Testi
31.08.2000
22.08.2000
Nicht das Gescheiteste
Christoph Blocher bedauert das Ja der SVP zur 18-Prozent-Initiative. Er selbst wird Nein stimmen. Interview mit dem Tages-Anzeiger vom 22. August 2000 Autor: Mit Christoph Blocher sprach Iwan Städler Herr Blocher, haben Sie mit dem Ja der SVP-Delegierten zur 18-Prozent-Initiative gerechnet? Blocher: Ich musste damit rechnen, erwartete aber eine Nein-Parole. Die Vorlage war ja bereits in der Bundeshausfraktion umstritten. Wir verlangten damals einen Gegenvorschlag, der im Parlament abgeschmettert wurde. Der Entscheid der Delegierten ist ein Aufbegehren gegen die verfehlte Ausländerpolitik des Parlaments und des Bundesrats. Wie erklären Sie sich, dass Ihre Zürcher SVP mit der Nein-Parole für einmal regierungsfreundlicher ist als die Schweizer SVP mit der Ja-Parole? Blocher: In Zürich sind wir programmatisch weiter. Wir haben die Frage einer Ausländerquote schon vor Jahren ausgiebig diskutiert und sie in unserem Kantonalprogramm verworfen. In Genf sprachen aber Ulrich Schlüer und Hans Fehr für eine solche Quote. Sie, Herr Blocher, fehlten in Genf. Warum? Blocher: Ich war an der Generalversammlung unserer börsenkotierten Firma. Dieser Termin muss schon ein Jahr im Voraus festgelegt werden. Ich bedaure diese Terminkollision. Die Parteileitung hat ihre Basis offensichtlich nicht mehr im Griff. Blocher: Nur Diktatoren haben "die Basis im Griff". Wenn die Delegiertenversammlung immer der Parteispitze folgen würde, müsste man die Versammlung gar nicht mehr durchführen. Bei der SVP bestimmt aber die Basis. Da werden die Parolen nicht von oben her konstruiert wie bei den anderen Parteien. Nun hat die Basis etwas beschlossen, das meines Erachtens nicht das Gescheiteste ist. Werden Sie die Geister nicht mehr los, die Sie gerufen haben? Blocher: Wie kommen Sie denn darauf? Das Messerstecher-Inserat, das Plakat mit dem Ausländer, der eine Schweizer Fahne zerreisst… Blocher: Ich habe diesen saudummen Kommentar im "Tages-Anzeiger" gelesen. Das Messerstecher-Inserat hatte nichts mit Ausländern zu tun, sondern mit Kriminellen schlechthin. Auch das Plakat gegen Asylmissbrauch zeigt einen Verbrecher - das sieht jeder. Wollen Sie bestreiten, dass Ihre Politik bei der Basis eine Ausländerfeindlichkeit geschürt hat, die nun bei Fragen wie der 18-Prozent-Initiative unangenehm wird? Blocher: Nicht jeder, der für diese Initiative stimmt, ist ein Ausländerfeind. Sonst wäre auch der Bundesrat und das Parlament ausländerfeindlich, wenn sie die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten begrenzen. Ich kenne kein Land, das die Einwanderung nicht begrenzt. Warum sind Sie gegen die 18-Prozent-Initiative? Blocher: Die Hauptprobleme sind die illegale Einwanderung und der Asylrechtsmissbrauch. Beides wird durch eine Quote nicht gelöst. Mit dieser Initiative würden ja die illegal Eingewanderten bleiben, neue legal Einreisende dürften aber nicht kommen. Das scheint mir eine komische Ausländerpolitik zu sein. Würde die Annahme der Initiative der Schweiz schaden? Blocher: Das kommt auf die Umsetzung an. Für die Wirtschaft wäre sie wohl nicht eben förderlich. Glauben Sie, dass die SVP mit ihrer Ja-Parole bei der Wirtschaft an Rückhalt verlieren wird? Blocher: Dieser Entscheid hat ihn sicher nicht gefestigt. Dennoch ist die SVP klar die wirtschaftsfreundlichste Partei. Sie hat sich stets gegen neue Steuern gewehrt. Befürchten Sie, dass die Wirtschaft der SVP jetzt weniger Spendengelder zukommen lässt? Blocher: Wenn dies der Fall wäre, würden die übrigen Parteien schon lange nichts mehr erhalten. Werden Sie selbst die 18-Prozent-Initiative ablehnen? Blocher: Selbstverständlich werde ich Nein stimmen. Werden Sie auch für ein Nein kämpfen? Blocher: Nicht an vorderster Front. Ich muss mich auf jene Vorlagen konzentrieren, wo ich alleine kämpfe. Bei der 18-Prozent-Initiative gibt es genügend andere Parlamentarier, die dagegen sind. Ich werde die Energieabgaben bekämpfen. Die sind für die Wirtschaft weit schädlicher.
