Testi
19.03.2005
19.03.2005
Die SVP kann sich zurücklehnen
Nach der Asyldebatte äussert sich ein zufriedener Christoph Blocher über den Stand in der Schweizer Politik. Mit ihm als zweitem SVP-Bundesrat, der die Arbeit an der Front mache, könne sich die Partei jetzt etwas zurücklehnen. 19.03.2005, NZZ am Sonntag (Luzi Bernet) Sie haben diese Woche den Satz gesagt, die Schweizer Ausländerpolitik habe sich bewährt. Damit meinte ich nur das Ausländergesetz. Der Beleg ist, dass wir die höchste Ausländer- und gleichzeitig eine der tiefsten Arbeitslosenquoten haben. Grosse Probleme haben wir mit der illegalen Einwanderung und im Asylbereich. Wie viele Ausländer sind illegal in der Schweiz anwesend? Gemäss neusten Studien müssen wir von etwa 100 000 ausgehen. Ein Teil davon wanderte über den Asylbereich ein. Mit diesem Problem werden wir schwer fertig. Ein Grund dafür ist, dass Arbeitseinwanderung von ausserhalb Europas legal fast nicht mehr möglich ist. Indem die Schweiz das Gesetz verschärft, vergrössert sie den Graben zwischen reichen und armen Ländern weiter. Da haben Sie Recht. Das ist die Folge des 3-Kreise-Modells. Warum baut die Schweiz an der Festung Europa mit und führt nicht eine eigenständige Politik? Das hätten wir tun können. Die Schweiz hat aber die Personenfreizügigkeit mit den 15 alten EU-Staaten beschlossen, und will es auch mit den Neuen: die Leute aus diesen Ländern müssen wir in Zukunft aufnehmen. Die Alternative wäre tatsächlich die Freizügigkeit mit allen Ländern der Welt. Am liberalsten wäre, wenn jeder hier arbeiten könnte, der eine Stelle findet. Bis zur Schwarzenbach-Initiative galt dieses System, und es wäre auch heute in meinem Sinne, aber nur dann, wenn man diesen Einwanderern das Sozialsystem nicht öffnet. Und das tun wir nicht. Das erweiterte EU-Personenfreizügigkeitsabkommen unterstützen Sie aber. Ich glaube, man muss es wagen. Die Personenfreizügigkeit ist ein liberales Anliegen, aber man muss ihre Folgen tragen können. In der Ständeratsdebatte zum Asyl- und Ausländergesetz fiel auf, wie passiv die SVP war. Die wichtigen Impulse kamen von FDP und CVP. Darüber freue ich mich sehr. Sie freuen sich? Das Gesetz liegt jetzt auf der Linie der SVP, also muss sie nur noch den Bundesrat unterstützen. Schliesslich hat die SVP jetzt einen zweiten Bundesrat, der die Arbeit an der Front macht. Wenn die Partei zufrieden ist mit dessen Arbeit, kann sie sich zurück lehnen. Das ist das Vorrecht einer vollen Regierungspartei. Die politische Grosswetterlage ändert sich also. Die politische Landschaft wurde aufgebrochen, wie am Donnerstag im Parlament gut sichtbar wurde. Der Ständerat hat die Asylgesetzrevision sehr transparent beraten, im Nationalrat wurde das Rüstungsprogramm erstmals abgelehnt. Das ist neu: während Jahren mussten die Parteien Rüstungsprogramme schlucken mit Teilen, die sie eigentlich nicht wollten - weil man nicht den Eindruck erwecken wollte, gegen die Armee zu sein. Jetzt läuft das völlig unverkrampft. Das sind Zeichen einer offenen, transparenten Politik. Es ist der Anfang einer Besserung. Eine Besserung, die mit Bundesrat Schmid ausgerechnet einen Parteikollegen trifft. Für Samuel Schmid ist das unangenehm, ja. Er tut mir leid. Aber ich bleibe dabei. Es ist positiv, dass solche Fragen weniger verkrampft diskutiert werden können. Ich stelle fest, dass jene Parteien, die bei den letzten Wahlen verloren haben, gemerkt haben, dass sie sich bewegen müssen. Das mag im Rüstungs- und Asylbereich zutreffen. In der Finanzpolitik sind SVP, FDP und CVP aber alles andere als konsequent. Da haben Sie Recht. Die SVP ist wohl am konsequentesten. Aber, in der Finanzpolitik kommen wir nicht vom Fleck. Das gilt für Bundesrat und Parlament gleichermassen. Deshalb bleibt auch das Wirtschaftswachstum schwach. Es ist leider so, dass wir tief fallen müssen, um das zu realisieren. Auch in England musste das Bruttosozialprodukt auf DDR-Niveau fallen, ehe man das Steuer herumgerissen hat. Das ist tragisch. Am nächsten Dienstag müssen Sie entscheiden, ob Sie die Swiss nach Deutschland verkaufen. Zum Stand der Verhandlungen um die Swiss will ich nichts sagen. Aber sie wissen ja, dass ich von Anfang an einer der erbittertsten Gegner des Swiss-Projektes war. Sie können ein ökonomisches Projekt nicht patriotisch begründen. Ich war zwar nie ein Airline-Experte, aber ich verstehe etwas von industrieller Logik. Wenn Private ein Unternehmen nicht in die Hand nehmen wollen, dann kann es der Staat auch nicht. Kein Privater hat mitgemacht, weil er geglaubt hat, die Swiss werde ein florierendes Projekt. Dann stimmen Sie dem Verkauf also zu? Wie gesagt: No comment! Darf der Bundesrat seine Anteile an der Swiss in Eigenregie verkaufen? Sowohl das Finanzdepartement als auch das Bundesamt für Justiz kommen in Gutachten zum Schluss, dass der Verkauf in die Zuständigkeit des Bundesrates fällt. Ob der Bundesrat diese Ansicht letztlich teilt, kann ich noch nicht sagen. Der Swiss-Handel ist ja nicht nur ein Geschäft zwischen zwei Fluggesellschaften. Kommt es jetzt zu einer politischen Lösung der offenen Streitpunkte im Bereich Luftverkehr? Das wird man sicher mit einbeziehen. Die übernahme einer Luftfahrtgesellschaft und das Anflugregime haben viel miteinander zu tun. Stimmt es, dass am Dienstag auch der Auftakt zu neuen Verhandlungen über einen Staatsvertrag mit bereits definierten Eckwerten stattfindet? Dazu möchte ich mich nicht äussern. In Süddeutschland ist deswegen schon einige Aufregung entstanden. Dass die Süddeutschen lieber keine Anflüge über ihrem Gebiet hätten, ist verständlich. Aber der Zürcher Flughafen ist nun einmal nach Norden ausgerichtet, und es macht keinen Sinn, über die grösste Agglomeration anzufliegen. Die süddeutschen Dörfer werden in einer Höhe von 900 Metern überflogen, in der Stadt Zürich sind es etwa 200 Meter. Das ist unverständlich- Der «Blick» fährt eine patriotische Kampagne zugunsten der Swiss. Das ist nichts Neues. Das Haus Ringier war bezüglich der Swissair und Swiss schon immer in einer patriotischen Aufwallung.
