter nach dem Vorbild des sog. Verkehrsunterrichts. Viele Präventionsmassnahmen erfordern ferner die aktive Beteiligung der Familien. Aus diesem Grund müssen Bemühungen vermehrt darauf ausgerichtet werden, auch fremdsprachige und wenig gebildete Familien ausländischer Herkunft für Präventionsmassnahmen zu erreichen. 4. Die Integration ausländischer Jugendlicher muss stärker forciert werden. Namentlich Sprachkenntnisse müssen so früh als möglich vermittelt werden. Wo die Integration aber konsequent verweigert wird, müssen effiziente ausländerrechtliche Massnahmen zur Verfügung stehen. Das muss bis zur Ausweisung führen können. 5. Die Strafverfahren sollen nach Möglichkeit verkürzt werden: Jugendliche müssen für begangenes Unrecht so rasch als möglich sanktioniert werden. Erfahrungen in der Jugendarbeit belegen, dass grosse zeitliche Distanzen zwischen Straftat und Sanktionsmassnahmen zusätzlich zu problematischem Verhalten führen. Dabei geht es nicht darum, um jeden Preis eine hohe Strafe zu fordern. Es müssen "massgeschneiderte", dem Täter angepasste Sanktionen verhängt werden. 6. Das neue Jugendstrafgesetz ist jetzt seit dem 1.1.2007 in Kraft. Es sieht eine breite Palette von Sanktionsmöglichkeiten vor, es können nun auch härtere Strafen verhängt werden (Freiheitsentzug bis zu vier Jahren: Art. 25 JStG; statt wie bisher Einschliessung bis zu einem Jahr: Art. 95 StGB alte Fassung). Die weiteren Entwicklungen in diesem Bereich sind genau zu beobachten. Sollte sich das neue Gesetz als unzureichend erweisen, sind möglichst rasch entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Wir wollen, dass Kriminelle und Integrationsverweigerer die Konsequenzen ihres Handelns spüren. Wir wollen, dass auch jugendliche Problemausländer hart angefasst werden, zum Schutz all jener Immigranten, die sich bemühen in unserem Land, die arbeiten, Leistung erbringen, sich an die Gesetze halten und sich mit der Schweiz identifizieren. Wir wollen, dass die Jugendkriminalität als gesellschaftliche Fehlentwicklung angegangen wird. Da sind wir alle gefordert: Schweizer und Ausländer. Eltern und Schulen. Behörden und Private. Wir wollen, dass Kriminelle und Integrationsverweigerer die Konsequenzen ihres Handelns spüren. Wir wollen, dass auch jugendliche Problemausländer hart angefasst werden, zum Schutz all jener Immigranten, die sich bemühen in unserem Land, die arbeiten, Leistung erbringen, sich an die Gesetze halten und sich mit der Schweiz identifizieren. Wir wollen, dass die Jugendkriminalität als gesellschaftliche Fehlentwicklung angegangen wird. Da sind wir alle gefordert: Schweizer und Ausländer. Eltern und Schulen. Behörden und Private.