16.08.2000
Das Geheimnis des Erfolgs
Zürcher Parteienlandschaft im Wandel Für Sie gelesen: NZZ-Artikel vom 16. August 2000 Die Politik der Zürcher SVP aus der Sicht eines Exponenten Von Christoph Mörgeli (Uerikon-Stäfa) Nationalrat SVP Die SVP hat in den letzten Jahren fast bei allen Parlamentswahlen in Stadt und Kanton Zürich deutlich an Stimmen und Sitzen zulegen können. Christoph Mörgeli, seit 1999 SVP-Nationalrat und vorher Kantonsrat, beschreibt im folgenden Beitrag die Ingredienzen des Erfolgs, der sich zuerst im Kantons- und Nationalrat im grossen Stil eingestellt hat und schliesslich auch auf den Zürcher Gemeinderat übergeschwappt ist. 1994 steigerte die SVP in Zürich die Zahl ihrer Parlamentssitze von 7 auf 19, vier Jahre später errang die Partei gar 26 Mandate. Für Mörgeli ist für diesen Aufschwung vor allem auch Kantonalparteipräsident Christoph Blocher verantwortlich. Im Jahre 1975 befand sich die SVP des Kantons Zürich im absoluten Formtief ihrer heute 83-jährigen Geschichte. Lediglich 10,9 Prozent der Stimmberechtigten mochten bei den eidgenössischen Wahlen die SVP-Liste einlegen, was gerade noch für vier Nationalratsmandate ausreichte. Eineinhalb Jahre später wurde in einer heftig umstrittenen Kampfwahl der damals 37-jährige Industriemanager Christoph Blocher zum SVP-Kantonalpräsidenten erkoren. Blocher erteilte unverzüglich all jenen eine Absage, welche die Partei mit einem unverbindlichen Kurs zur politischen "Mitte" hinführen wollten. Er beurteilte das traditionelle liberal-konservative Gedankengut weit über den ländlich-bäuerlichen Bevölkerungsteil hinaus als attraktiv, sofern man es vertiefe, auf konkrete politische Anliegen beziehe und aktiv an die Wähler herantrage. Bereits am Tag der Wahl legte Blocher seine parteipolitischen Schwerpunkte dar, von denen die Zürcher SVP bis heute nicht im Geringsten abgewichen ist: innere und äussere Sicherheit, Schutz des neutralen Kleinstaates und dessen Demokratie, Mut zur Eigenverantwortung. Da die föderalistische Schweiz von unten nach oben aufgebaut sei, habe sich die Zürcher SVP selbstverständlich auch mit der Bundespolitik, speziell mit der Aussenpolitik, zu beschäftigen. Aussenpolitik für eine freie Gesellschaft In konsequenter Umsetzung dieses Auftrags gab es in den letzten zwei Jahrzehnten keine andere Kantonalpartei, welche die Bundespolitik dermassen intensiv und erfolgreich beeinflusst hat. Auf aussenpolitischem Gebiet hat die Zürcher SVP die spektakulärsten ihrer Kämpfe geführt - und gewonnen. Dieser Einsatz geschah in der Meinung, dass der weltoffene, aber unabhängige, neutrale und direkt demokratische Kleinstaat die beste Garantie für die Freiheit des Einzelnen und den besten Schutz vor der anonymen Massengesellschaft darstellt. 1986 engagierte sich die Partei mit Erfolg gegen den Uno-Beitritt, für den sich Bundesrat, Parlament und fast alle Parteien und Medien mit praktisch denselben Argumenten stark machten, mit denen sie es heute wieder tun. 1992 gewann die Zürcher SVP die von ihr frühzeitig vorbereitete, schicksalhafte EWR-Abstimmung. Und 1994 bekämpfte sie an vorderster Front die bundesrätliche Vorlage über Schweizer Uno-Blauhelm-Truppen. Von kaum zu überschätzender Wirkung erwies sich 1997 das Eingreifen