19.03.2005
Das heutige System ist schlecht
Bundesrat Christoph Blocher strebt einen Systemwechsel im Asylwesen an. Und die vom Ständerat beschlossenen Verschärfungen will er trotz gegenteiligem Bundesgerichtsentscheid weiterverfolgen. 19.03.2005, Berner Zeitung (David Sieber) Am Donnerstag wurden gleich zwei historische Entscheide gefällt: Erstmals wurde ein Rüstungsprogramm ablehnt. Und es wurde ein Asylgesetz beschlossen, welches das Ende der humanitären Tradition der Schweiz bedeutet. Bundesrat Christoph Blocher: Das sind keine historischen Entscheide. Die politische Landschaft ist bloss zur Normalität zurückgekehrt. Das ist die Gemeinsamkeit zwischen Rüstungsprogramm und Asylgesetz. Beim Rüstungsprogramm wurde normal darüber entschieden, ob es nun zwei Transportflugzeuge braucht oder nicht. Bisher konnte sich dies eine Partei, die zur Landesverteidigung steht, nicht erlauben. Und in der Debatte über das Asylgesetz wurden endlich die Missbräuche und Probleme beim Namen genannt. Das stellt die humanitäre Tradition in keiner Weise in Frage. Echte Flüchtlinge sind nach wie vor willkommen. War denn die Schweiz bisher politisch nicht normal? In verteidungspolitischen Fragen war sie es in der Tat nicht. Es wurden oft Rüstungsprogramme verabschiedet, obwohl die bürgerlichen Parteien eigentlich Vorbehalte hatten. Und im Asylgesetz, das ja erst Anfang der 80er Jahre entstand, galt es bis Donnerstag als unschicklich und politisch nicht korrekt, auf Probleme hinzuweisen. Man kam schnell in den Ruf eines Menschenfeindes. Das ist eigentlich die grosse änderung, welche die Wahlen 2003 gebracht haben: Jetzt wird über die Sache gesprochen. Das ist der erste Schritt, um Probleme zu lösen. Hat Sie überrascht, dass die Mitteparteien FDP und CVP in der Asyl- und Ausländerdebatte versuchten, die SVP rechts zu überholen? Nein, denn die Ständeräte haben die Kantone im Nacken. Nachdem der Bundesrat zwei meiner Vorschläge - die Durchsetzungshaft und eine Neuregelung der humanitären Aufnahme - nicht genehmigt hatte, haben die Kantone die Ständeräte zum Handeln aufgefordert. Es mag sein, dass auch eine parteipolitische Komponente mitgespielt hat, schliesslich wollen FDP und CVP bei den nächsten Wahlen nicht wieder zu den Verlierern gehören. Es hiess aus der vorberatenden Kommission, Sie hätten auch bei den beiden vom Bundesrat abgelehnten Vorschlägen indirekt, aber kräftig zur Meinungsbildung beigetragen. Ich verleugne nicht, dass ich persönlich anderer Meinung war als der Bundesrat. Ich habe in der Kommission gesagt, ihr müsst das jetzt machen, das ist nicht mehr meine Angelegenheit. Immerhin schrieb der Chef Ihres Amtes für Migration, Eduard Gnesa, den Ständeräten einen Brief, in dem er die strittigen Punkte ausführte. Das geschah auf Anfrage der Ständeräte, welche vertiefende Informationen verlangten. Herr Gnesa kam mit diesem Anliegen zu mir und ich sagte, er solle es machen. Es ging aber nicht darum, zu sagen, wie die Ständeräte entscheiden sollen, sondern darum, aufzuzeigen, was inhaltlich korrekt ist. Ich habe ihm auch gesagt, er solle in klaren und einfachen Worten schreiben, weil der Brief sowieso den Weg in die Medien finden werde. Ungewöhnlich war auch, dass das Aussendepartement ebenfalls an die Ständeräte gelangte und die Verfassungsmässigkeit sowie die Menschenrechtskonformität der geplanten Verschärfungen bezweifelte. Das geht natürlich nicht, dass ein als geheim deklarierter Mitbericht zusammengefasst und dann verteilt wird. Das muss Konsequenzen haben. Welche? Frau Calmy-Rey weiss, dass Sie handeln muss. Sie sagt, sie habe davon nichts gewusst. Das Monitoring zum neuen Nothilfe-Regime ist noch nicht abgeschlossen. Und schon wird es auf alle abgewiesenen Asylsuchenden ausgedehnt. Ist es dazu nicht zu früh? Ein Monitoring ist nie abgeschlossen. Wir haben jetzt neun Monate Erfahrung. Zudem können wir von den Erfahrungen anderer Länder, wie Norwegen oder Dänemark, profitieren, die abgewiesenen Asylsuchenden ebenfalls die Sozialhilfe gestrichen haben. Es hat sich gezeigt, dass wesentlich weniger Asylsuchende kommen, wenn man die Attraktivität bricht. Denn der Schleppermarkt wird stillgelegt. Dass die Schweiz erstmals seit 20 Jahren weniger Asylgesuche aufweist als die andern europäischen Länder, liegt auch daran, dass Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid keine Sozial- sondern nur noch Nothilfe erhalten. Das Bundesgericht sieht das aber anders: Asylsuchenden mit einem Nichteintretensentscheid darf die Nothilfe nicht gestrichen werden. Die Streichung von Nothilfe wurde in extremen Fällen angeordnet. Das Bundesgericht verlangt, dass auch dann Nothilfe ausgerichtet wird. Das ist seine Beurteilung, allerdings haben wir die genaue Begründung noch nicht studieren können und diese ist in