16.03.2007

Das Tessin und die EU: Selbstbestimmung, Steuerhoheit, Sicherheit

Referat von Bundesrat Christoph Blocher an der Informationsveranstaltung der SVP Tessin, 16. März 2007, Locarno 16.03.2007, Locarno Locarno. An der Informationsverstaltung der SVP Tessin erinnerte Bundesrat Christoph Blocher an die hohen Nein-Quoten aus dem Tessin zu Abstimmungen über aussenpolitische Themen und drückte seinen Wunsch aus, die restliche Schweiz würde sich ein Beispiel nehmen an der Widerstandskraft und dem Unabhängigkeitswillen der Tessiner. Des Weiteren sprach er sich im Zusammenhang mit der Jugendkriminalität für eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Migrations-, Einbürgerungs- und Polizeibehörden aus. Es gilt sowohl das mündliche wie das schriftliche Wort, der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen. 1. Vorbild Indemini Sie kennen wahrscheinlich alle die Gemeinde Indemini. Sie liegt gleich hier gegenüber von Locarno, auf der anderen Seite des Lago Maggiore. Allerdings steckt das kleine Dorf hinter einem Bergrücken, am oberen Ende des Valle Veddasca, unmittelbar an der Grenze zu Italien und ist somit von hier aus nicht zu sehen. Warum erwähne ich dieses Indemini? Es gibt eine interessante historische Begebenheit: Rein topographisch betrachtet, müsste Indemini eigentlich zu Italien gehören. Es liegt jenseits eines Passes in einem ansonsten italienischen Tal. Und tatsächlich wollte die Obrigkeit Indemini einmal "loswerden", abtauschen mit der italienischen Gemeinde Campione, die ihrerseits ganz in der Schweiz liegt. Diese Umtauschaktion scheint auf den ersten Blick ganz vernünftig zu sein. Aber wir haben es mit der Vernunft von Technokraten zu tun. Es ist die Vernunft, die mit Bleistift und Papier handelt, aber nichts versteht von der Geschichte und den Menschen. Die paar Hundert Einwohner von Indemini wehrten sich und konnten den Abtausch erfolgreich verhindern. Sie wehrten sich für den Verbleib im Tessin und feiern heute mit uns allen den Nationalfeiertag am ersten August. Was entnehmen wir dieser kleinen Episode? Erstens, es ist wichtig, dass die Menschen selber über ihr Schicksal bestimmen können. Zweitens, wenn sich die Tessiner entscheiden können, dann entscheiden sie sich immer für die Unabhängigkeit und damit für die neutrale, föderalistische, direktdemokratische Schweiz. Ich sehe das jedes Mal mit Stolz und Genugtuung. 2. Mit der SVP gestimmt Bei aussenpolitischen Urnengängen stimmt der Kanton Tessin regelmässig gegen den Rest der lateinischen Schweiz, aber mit der SVP: EWR, Bilaterale Verträge, militärische Auslandseinsätze, UNO, EU-Beitritt, Schengen, Personenfreizügigkeit – jeweils mit traumhaften Nein-Quoten erledigt. Ich wünschte mir, die restliche Schweiz würde sich ein Beispiel nehmen an der Widerstandskraft und dem Unabhängigkeitswillen der Tessiner. Trotzdem sollte man sich fragen: Warum legt das Tessin einen solchen Wert auf seine Unabhängigkeit? Auch hier vergessen unsere EU-geblendeten Technokraten die Geschichte. Dieser Kanton war lange genug ein Spielball fremder Mächte – und damit meine ich auch die alten Eidgenossen. Ausserdem befindet sich das Tessin, wenn man so will, in einer dreifachen Minderheit: Als italienischsprachiger Schweizer Kanton gegenüber einem übermächtigen Nachbarstaat Italien. Als lateinischsprachige Minderheit innerhalb eines mehrheitlich deutschsprachigen Landes. Und als italienischsprachige Minderheit innerhalb einer mehrheitlich französisch sprechenden Sprachfamilie. 