des Zürcher SVP-Präsidenten in die international geführte Kontroverse um das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man Blochers "Klarstellung" das Verdienst zuerkennt, die masslose Selbstanklage überwunden und dem Schweizervolk (und auch dessen Regierung) den Weg zurück zum aufrechten Gang aufgezeigt zu haben. Der Zeit voraus denken Während andere (auch bürgerliche) Parteien ihren Auftrag mit dem Einsatz für das Wohl des Staates definieren, legt die Zürcher SVP das Schwergewicht auf den Einsatz für das Wohl der Staatsbürger. Dies ist keinesfalls dasselbe, können doch die Interessen von Staat und dessen Bürgern durchaus voneinander abweichen - etwa bei der Steuerbelastung. Mit einem "Graubuch der Bürokratie" begann die Partei 1980 ihren Kampf gegen die beständige Ausweitung der Staatstätigkeit, die Gesetzesflut, die Umverteilung und die damit verbundene zunehmende Erstickung von privatem Unternehmertum, Risikobereitschaft und Selbstverantwortung. Bereits 1983 - lange vor der Rezession der neunziger Jahre - führte die Zürcher SVP ihren Wahlkampf mit der Sorge um die Erhaltung der Arbeitsplätze und vermochte damit viele Arbeitnehmer anzusprechen - immer mehr auch in der Stadt Zürich. Das "Messerstecherinserat" lenkte 1993 die Aufmerksamkeit auf schwere Defizite der inneren Sicherheit und des Strafvollzugs und führte letztlich zu einem Umdenken bis weit in linke Kreise. Die Partei hat die heissen politischen Eisen jederzeit angefasst, statt sich bloss an ihnen zu wärmen: Ihr erster Versuch, die uferlose Asylbürokratie zu straffen, blieb zwar erfolglos, doch läuft gegenwärtig eine zweite Asylinitiative mit demselben Anliegen. Ein Aufschrei ging durchs Land, als die Partei Anfang 1997 Steuersenkungen in Bund und Kanton forderte. Mittlerweile konnte sich dieses Anliegen bereits teilweise durchsetzen; eine direkte Folge der für die SVP erfolgreichen Wahlen von 1999 bildete im Kanton Zürich die Abschaffung der Erbschaftssteuer für direkte Nachkommen. Gross war der Lärm auch, als der Präsident der Zürcher SVP die nicht benötigten Goldreserven der Nationalbank dem AHV-Fonds zukommen lassen wollte - inzwischen befürworten sogar die Sozialdemokraten ähnliche Modelle. Im Hinblick auf ein vom Totalitarismus freies 21. Jahrhundert hat Christoph Blocher eine zukunftsweisende Sozialismus-Diskussion ausgelöst. Die SP dürfte angesichts des vollständigen Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus nicht mehr umhin können, ihre früheren Ostblock-Sympathien kritisch aufzuarbeiten und ihr von Planwirtschaft und Staatskollektivismus belastetes Parteiprogramm zu überdenken. Mit Vorurteilen bekämpft Jedes Mal, wenn die Zürcher SVP ein politisches Problem zum Thema macht, erhebt sich bei vielen Medien und den gegnerischen Parteien zunächst ein Sturm der Entrüstung. Hierauf versuchen sie, das Anliegen der Partei totzuschweigen, um es schliesslich meist diskret zu übernehmen. Obwohl namentlich die Medien die SVP des Kantons Zürich mit oft geradezu absurden Vorurteilen verteufeln, erzielen sie erstaunlich wenig Wirkung. Wohl wissend, dass der Zuwachs von Wählern und Mandaten im Kanton und seit einiger Zeit auch in der Stadt Zürich seit vielen Jahren kontinuierlich verläuft, trösten