diesem Fall wichtig. Was bedeutet dieses Urteil konkret? Werden Sie nun die Verfassung ändern? Ist der Ständeratsentscheid damit Makulatur? Wenn die Streichung der Nothilfe für die Lösung eines tatsächlichen Problems etwas bringt, dann sollten wir den Entscheid des Ständerates weiterverfolgen und uns eine änderung des Gesetzes und allenfalls der Verfassung vorbehalten. Die Kantone beklagen sich, der Bund würde ihnen die Kosten aufhalsen. Die Kantone müssen dafür sorgen, dass die abgewiesenen Asylsuchenden, von denen sich rund 14 000 hier aufhalten, nach Hause gehen. Und sie können nach Hause gehen. Sie müssen nur wollen. Die Nothilfe wird im übrigen vom Bund bezahlt. Für die altrechtlichen Fälle gibt es aber nur eine Pauschale von 5000 Franken. Eine übergangsfrist wird den Kantonen nicht gewährt. Für die Kantone, welche ihre Aufgaben gut machen ist es zuviel, für jene, die nicht handeln nicht. 5000 Franken sind 125 Tage Nothilfe. Diese Zeit muss reichen, um die Leute heimzuschicken. Auf die Dauer werden wir aber nicht 5000 Franken bezahlen, sonst bleiben ja alle vier Monate hier. Es ist klar, dass die Kantone mit der Summe nie zufrieden sind. Das ist verständlich. Besteht nicht die Gefahr, dass die härtere Gangart mehr Papierlose produziert? Bisher ist dies nicht der Fall. Wir stellen fest, dass vom 1. April 2004 bis Ende des letzten Jahres 80 Prozent der Personen mit einem Nichteintretensentschied nicht mehr da sind. Natürlich gibt es viele Illegale, doch sind das nicht alles abgewiesene Asylsuchende.Ich begrüsse es, dass der Ständerat den Nationalrat korrigiert hat, und die Sans-Papiers keinen Rechtsanspruch auf Neuüberprüfung erhalten, bloss weil sie seit vier Jahren hier leben. Wie geht es zusammen, dass man die Sans-Papiers so hart anfasst, aber gleichzeitig die Wirtschaft, die solche Menschen beschäftigt, schont? Die Grossunternehmen beschäftigen keine Illegalen. Das ist gar nicht machbar. Das Risiko ist zu gross. Wenn, dann gibt es in Kleinbetrieben, in der Landwirtschaft und in den Haushalten solche Fälle. Schwarzarbeit ist im übrigen nicht nur eine Sache der Illegalen. Es gibt viele Leute, die völlig legal hier leben und schwarz arbeiten. Suchen Sie mal eine Putzfrau. Die meisten wollen nicht, dass die AHV abgerechnet wird. Der Ständerat hat die Bestimmung leicht abgeschwächt, wonach Unternehmen, die wegen Schwarzarbeit verurteilt worden sind, von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Er hat eine Kann-Formulierung eingefügt, um den Kantonen Handlungsspielraum zu geben und um nicht eine ganze Firma und deren Arbeitsplätze aufs Spiel zu setzen, nur weil der Chef verurteilt worden ist. Das bezieht sich vor allem auf Unternehmen, die von öffentlichen Aufträgen leben, wie etwa eine Tiefbaufirma. Sie haben einige Besuche «an der Front»– <<an></an>>- in Durchgangszentren etc. - gemacht. Konnten Sie angesichts der menschlichen Schicksale der nüchterne Beobachter bleiben? Ich bin froh, habe ich die Krankheit eines Industriellen: Der will immer alles an der Front sehen. Und dies unangemeldet, damit ich sehe, wie es wirklich ist. Das ist viel wertvoller, als irgendwelche Berichte zu lesen. Natürlich weiss ich, dass es um menschliche Schicksale geht. Aber daneben habe ich die Erfahrung gemacht, dass der Missbrauch viel grösser ist, als ich mir gedacht habe. Da war zum Beispiel ein junger Mann, der behauptet aus dem Sudan zu kommen, 17 Jahre alt zu sein und mit einer Nonne, die er am Bahnhof Zürich verloren habe, ins Land gekommen zu sein. Die Befragerin glaubte kein Wort, denn sie hat die Geschichte schon 20 Mal gehört. Aufnehmen musste sie die Aussage dennoch. Haben Sie auch Menschen angetroffen, die Ihnen Leid getan haben, weil sie ausreisen müssen? Ja, natürlich. Zum Beispiel jene Frau aus Russland, die sich freute mich zu sehen. Sie sagte mir, sie würde gerne hier bleiben, weil sie zuhause keine Arbeit finde. Ich habe ihr gesagt, wir können nicht alle hier behalten. Nehmen sie ihr Schicksal positiv in die Hand. Wir müssen ihnen das zumuten. Das ist hart, aber wir sind nicht dafür gewählt, so jemandem sein schweres Schicksal abzunehmen und dafür die eigene Bevölkerung und die Gesetze zu missachten. Das ist das Vorrecht der Kirche. Haben Sie die massiven Attacken der Kirchen gegen die Verschärfung des Ausländer- und Asylgesetzes überrascht? Nein, ich kenne beide Kirchen gut, einer gehöre ich an. Sie versuchen ihre Gutmenschlichkeit nach aussen zu tragen.Ich bin höchstens überrascht, dass so wenige Fakten dahinter stecken. Ich habe all jenen, die behaupten, sie kennen Fälle, in denen jemand - obwohl berechtigt - keine Nothilfe erhält, einen Brief schreiben lassen. Das Resultat: Es gibt keinen einzigen Fall. Es gibt aber Fälle wie diesen, wo mehrere Drogenhändler, die aus nahe