3. Die Bedeutung des Föderalismus Für eine solche dreifache Minderheit ist die Bedeutung des Föderalismus nicht bloss ein politisches Geplauder am Kaminfeuer. Für das Tessin ist der Föderalismus eine Existenzfrage. Es ist die weitgehende Selbstbestimmung der Kantone, die einen solchen Sonderfall wie das Tessin überhaupt möglich macht. Der föderalistische Aufbau der Schweiz, also von unten nach oben, von den Gemeinden über die Bezirke, Kantone zum Bund, schafft erst die Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben in der Schweiz. Der Föderalismus ist in seiner Anspruchslosigkeit eine geniale Einrichtung: Niemand muss sich für das Gleiche begeistern wie der andere. Wir müssen uns auch nicht gegenseitig lieben, sondern nur gegenseitig in Ruhe lassen. Der Föderalismus gehört zu den wichtigsten Rahmenbedingungen in der Schweiz und wird völlig zu Unrecht als "Kantönligeist" verschrien. Gerade das Tessin beweist die Vorzüge dieses Systems. So wie es in einer Demokratie Alternativen geben muss, damit der Bürger nicht nur wählen, sondern auch auswählen kann, bietet der Föderalismus dem Bürger Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Systemen. Auch über die Landesgrenzen hinaus. Der Mendrisiotto ist in den Mailänder Wirtschaftsraum integriert, aber eben politisch der Schweiz zugehörig. Das macht die erfolgreiche Mischung aus. Auch das schweizerische Steuersystem ist föderalistisch gestaltet und baut auf den Wettbewerb unter den Gemeinden und Kantonen. Dies führt dazu, dass die Steuerbelastung über alles gesehen bescheidener ist als in anderen Ländern. Nur die Steuerautonomie und damit die direkte Vergleichbarkeit der Steuersätze schafft den nötigen Druck auf die Politik, die Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Gerade der Kanton Tessin hat gezeigt, dass eine zielgerichtete Entlastungspolitik und eine offensive Strategie bei der Besteuerung von Unternehmen zum Erfolg führt. So gehört das Tessin heute zu den attraktivsten Standorten, was sich vor allem auch über die Grenze nach Norditalien herumgesprochen hat. 4. Verteidigung der Steuerautonomie Wie gesagt: Die norditalienischen Produktionsbetriebe haben das Tessin als vorteilhaften Standort entdeckt. Eine viel tiefere Unternehmensbesteuerung (in Italien liegt diese bei über 40 Prozent, im Tessin unter 20 Prozent), niedrige Lohnnebenkosten, kaum Streiks, ein gutes Bildungsniveau, Mehrsprachigkeit, politische Stabilität, flexibler Arbeitsmarkt, Rechtssicherheit. Wir tun gut daran, diese Vorteile zu erhalten und auszubauen. Nun hat auch die EU entdeckt, dass uns ihrerseits internationale Unternehmen als vorteilhaften Standort entdeckt haben. Vor wenigen Monaten sprach sich eine Mehrheit der Stimmbürger für die Bezahlung von einer Milliarde Franken (Ost-Milliarde) an die Europäische Union aus. Es war ein Entgegenkommen gegenüber der EU. Doch Geschenke haben kurze Beine. Den Dank erhält die Schweiz jetzt postwendend: Die Schweiz müsse ihr Steuersystem ändern, die Steuerhoheit der Kantone sei illegal, die Schweiz habe ihre Steuersätze namentlich für Unternehmen und Holdinggesellschaften anzuheben. So geht das nicht. Wir lassen uns nicht die Politik von Brüssel diktieren. Das ist einer – und nicht der unwesentlichste – der Gründe, warum wir nicht Mitglied der EU sind. Rechtssicherheit und ein stabiles Steuerklima ziehen Unternehmen und Privatpersonen aus der ganzen Welt an. Auch ins Tessin. Die relativ guten Steuersätze haben wir vor allem zwei Umständen zu verdanken: Der Mitsprache durch die Bürger und dem Föderalismus. Beides ist in der EU nicht oder nur mangelhaft ausgebildet. Auch die demokratischen Mitwirkungsrechte sind so ausgebaut, dass in der Schweiz der Stimmbürger auf allen Ebenen über die Steuerbelastung mitentscheiden kann. Dies erfordert von den staatlichen Instanzen eine saubere und transparente Buchhaltung. Und vor allem können die Bürger Nein sagen, wo es nötig ist: Nein zu neuen Steuern. Nein zur verheerenden Umverteilung. Nein zur Bestrafung des Tüchtigen durch immer neue und höhere Abgaben. Dass wir in der Schweiz eine Mehrwertsteuer von 7,6 Prozent haben und in jedem EU-Land einen Mindestsatz von 15 Prozent, liegt an den Mitsprachemöglichkeiten des Volkes und ist kein Verdienst der Politiker. Ein EU-Beitritt bedeutete das Ende der genannten schweizerischen Vorzüge: Verlust der Steuerhoheit, Verlust der Volksrechte, Verlust der Mitbestimmung, Verlust der Überschaubarkeit, Verlust der Neutralität, Verlust des Föderalismus – aber dafür hohe Tributzahlungen an die Bürokraten und Technokraten. 