sich noch immer manche Kritiker mit dem Einwand, es handle sich um ein kurzfristiges Strohfeuer. Sie verpassen der Partei ein möglichst antiquiertes, verstaubtes Image, um zu verdrängen, dass die freiheitliche Ideologie und der direkte Stil der SVP höchst modern sind. Sie verkennen, dass hinter den Wahlerfolgen eine breit abgestützte, beständige programmatische Arbeit steht, ohne die auch die professionellste Werbung nutzlos wäre. Und manche Gegner machen die Zürcher SVP als "Führerpartei" verächtlich, ohne zu bedenken, dass diese fast vollständig vom idealistischen Einsatz ihrer breiten Anhängerbasis in den Dörfern und Stadtquartieren lebt. Präsidialer Sonderfall Seit nunmehr 23 Jahren steht in der Person von Christoph Blocher der im In- und Ausland profilierteste, bekannteste Schweizer Politiker an der Spitze der SVP des Kantons Zürich. Die hartnäckige Beharrlichkeit ist wohl das hauptsächliche Geheimnis seines politischen Erfolgs, verbunden mit seiner persönlichen Ausstrahlungskraft, seiner mitreissenden Motivationsgabe und seiner unerschrockenen Konsequenz. Christoph Blocher ist geblieben, während andere Politiker die Mühsal der Parteiarbeit gerne von den Schultern warfen, sobald sie ihnen zu anstrengend und zu undankbar wurde oder wenn andernorts höheres Prestige winkte. Fragen des persönlichen Ansehens hat Blocher niemals in den Vordergrund gestellt; jederzeit stand bei seinem Denken und Handeln die Erfüllung des Auftrags im Zentrum. Christoph Blocher wird auch künftig Präsident der Zürcher SVP bleiben, und zwar aus demselben Grund, aus dem der Wirtschaftsmann die Partei einst inmitten ihrer grössten Krise übernommen hat: Nicht weil er die Partei braucht, sondern weil die Partei ihn braucht.
14.07.2000
«Herr Cavalli, ich möchte Sie bitten, sauber zu denken»
Streitgespräch mit Nationalrat Franco Cavalli im Tages Anzeiger vom 14. Juli 2000 Ein Streitgespräch zwischen dem Zürcher SVP-Nationalrat Christoph Blocher und dem Tessiner SP-Fraktionschef Franco Cavalli zu Faschismus und Sozialismus - und zur Frage, ob die Sozialdemokraten immer noch darauf hinarbeiten, den Kapitalismus zu überwinden. Autor: Das Gespräch führten Jean-Martin Büttner und Markus Somm Franco Cavalli, Ihre Partei wird von Christoph Blocher heftig kritisiert. In seiner Streitschrift "Freiheit statt Sozialismus" wiederholt er seine Faschismusvorwürfe an die SP. Und in der Sommersession, nach den Bundesrichterwahlen, hat er Ihre öffentlichen Kommentare zu zwei SVP-Kandidaten sehr scharf verurteilt. Nehmen Sie solche Anwürfe politisch oder persönlich? Franco Cavalli: Ich behaupte von mir, tolerant zu sein und die Diskussion nicht zu personalisieren. Es passiert sehr selten, dass ich mich persönlich getroffen fühle. Aber als Herr Blocher und SVP-Fraktionschef Walter Frey mich in der Bundesversammlung so angegriffen haben, habe ich mich persönlich getroffen gefühlt in einer Weise, die ich nicht akzeptieren kann. Christoph Blocher, Ihre Kritik war tatsächlich heftig, auch Herrn Cavalli gegenüber. Geht es Ihnen um Politik, oder spielt Persönliches mit hinein? Christoph Blocher: Politik hat immer auch mit Personen zu tun. Sie ist nicht nur Sache des Verstandes, sondern auch der Emotionen, das ist auch gar nicht