liegenden gründen keine Nothilfe beantragen - in einer von einer Kirchgemeinde zur Verfügung gestellten Wohnung lebten. Haben die Kirchen in dem Fall all jene auf dem Gewissen, die von diesen Drogenhändlern angefixt wurden? Es heisst schon in der Bibel, seid ohne Falschheit wie die Taube. Aber es heisst auch: Seid klug wie die Schlange. Es trifft Sie also nicht, dass sie von den Kirchen zum «Bösen» stilisiert werden? Damit kann ich umgehen. Das Evangelium zu verkünden, ist eine schwierige Angelegenheit. Das haben die Kirchen zu tun. Das Asylgesetz durchzusetzen ist ebenfalls schwierig. Das ist unsere Aufgabe. Es kommt nicht gut, wenn ich beginne, das Evangelium zu verkünden. Und es kommt auch nicht gut, wenn die Bischöfe das Asylproblem lösen wollen. Das haben die letzen vier Wochen gezeigt. Wird das Asylrecht weiter verschärft? Man sollte es umbauen, denn das heutige System ist schlecht. Die Leute erst hereinlassen, jeden Fall prüfen und dann 90 Prozent wieder heimschicken, kann nicht die Lösung sein. Es braucht ein international koordiniertes Vorgehen, wie es in Italien und Deutschland diskutiert wird. Die Triage sollte bereits in Afrika erfolgen. Deshalb bräuchte es Auffangzentren vor Ort. Die echten Flüchtlinge könnten dann zu uns kommen.
15.03.2005
Der Sonderfall Schweiz: Alleingang als Chance oder Hemmschuh
Ansprache für die Zürcher Offiziersgesellschaft vom Dienstag, 15. März 2005 in Zürich 15.03.2005, Zürich Es gilt das gesprochene Wort I Die freiheitliche Schweiz I. 1 Die Schweiz ein Sonderfall? Bevor wir uns der eigentlichen Frage zuwenden - ob der Sonderfall Schweiz eine Chance oder ein Nachteil darstellt -, müssen wir uns einig werden, worin dieser Sonderfall überhaupt besteht: Die Schweiz ist ein liberaler Staat mit hohen Freiheits- und Volksrechten, aussenpolitisch neutral, dauernd bewaffnet, nach innen föderalistisch ausgerichtet. Die geistige Klammer ist ein Patriotismus, der sich nicht an einer Kultur oder Sprache orientiert, sondern am gemeinsamen Bekenntnis zum politischen Sonderfall Schweiz, der diesen Vielkulturenstaat durch seine freiheitliche Ordnung überhaupt erst möglich machte. Löst sich diese Überzeugung auf, oder wird eine dieser Säulen (Unabhängigkeit, Neutralität, Föderalismus, Volksrechte) zerstört, ist die Schweiz als Ganzes in ihrer Weiterexistenz gefährdet. Ob unser politisches Modell das Beste aller möglichen Modelle auch in der Zukunft ist, wissen wir nicht. Aber die bisherige Geschichte zeigt, dass ein föderalistischer, unabhängiger Staat auf der Basis einer liberalen Wirtschaftsordnung den Menschen Wohlstand und Freiheit bieten kann. Das zeigen 150 Jahre Frieden und Wohlergehen. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Erde und wenn sie ihre Position teilweise eingebüsst hat, dann deshalb, weil ein schleichend ausgebauter Sozial- und Umverteilungsstaat den Selbstverantwortungsgrad unseres Landes zunehmend untergräbt. Die Abkehr vom Sonderfall Schweiz hat ihr jedenfalls nicht zum Vorteil gereicht. I. 2 Souverän unter Vielen In immer kürzeren Abständen werden wir heimgesucht von der Frage, ob die Schweiz, ob der souveräne Staat Schweiz einem Auslaufmodell gleicht. Ist unser "Alleingang" - so die verzweifelte Redensart - eine Chance oder wird er zum Problem? Soll die Schweiz unabhängig bleiben oder sich der Europäischen Union anschliessen? Soll unser Land auf die Kraft der Eigenständigkeit bauen oder sich einem Grossverbund anschliessen und die Vision eines vereinten Europa verfolgen? Ist eine bewaffnete Neutralität noch zeitgemäss oder soll die Schweiz nicht vielmehr einem bestehenden Militärbündnis (NATO) oder einem entstehenden Militärbündnis (EU) beitreten? Um zu einer brauchbaren Antwort zu kommen, sollte man zunächst die Ausschliesslichkeit des Wortes "Alleingang" relativieren. Die Schweiz war nie allein im Sinne von losgelöst von seinem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umfeld. Es gab und gibt keinen Planeten Schweiz. Handel, Austausch, Verträge, ja Partnerschaften bestimmten seit jeher unser Land und seine Beziehungen zu anderen Staaten. Nur hat die Schweiz trotz aller Verflechtungen nie das Prinzip der Souveränität für überholt erklärt. Das weiss man gerade hier in Zürich. Denn dieser Kanton gab dem jungen Bundesstaat von 1848 sein Gepräge. Umso unverständlicher erscheint mir die momentane Verunsicherung. Es scheint so, dass Zürich vergessen hat, woher es Jahrzehnte lang seine Kraft geschöpft hat: Aus dem Erbe des liberalen Bürgertums. Zürich steht heute an einer historischen Wegmarke: Soll sich der Kanton auf seine liberale Tradition besinnen oder endgültig den Kurs aufnehmen Richtung staatsgläubiger Bevormundung. Wie viel Kraft kann das liberale Bürgertum überhaupt noch mobilisieren? Selbst wenn man sich ungern