5. Anstieg der Kriminalität Die Schweiz hat ihre Grenzen geöffnet, teilweise öffnen müssen. Nicht nur Waren und Dienstleistungen profitieren davon – was uns allen nützt – auch die Kriminellen "schätzen" die neue Mobilität. Darunter haben wir alle zu leiden, besonders aber Grenzkantone wie das Tessin. Denn machen wir uns nichts vor: Die Kriminalität ist weitgehend importiert. Wir haben eine hohe Gewaltrate von Kriminaltouristen, von niedergelassenen Ausländern und neuerdings auch von eingebürgerten Jugendlichen. Die Medien und gewisse politische Kreise haben jahrelang das Thema Ausländerkriminalität unterdrückt. Wer immer auf das Problem hinwies, wurde umgehend als "fremdenfeindlich" abgetan. Doch mit Verdrängen lösen wir keine der gestellten Aufgaben. In meinem Departement haben wir uns besonders der Frage nach der stark gestiegenen Jugendkriminalität angenommen. Die Projektgruppe kam zu folgenden Schlüssen: 1. Das Ausmass der Jugendgewalt hat erschreckend zugenommen. 2. Viele der jugendlichen Täter sind schlecht integrierte Ausländer, namentlich aus dem Balkan. 3. Es herrscht allgemeine Hilflosigkeit gegenüber dieser Entwicklung. Alle fühlen sich zuständig – also ist niemand wirklich zuständig. Alle halten die anderen für schuldig – also trägt keiner Verantwortung. 4. Nach wie vor versuchen gewisse Medien und politische Kreise das Thema Gewalt von jungen Ausländern zu leugnen, zu vertuschen oder zu verharmlosen. Was haben wir zu tun? * Mehr Polizeipräsenz. Notfalls auch an den Schulen. * Schnellere und effizientere Verfahren. Jugendliche Kriminelle müssen umgehend die Konsequenzen ihres Handelns spüren. * Die Eltern von jugendlichen Delinquenten müssen in die Pflicht genommen werden. Bei Ausländern oder Eingebürgerten sollte dies bis zum Entzug der Staatsbürgerschaft und zur Ausschaffung gehen. * Die Integration von jugendlichen Ausländern muss verbessert werden. Denn oft ist die erhöhte Gewaltbereitschaft nur Ausdruck der Integrationsprobleme und den damit verbundenen Minderwertigkeitsgefühlen. Um diese Ziele zu erreichen, braucht es auch eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Behörden. Das gilt zunächst einmal für die Migrations-, Einbürgerungs- und Polizeibehörden. Gefordert ist aber auch ein gesellschaftlicher Wandel: Wir müssen wieder Tugenden wie Fleiss, Ordnung, Disziplin in den Mittelpunkt der Erziehung stellen. 6. Hohe Zuwanderung In der Schweiz wandern jedes Jahr rund 100'000 Menschen ein. Das ist viel und zunächst einmal ein positives Zeichen. Denn die Menschen wandern in die Schweiz ein, weil sie sich hier ein besseres Leben erhoffen. Solange sich diese Zuwanderer integrieren und durch ihre Tüchtigkeit zum allgemeinen Wohlstand beitragen, ist dagegen nichts einzuwenden. Wir haben aber die Tendenz, dass viele Ausländer ohne grosse Umwege in unser Sozialsystem einwandern. Das zeigt der überdurchschnittliche Anteil von Ausländern, die von der Fürsorge oder von Arbeitslosengeldern leben oder eine IV-Rente beziehen. Diese Entwicklung müssen wir stoppen, denn sie gefährdet die Finanzierung unserer Sozialwerke. Die massive Zuwanderung hat aber auch Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt. Darum sieht das neue Ausländerrecht, das 2008 in Kraft tritt, vor, dass Arbeitsbewilligungen aus Nicht-EU-Staaten nur sehr restriktiv an dringend benötigte Spezialisten erteilt werden. Die Menschen stimmen mit den Füssen ab. Im letzten Jahr sind so viele Deutsche in unser Land gekommen wie noch nie (rund 24'000). Gleichzeitig ist die Zahl der Grenzgänger massiv gestiegen. Was für die Deutschschweizer die Deutschen sind, sind für das Tessin die Italiener. Was uns diese Entwicklung auch sagt: Offensichtlich zieht es viele Menschen aus der EU in die Schweiz, die