schlimm. Das Vorgehen von Herrn Cavalli bei der Bundesrichterwahl erfüllte mich mit Wut, das sage ich offen. Und ich habe das Vorgehen als absolutistisch verurteilt, typisch für die politische Geisteshaltung der SP. Aber warum denn diese Verletztheit? Was teilte denn die SP alles aus, beispielsweise auf die Wahlen hin und vor der Bundesratswahl? Aber das darf auch sein. Doch selbst wenn ich wütend war auf Herrn Cavalli, auch wenn ich seine politische Grundhaltung verurteile, ist er für mich kein Feind. Immerhin haben Sie ihn uns gegenüber als Stalinisten bezeichnet. Blocher: Jawohl, Franco Cavalli ist Marxist, und Stalin hat den Marxismus vollzogen; Karl Marx hat dazu die philosophische Grundlage geliefert. Es musste zur Katastrophe kommen, denn das Kennzeichen des Marxismus ist, das Kollektive über das Individuum zu stellen. Die Reaktionen von Herrn Cavalli auf meine Streitschrift, seine angedrohte Strafklage, der Gesprächsboykott seiner Partei, die Aufforderung zur kollektiven Entschuldigung, die Diffamierungskampagne gegen unseren Bundesgerichtskandidaten, den er im Zusammenhang mit dem Grossvater seiner Frau in Sippenhaft nahm - das alles halte ich für ein stalinistisches Vorgehen. Herr Cavalli nimmt für sich in Anspruch, tolerant zu sein, aber gerade das ist er nicht. Toleranz gilt nicht nur der eigenen Meinung gegenüber. Cavalli: Ich halte Sippenhaft für abscheulich und weise den Vorwurf in aller Form zurück. Ich habe nie gegen die Bundesgerichtskandidaten der SVP intrigiert. Was den Marxismus betrifft, so habe ich mich nie als Marxisten bezeichnet. Es gibt einige grosse Denker, die meinen intellektuellen Werdegang beeinflusst haben, darunter Marx, Darwin oder Freud. Marx hat Prozesse beschrieben, die heute Allgemeingut sind, sogar in den Reden von Christoph Blocher. Wenn dieser zum Beispiel seinen Gegnern vorwirft, nur ihre Interessen zu vertreten, dann nimmt er eine marxistische Erkenntnis auf. Marx war der Erste, der sagte, die Politik sei nichts anderes als ein Kampf gegensätzlicher Interessen. Also anerkenne ich Marxens Einfluss. Aber ich war nie Mitglied einer kommunistischen Partei, und hätte ich in der Sowjetunion unter Stalin leben müssen, wäre ich mit meinem frechen Mundwerk höchstwahrscheinlich in einen Gulag gesteckt worden. Blochers intellektueller Fehler liegt in seiner Behauptung, Stalin habe nur ausgeführt, was Marx gefordert hatte. Doch Marx dachte libertär und sagte, letzten Endes müssen wir den Staat abschaffen. Für mich stellt der Stalinismus, kurz gesagt, eine autoritäre und diktatorische Entartung des sozialistischen Gedankens dar, genauso wie der Faschismus eine totalitäre und diktatorische Entartung des Kapitalismus ist. Von diesen Zusammenhängen müsste man ausgehen, und von diesen Zusammenhängen schweigt Christoph Blochers Schrift. Blocher: Sicher wäre es eine Unterschiebung zu behaupten, Karl Marx habe das erreichen wollen, was Stalin später angerichtet hat. Aber die Philosophie des Marxismus hat dorthin geführt. Genauso wie der Nationalsozialismus von seiner Lehre her zum Absolutismus führen muss, das ist gar nicht anders möglich. Dasselbe gilt auch für den Sozialismus, jedenfalls wenn er absolut in die Praxis umgesetzt wird. Der Liberalismus dagegen