daran erinnert: Der 48er Bundesstaat war ein Sieg des Liberalismus und des Nationalismus. Für jeden Liberalen stand fest, dass nur der Nationalstaat als massgebende politische Einheit Sinn machte. Bis in die Neuzeit widerstand die politische Elite dem Druck von aussen. Den Weg der Freiheit und Unabhängigkeit galt es nicht zu verlassen. Soll dies nun plötzlich anders sein? I. 3 Ende des "Alleingangs"? Seit dem Fall der Mauer hat sich - in einer naiven Friedens- und Harmonieeuphorie - vor allem in der Schweiz der Angriff auf die Unabhängigkeit verstärkt. Nicht nur wurde das Wort Selbstständigkeit zunehmend durch den Begriff "Alleingang" ersetzt und zugleich entstellt, auch witterten die Anhänger der Lehre vom Ende des Nationalstaates und des Machtgleichgewichts als Friedensvoraussetzung mehr und mehr Morgenluft. Ihre Gedanken führen in den 90er Jahren in ein wenig selbstbewusstes und den Lasten der Verantwortung eher abholdes politisches Milieu. Daraus erfolgte ein fast zwanghaftes Streben nach Internationalität, wovon insbesondere die Bundesverwaltung erfasst wurde. Obschon jeder wüsste: Aktivität allein bringt uns nicht weiter. Man ist geneigt mit Mathias Claudius zu sagen: ".sie spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel." Der Realist weiss: Das oft vorausgesagte Ende des Nationalstaates und der westphälischen Ordnung von souveränen, selbstverantwortlichen Staaten steht nicht bevor. Trotz Globalisierung: In den letzen fünfundzwanzig Jahren sind mehr Nationalstaaten entstanden als hundert Jahre zuvor. Ausserhalb Europas ist vom Verschwinden des Nationalstaates sowieso keine Rede. Selbst die UNO und das Völkerrecht verlören ihre Grundlagen. Wohl scheinen die grenzüberschreitenden Probleme zu wachsen. Aber die Problemlösungsfähigkeit ist und bleibt gebunden an den handlungsfähigen Staat. Nur Staaten - trotz aller Schwärmereien über internationale Rechtssysteme - verfügen über die nötigen materiellen, personellen, finanziellen und - vor allem - militärischen Ressourcen. Die jüngsten weltpolitischen Krisen sprechen eine deutliche Sprache: In der Not spielen sofort - auch in Europa - die nationalen Reflexe. II Die unabhängige Schweiz - Koexistenz statt Anschluss II. 1 Wohin steuert Europa? Letztlich läuft die Frage des heutigen Abends darauf hinaus, ob sich die Schweiz der Europäischen Union anschliessen soll oder nicht. Zur Europäischen Union: Die EU hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Aus einer lockeren, vor allem der wirtschaftlichen Liberalisierung verpflichteten Europäischen Gemeinschaft (EG) entstand die Europäische Union, die mehr und mehr in Richtung politischer Vereinigung zielt (gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik, gemeinsame Innen- und Justizpolitik, politische Einheitswährung). In den letzten Jahren hat die EU sich rasant vergrössert, und es scheint zur Zeit völlig unklar zu sein, wo die politischen Grenzen "Europas" anzusetzen sind. Wohin führt Europa? Über den Bosporus hinaus? Über den Ural hinaus? Gehören die arabischen Mittelmeerstaaten ebenfalls zum "europäischen Raum"? Wo die EU enden soll, weiss niemand der Europa-Architekten so genau. Ein Befund, der uns eher nachdenklich als euphorisch stimmen sollte. Allerdings lassen sich einige wichtige Tendenzen ausmachen: Obwohl die Problemlösungsfähigkeit allein bei den Nationalstaaten läge, sind die EU-Instanzen verstärkt bestrebt, möglichst viel Kompetenz und Macht auf sich zu vereinigen. Dieser Ausbau der Zentralgewalt geht weitgehend auf Kosten der Demokratie (was die Partizipationsmöglichkeiten des einzelnen Bürgers vermindert) und der staatlichen Souveränität (was dem ursprünglichen Charakter Europas - der pulsierenden Vielstaatlichkeit - zuwiderläuft.). Für die Schweiz hiesse aber ein EU-Beitritt die Preisgabe der Unabhängigkeit und des Föderalismus - beides Säulen unseres Sonderfalles. Neuerdings strebt die Europäische Union eine gemeinsame Armee an. Der Beitritt zur EU wäre also auch - und ich spreche ja vor Offizieren - ein Beitritt zu einem künftigen Militärbündnis und damit der Verlust unserer dritten Säule, der dauernd bewaffneten Neutralität. II. 2 Harmonie ist kein Ersatz für Freiheit Den schrittweisen Abbau der staatlichen Souveränität wird hierzulande mit dem Modebegriff "Integration" geschickt vertuscht. Integration oder "Harmonisierung" widersprechen jedoch dem freiheitlichen Gesellschaftsbild, denn sie enden in Nivellierung und Gleichschaltung, in Zwang und Bevormundung, in Zentralgewalt und Bürokratie. Wenn ein Amerikaner in jungen Jahren als Marxist startet und dann in die Wirtschaftswissenschaften geht, den Nobelpreis erhält und noch mit 84 Jahren universitär arbeitet, brächte er alle Voraussetzungen mit, frei und freimütig zu sagen, was er denkt. Ich spreche