ja nicht Mitglied der Union ist. Erinnern Sie sich noch, welche Horrorszenarien man an die Wald malte, falls die Schweiz weiter den Alleingang beschreiten würde? Die EU-Befürworter haben der Schweiz den ökonomischen Untergang prophezeit. Diese Vorhersagen haben sich alle als gigantische Fehlprognosen erwiesen. Der Schweiz geht es heute so gut, gerade weil sie eigenständig geblieben ist und eine Politik betreiben kann, die auf einen Kleinstaat ausgerichtet ist. 7. Auf Schweizer Qualität setzen Trotzdem haben selbstverständlich auch wir mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Ich habe die Bereiche Kriminalität, Zuwanderung und Arbeitsmarktsituation angesprochen. Gleichwohl müssen wir auf unsere Stärken setzen: Auf einen schlanken Staat, die Eigenverantwortung der Bürger, niedrige Steuern, auf die Mitbestimmung der Bürger, Verlässlichkeit und Sicherheit. Sehen Sie, man darf die Sicherheit, und dazu zähle ich auch die Rechtssicherheit, nicht unterschätzen. Man mäkelt oft am schweizerischen System herum und die direkte Demokratie wird als lähmend beschrieben. Ich stimme diesem Befund nicht zu. Die direkte Demokratie hat zu einer einmaligen Rechtsstabilität geführt. Denn Fehlentscheide der Politik können durch den Souverän umgehend korrigiert werden und keiner muss befürchten, dass mit einer Wahl der ganze Staat umgekrempelt wird. Italien hat seit 1945 rund 60 Regierungen kommen und gehen sehen. Die Medien waren sicher dankbar für die Abwechslung. Aber letztlich ist doch Kontinuität vorzuziehen. Gerade auch für Unternehmer, die investieren wollen oder für den Mittelstand, der mit seinem Eigentum etwas anfangen will. Ein kleines Beispiel: Die neue italienische Regierung hat die Erbschaftssteuer wieder eingeführt. In der Schweiz hätte diese Steuer durch den Souverän abgesegnet werden müssen – unabhängig vom Ausgang der Parlamentswahlen. Aber ich will nicht davon reden. Die eine Regierung führt die Erbschaftssteuer ein, die nächste schafft sie wieder ab und so weiter. Hier fehlt die Berechenbarkeit. Ist es verwunderlich, wenn dann gerade vermögende Bürger das Land verlassen? Ist es unsere Schuld, wenn sie in der Schweiz "Zuflucht" suchen? Nein. Wir müssen uns nicht für unsere Politik entschuldigen, zumal sie durch die direkte Demokratie, also durch den unmittelbaren Volkswillen, legitimiert ist. 8. Unabhängigkeit und direkte Demokratie Ich habe in der Einleitung von den widerspenstigen Tessinern gesprochen, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrt haben und damit auch die Unabhängigkeit der ganzen Schweiz. Wenn wir daran denken, was unser Land und unsere Wirtschaft erfolgreich macht, dann sollten wir immer wieder an das Fundament dieses Erfolgs denken: Unser unabhängiger, föderalistischer, neutraler Kleinstaat, der auf dieser Basis Gesetze und Rahmenbedingungen schaffen kann, die diesem Kleinstaat am besten dienen. Ein entscheidender Verdienst kommt dabei der direkten Demokratie zu. Machen wir uns nichts vor: Ohne direkte Demokratie würde die Schweiz heute der EU angehören und hätte damit ihre entscheidenden Vorteile (Handlungsfreiheit, unabhängige Währungspolitik, niedriges Zinsniveau, tiefere Steuern, Neutralität usf.) eingebüsst. Auch unsere Steuergesetze und – vor allem – unsere Steuersätze sähen ohne direkte Demokratie ganz anders aus! Wer über wenig natürliche Ressourcen verfügt, ist auf den Handel angewiesen. Die Schweiz war von jeher vernetzt mit anderen Ländern und Regionen. Wir haben seit jeher Handel getrieben, importiert, exportiert; aber – und das ist entscheidend – wir haben uns dafür nie institutionell einbinden lassen. Darum lautet die schweizerische Devise, die unseren Erfolg begründet: Handelsfreiheit setzt politische Handlungsfreiheit voraus. Wir sind ein weltoffenes Land – wobei die Welt über die Europäische Union hinausgeht. Weltoffenheit heisst aber nicht Vereinbarungen einzugehen, die unsere Souveränität einschränken!