lehnt das Absolute ab - und zwar aus Prinzip, auch das Verabsolutieren des Richtigen. Dass Menschen ihre eigenen Interessen vertreten, war schon immer so, dazu brauche ich nicht Marx zu lesen, das ist nicht das Entscheidende an seiner Lehre. Sein Ziel war ganz klar die Überwindung des Kapitalismus, also die Abschaffung der freien Marktwirtschaft und des Privateigentums. Das wollte er überwunden haben, und interessanterweise steht dieser Satz im heute noch gültigen Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokraten von 1982. Und auch wenn sie ihn nicht besonders ernst nehmen mögen, halte ich fest: Die SP hat bis heute nicht die Kraft gehabt, diesen Satz aus ihrem Parteiprogramm zu streichen; moderne sozialdemokratische Parteien in anderen Ländern haben sich davon distanziert. Cavalli: Typisch, wie Sie mit verschiedenen Begriffen um sich werfen, ohne Sie richtig zu definieren; so wird das Ganze völlig irrational. Zunächst: Marx hat vor allem eine wissenschaftliche Methodologie entwickelt, wie man die kapitalistische Gesellschaft untersucht. Er hat diese Untersuchung geführt und dabei verschiedene Gesetzmässigkeiten dieser Gesellschaft beschrieben. So unter anderem die Entwicklung von der Sklaverei über die Feudalgesellschaft zur kapitalistischen Gesellschaft hin zu einer sozialistischen Gesellschaft. Aber was für eine? Es ist fast lächerlich, wie zerstritten die sozialistischen Bewegungen immer gewesen sind. Es gibt keine absolute Lehre, ganz im Gegensatz zum Faschismus. Die skandinavische Sozialdemokratie hat ein ganz anderes Gesellschaftsmodell aufgebaut als der sowjetische Stalinismus; und auch sie beruft sich auf Marx. Herr Cavalli, will die SP Schweiz nun den Kapitalismus überwinden oder nicht? Cavalli: Das Wesen des Kapitalismus ist die stetige Vermehrung des Kapitals; Privateigentum und Marktwirtschaft hat es schon vorher gegeben. Wie viel Marktwirtschaft möglich ist in einer Gesellschaft, in der das Kapital nicht mehr vorherrschend ist, wird von Sozialisten seit jeher diskutiert. So gesehen spielt dieser Satz für uns derzeit keine Rolle. Blocher: Warum streichen Sie ihn dann nicht? Cavalli: Weil die Mehrheit der SP-Mitglieder diesen Satz immer noch als utopische Vision des Sozialismus empfindet - genau wie die Christen an den Himmel glauben. Was der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama behauptet hat, dass nämlich der Kapitalismus die letzte gesellschaftliche Entwicklung darstelle, ist pure ideologische Verblendung. Ich denke, dass sich noch andere Gesellschaftsmodelle entwickeln werden, warum nicht ein genossenschaftlicher Sozialismus? So gesehen stört mich dieser Satz nicht; er hat auch keinen Einfluss auf unsere jetzige Politik. Blocher: Herr Cavalli, Sie versuchen sich herauszureden. Sie haben erklärt, dass die Mehrheit in Ihrer Partei nach wie vor von der Überwindung des Kapitalismus träumt. Damit wollen Sie letztlich die Aufhebung von Privateigentum und Marktwirtschaft. Darum haben die sozialistischen Länder, und nicht nur die stalinistischen, das Privateigentum aufgehoben und verstaatlicht. Und auch die Schweizer Sozialdemokraten haben für dieses Vorgehen grosse Bewunderung gehabt. Man darf jetzt nicht so tun, als sei das irgendeine