vom Ökonomen Douglass C. North, einem heute überzeugten Verfechter dezentraler, freiheitlicher Strukturen: "Meine Prämisse ist die: Niemand weiss, wie man es richtig macht, aber wenn man vieles probiert, hat man eine bessere Chance, Erfolg zu haben. So hat sich Europa entwickelt. Der Erfolg Europas ist darauf zurückzuführen, dass dort ein ganzer Haufen kleiner Staaten, die alle miteinander im Wettbewerb standen, alles Mögliche versuchten. Einiges funktionierte nicht, anderes funktionierte Und wenn etwas funktionierte, dann imitierten die andern Staaten dies." Weiter meinte North: "Solange man genug Wettbewerb zwischen den Staatswesen in Europa zulässt, wird es Erfolgsgeschichten geben wie Irland, das sich in den letzten 15 Jahren spektakulär entwickelt hat. Aber wenn man ein einziges einheitliches Staatsgebilde schafft, das allen ein gemeinsames Regelwerk aufzwingt, wird dies eine Katastrophe werden." Vielleicht wundern Sie sich, dass ich einen ehemaligen Kommunisten zitiere. Aber heutzutage glaubt man eher Leuten mit einer marxistischen Vergangenheit, als solchen mit einer unternehmerischen . II. 3 Verflogener Enthusiasmus Wenn der Enthusiasmus für das vereinigte Europa - mit Ausnahme der Politik in Bern - merklich nachgelassen hat, liegt das an wirtschaftlichen und politischen Ursachen. Die Europäische Union konnte keines der Probleme bewältigen, die man angeblich nur mit Hilfe eines EU-Beitritts glaubt lösen zu können: Schuldenwirtschaft, steigende Kriminalitätsraten, Asylmissbrauch, Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, Bürokratie, Reglementierung, Steuern- und Abgabenlast kennzeichnen Teile der Union genauso wie die heutige Schweiz. Weil nur Staaten selbst Problemlösungsfähigkeit besitzen, bin ich überzeugt, dass gerade ein kleines Land mit Milizparlament, schneller und wirksamer handeln könnte, als ein anonymer Verwaltungskoloss ohne ausgeprägte demokratische Kontrolle. Vorausgesetzt, dass er das will und tut. Dazu braucht es Menschen mit Verantwortungsgefühl. Ich frage: Verfügen wir über diese Bereitschaft zur Verantwortung? III Die neutrale Schweiz - Gewappnet sein für das Unerwartete Auch wenn das Vortragsthema dies nicht expressis verbis verlangt - die Sicherheitspolitik sollte vor einer Offiziersgesellschaft schon thematisiert werden. Gestatten Sie mir daher einen Blick auf die Bedrohungsszenarien der Zukunft III. 1 Umbruch und Wandel Zur Zeit beschäftigt uns das Erscheinungsbild der sogenannten Neuen Kriege. Wir sind Zeugen von zunehmender Entstaatlichung, Kommerzialisierung und Asymmetrisierung des Krieges. Die alte Trennung von Krieg und Frieden, Soldat und Zivilist, Soldat und Verbrecher, Freund und Feind, Innen und Aussen, wird verwischt. Wir beobachten Bürgerkriege, Terror- und Antiterrorkriege, Interventionskriege - alle mit ihren eigenen Ursachen, Akteuren, Abläufen, Strategien und Taktiken, Gewinnern und Verlierern und alle voller Leid, Tod und Zerstörung. Wir spüren den Machtanspruch grosser Staaten und internationaler Organisationen im Ringen um eine neue globale Machtordnung. Wir erleben den vielfältigen Versuch, das Gewaltmonopol der Nationalstaaten zu unterhöhlen und militärpolitische Verantwortung auf undurchsichtige übernationale Bürokratien abzuwälzen. Wo steht die Schweiz in diesem Prozess? Wie ist der versteckte Souveränitätsabbau zu stoppen? Inwiefern hält sich die politische Führung (Bundesrat, Parlament, Verwaltung) noch an das in der Verfassung festgeschriebene Prinzip der Neutralität? Darf die Neutralität zum Spielball erfindungsreicher Interpreten werden oder müssen wir wieder den eigentlichen Kern dieser aussenpolitischen Maxime freilegen? Sie kennen das Geschwätz von der "aktiven" Neutralität. Neutralität gebe es nur in Kriegszeiten und dergleichen mehr. Alles grundsätzliche Zustimmungen zur Neutralität, die sich als höflichste Form der Ablehnung entpuppen! III. 2 Was haben wir zu verteidigen? Wenn nicht jeder Bürger und Soldat auf diese Frage eine überzeugende Antwort in eigenen Worten geben kann, dann ist etwas faul in einem Staat und in einer Armee. Es geht auch in Zeiten strategischen Umbruchs um unsere Unabhängigkeit, um unsere Eigenverantwortung in ausgeprägt direkter Demokratie, um unsere Freiheit von Knechtschaft, um die Neutralität als Überlebensstrategie eines Kleinstaates. Es geht um den Vorrang des Rechts bei Streitschlichtung, um den Schutz von Leib und Leben und den geordneten Gang der Wirtschaft. Das ständige Gerede von Sicherheit schafft falsche Vorstellungen. Wer Sicherheit sucht und dafür Freiheit opfert, habe weder das eine noch das andere verdient, meinte einst Benjamin Franklin. Frei und unabhängig ist man nicht ohne ein vernünftiges Mass an Risiko. Der Kleine am Rockzipfel des Grossen mag sich einen Sicherheitsgewinn erhoffen. Er täuscht sich. Der Grosse zerrt ihn mit in seine eigenen Abenteuer. Der Drang in die kollektive Sicherheit ist meist Ausdruck von Schwäche, die stets zu fehlendem Realitätsbezug neigt. Der Publizist William Pfaff sagt es plakativ: "Kollektive Sicherheit ist die Ausrede, um die individuelle Verantwortung für die Sicherheit nicht übernehmen zu müssen." Nicht die Absage an die souveräne Verteidigung ist die Lösung. Wir brauchen ein dem strategischen Wandel angepasstes, neues Bedrohungsbewusstsein, nüchtern, realistisch und ohne Aufregung. Wir müssen die neuen Verwundbarkeiten der modernen, eng vernetzten Gesellschaft kennen und zu schützen lernen. Wir müssen schon in der Planung vermeiden, verwundbare Zentren zu schaffen. Konzentration auf das Wesentliche, Dezentralisierung, Delegation von Verantwortung nach unten, Handlungsfähigkeit in Krisen, höchste Flexibilität heissen die Stichworte. Wenn ich sage "wir", meine ich die Verantwortungsträger in Politik, Militär, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir brauchen keine künstlichen Feindbilder, aber eine realistische Vorstellung unserer Verwundbarkeit. III. 4 Führung und Verantwortung Die höchste Verantwortung einer Regierung sei der Schutz der eigenen Bevölkerung vor fremder Gewalt, war eine zentrale Erkenntnis der Anschläge vom 11. September 2001. Das gilt auch für uns. Die vermeintliche Abschiebung der Verantwortung auf internationale Gremien oder auf Söldnertruppen und bezahlte Freiwilligenheere taugt im Ernstfall nicht. Es ist eine tiefe Wurzel schweizerischer Strategie, mit einer Milizarmee, die nicht in Kasernen auf Einsätze wartet, sondern integriert ist in Gesellschaft und Wirtschaft, dann für Schutz zu sorgen, wenn er nötig wird. Die letzte Verantwortung liegt beim Souverän, beim Bürger. Dieser Schutz ist nicht ohne persönliche Opfer zu haben. Doch bildet die Miliz eine hohe Schwelle für militärische Abenteuer von Regierung und Verwaltung und das ist gut so. Sie bietet hohe berufliche und menschliche Qualität auf allen Stufen. Militärische Führung in grossen Komitees versagt immer wieder. Wo Gewaltmittel eingesetzt werden, ist klare Führungsverantwortung nötig. Jeder muss seinen Auftrag, seine Kompetenzen und Mittel kennen. Die Dienstwege müssen eingespielt sein. Jeder muss wissen, mit wem er wie verbunden ist und wem er vertrauen kann. Wir brauchen wieder eine wohlvorbereitete, im Ernstfall bis hin zum Armeeeinsatz fähige Staatsführung, die alle notwendigen Dienste im Verbund und stufengerecht einsetzen kann. Der vom Bundesrat beschlossene, zur Übung katastrophaler Lagen vorgesehene Krisenstab geht in diese Richtung und ist ein Lichtblick. Der nächste Krieg wird anders sein als der letzte. Er wird anders sein, als wir ihn uns heute vorstellen. Er wird vielleicht gar nicht "Krieg" heissen. Nennen wir ihn Ernstfall. Gefordert ist die Fähigkeit, mit dem Unerwarteten, Unerhörten, Neuartigen fertig zu werden. Es wird darum gehen, nachrichtendienstlich den Überblick zu gewinnen, mit Sofortmassnahmen Führungs- und Handlungsfähigkeit herzustellen, die Lage zu beurteilen, zeitgerechte Entschlüsse zu fassen, Aufträge zu erteilen und die Erfüllung durchzusetzen. Es wird darum gehen, im sich rasch verändernden Umfeld einer Mehrfachkrise neu zu disponieren, Reserven zu schaffen und einzusetzen, die Anstrengung von Hunderttausenden zu koordinieren. Staatsführung lässt sich im Ernstfall nicht neu erfinden. Vielleicht haben wir in den langen Friedensjahren den Respekt vor der Aufgabe verloren. Hüten wir uns, den letzten Krieg oder den kalten Krieg vorzubereiten. Die Bedrohungslage ist neu und ihrerseits instabil. Sie wird sich weiter wandeln. Alle Vorbereitungen, vor allem alle Übungen sind deshalb unter das Thema zu stellen: Fertig werden mit dem Unerwarteten. Die Überraschung bleibt Kern aller Landesverteidigung neuen Musters. Dazu genügt es nicht, lange vorangekündigte Führungsübungen, die von den beübten Funktionären bis ins Detail vorbereitet werden können, durchzuführen. Wir brauchen eingespielte, flexible Strukturen in allen Bereichen und auf allen Stufen. Wir brauchen keine vorbereiteten Fälle mit vielen Dossiers, sondern eine eintrainierte Führungstechnik für schwer vorstellbare Ereignisse. Der amerikanische wie der russische Präsident stellten fest, dass ihre Führungsapparate im entscheidenden Moment überrumpelt wurden und nicht angemessen reagierten. Unsere Aufgabe ist überblickbarer und einfacher - aber anspruchsvoll genug. Nur ist unsere Denkweise oft viel zu statisch. IV. Und die NATO? Kommen wir noch auf die NATO zu sprechen und fragen wir uns, was sie eigentlich ist: "Jeder versteht, was die NATO war. Einige verstehen, was die NATO ist. Aber kaum jemand versteht, was die NATO sein wird." Diese Kurzanalyse des NATO-Oberkommandierenden, des Generals James Jones, gilt Wort für Wort auch für uns. Wir kannten die NATO als mächtiges Verteidigungsbündnis unserer Nachbarn gegen eine Bedrohung durch den waffenstarrenden Warschauerpakt. Die NATO musste ihre Kampfkraft aber nicht im Feuer bewähren. Sie hat den Kalten Krieg nicht gewonnen, sie hat ihn nur nicht verloren. Nach dem Zerfall des wahrscheinlichsten Feindes liessen die NATO-Mitglieder mehrheitlich ihre Streitkräfte verkümmern. Bestände, Budgets und Ausbildung wurden reduziert. Im Kosovo führte die NATO ihren einzigen Krieg, ohne UNO-Mandat und militärisch nur teilweise überzeugend. Die Folgen dieses Krieges sind noch nicht bewältigt. Wegen der Irak-Frage drohte sich die NATO zu spalten. Die USA verschmähten die Hilfe der Verbündeten, die eilfertig den Beistandsartikel ihres Vertrages anriefen. Der Auftrag bestimme die Koalition, nicht umgekehrt, antwortete der US-Verteidigungsminister. Alle Versuche, die NATO zu neuem Leben zu erwecken, sind bisher auf halbem Wege stecken geblieben. Die Ausdehnung nach Osten brachte neue Mitglieder mit anderen strategischen Kulturen. Der qualitative und quantitative Abstand der Führungsmacht USA bleibt erdrückend und wächst. Die Einsätze im Irak und in Afghanistan vermögen die heimischen Wähler in Europa nicht zu begeistern. Die Zukunft der NATO bleibt ungewiss. Als neues Mitglied der Schweizer Regierung glaube ich heute nicht, dass diese - weder offen noch verdeckt - den Anschluss an die NATO sucht. Aber es ist nicht zu verkennen, dass wir im Rahmen der "Partnerschaft für Frieden" einem erweiterten Zubringerdienst angehören, was nicht im Sinne einer umfassenden Neutralität sein kann. Ich fasse zusammen: Die Entwicklung der NATO ist ungewiss. Gewiss ist aber die neue Verwundbarkeit der Schweiz in neuen Kriegen des 21. Jahrhunderts. Und gewiss ist die Notwendigkeit, selber, in eigener Verantwortung rasch handeln zu können. V. Neutralität und Eigenwilligkeit Warum sollten wir das Neutralitätsprinzip aufrecht erhalten? Neutralität schützt uns vor Kriegsbegeisterung, vor Manipulation über die Medien, vor voreiligem Nachgeben unter Druck. Sie erlaubt uns unparteiische Hilfe, wo sie wirklich gebraucht wird. Sie errichtet, zusammen mit dem Milizsystem, eine hohe Schwelle für den Einsatz der Schweizer Armee. Aber sie ist nicht gratis. Sie braucht standfeste, selbstbewusste Politiker, Diplomaten und Soldaten, die nicht auf fremden Applaus angewiesen sind. Was heisst eigentlich Neutralität und was bringt sie uns? Nicht nur Vorteile. Neutral sein, heisst oft - und vor allem im Ernstfall - alleine sein. Es ist die Einsamkeit, die Verantwortungsträger und gute Führungskräfte als unvermeidlich anerkennen, jedoch schwache Leute, die die Verantwortung meiden, so sehr fürchten. Aber das Alleinsein wird im Ernstfall ohnehin die wahrscheinlichere Variante sein als uneingeschränkte Hilfe von anderen. Wäre es deshalb nicht klüger, dieser wahrscheinlichsten Eventualität von Anfang an Rechnung zu tragen? Wer sich an einen Stärkeren anlehnt, ist ihm ausgeliefert. Es liegt einzig an ihm, ob er im Ernstfall auch gewillt ist, dem Schwächeren beizustehen. Sollte er sich tatsächlich dazu entschliessen, dann mit Sicherheit nur unter der Voraussetzung, dass der Schwächere die Interessen des Stärkeren teilt. Weit realer ist jedoch die Gefahr, an der Seite eines grösseren Partners unfreiwillig in einen Konflikt hineingezogen zu werden. Denn ein Bündnis kann auch in einer Gefangenschaft enden. Gerade die jüngsten, bis nach Europa hineingetragenen Terroranschläge zeigen, dass die Neutralität auch in Zeiten überstaatlicher Auseinandersetzungen einen besseren Schutz bietet als voreilige Parteinahme. Neutralität darf deshalb nicht heissen, sich aktivistisch überall einzumischen und Stellung zu beziehen. Sie ist vielmehr Garant für den wichtigsten aussenpolitischen Trumpf im internationalen Kräftespiel: die Berechenbarkeit. VI. Ein Wort an die Offiziere Sie möchten wohl wissen, was bedeuten diese Überlegungen für Sie? Oder vielleicht anders ausgedrückt: "Was erwartet der Bundesrat von mir als Offizier?" Im Besonderen vom Milizoffizier? Wir alle (nicht nur der Bundesrat) erwarten von Ihnen: - Dass Sie sich als Milizoffizier mit den Werten des Landes und seiner Bedrohung auseinandersetzen. - Eine überzeugende persönliche Antwort auf die oben gestellte Frage "Was haben wir zu verteidigen"? - Ein modernes, dem Wandel sich anpassendes, illusionsloses, ideologiefreies Bild der neuen Kriege - Die Beherrschung des militärischen Metiers - Die Ausführung der Ihnen übertragenen Aufträge - Kritisches Mitdenken und Mitreden. - Den Mut, das Risiko des "Alleingangs" mit zu tragen, weil es die Chance ist, auch künftig bestehen zu können.
24.02.2005