Nebensächlichkeit. Dass die Planwirtschaft als Alternative zur Marktwirtschaft nicht funktioniert hat, ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb die meisten westlichen Sozialdemokratien davon Abschied genommen und erkannt haben: Es kann nicht unser Ziel sein, den Kapitalismus zu überwinden. Denn erst der Liberalismus garantiert das individuelle Recht auf Privateigentum sowie die Handels- und Gewerbefreiheit für alle. Cavalli: Ein extremer Neoliberalismus, wie ihn Herr Blocher verteidigt, ist fast nur in einer Diktatur wie in Chile durchsetzbar. Und dass der erste grosse Versuch, schnell und radikal den Kapitalismus zu überwinden, in Russland gescheitert ist, hat mit der extremen Rückständigkeit dieses riesigen Landes zu tun, ein Land, das die Demokratie nie gekannt hatte und bis heute nicht kennt, ein Agrarland fast ohne Industrie, ohne Erfahrungen mit Kapitalismus und Liberalismus. Schon Marx hat anerkannt, dass der Kapitalismus im Vergleich zum Feudalismus einen riesigen Fortschritt darstellte. Nur hören wir nicht auf zu glauben, dass noch etwas Besseres kommt. Blocher: Herr Cavalli, ich möchte Sie bitten, sauber zu denken. Erstens wurde an Ihrem Parteitag für diesen Programmpunkt gekämpft, der Satz war keine Nebensache. Zweitens bleibt die Überwindung des Kapitalismus Ihr Ziel, weil viele SP-Mitglieder gar nicht auf dieses Ziel verzichten wollen. Und das werfe ich Ihnen vor; denn die Verwirklichung führt zum Absolutismus und zur Armut. Beides beweist die Geschichte. Immerhin kann man bei Marx nachlesen, dass diese Überwindung nur möglich sei, wenn eine Mehrheit diese auch wolle. Blocher: Selbst wenn die Mehrheit das demokratisch bestimmen würde, ist das absolutistisch. Wenn Sie kein Privateigentum zulassen und keine Marktwirtschaft, dann steht das Kollektiv dermassen im Mittelpunkt, dass der Einzelne missachtet wird. Es ist mein Anliegen, das auszudrücken, weil Sie, Herr Cavalli, das nicht wahrhaben wollen. Im Grunde sprechen Sie der SP rundweg ab, eine demokratisch gesinnte Partei zu sein. Blocher: Nein, aber ich stelle fest: Die SP grundsätzlich zu kritisieren, wie ich das in meiner Schrift getan habe, kommt offenbar einer Gotteslästerung gleich: Links ist so gut, dass man es auch absolutistisch durchsetzen darf. Cavalli: Die sozialdemokratische Idee ist es gerade, eine Politik im Interesse der Mehrheit zu machen. Weil wir behaupten, dass der Kapitalismus in seinen extremen Formen nur dem Interesse einer kleinen Minderheit dient und alle anderen weltweit verarmen lässt. Wir wollen auch nicht, dass - wie heute - die 380 reichsten Männer der Welt, zu denen auch Herr Blocher gehört, genauso viel haben wie die Hälfte der übrigen Menschheit. Das finden wir nicht zulässig. Das heisst doch nicht, dass wir den Leuten das Haus wegnehmen wollen oder das Auto. Blocher: Mit Ihrer Steuerpolitik tun Sie es weitgehend. Cavalli: Lassen Sie mich ausreden. Wir sind weder für noch gegen das Privateigentum und die Marktwirtschaft. Wir sagen nur: Wenn wir eine Gesellschaft wollen, in der so viele Menschen wie möglich die gleichen Chancen haben sollen, dann gibt es gesellschaftliche Bereiche, in denen der Markt sehr gut funktioniert. Und eben andere, wo er überhaupt nichts taugt - etwa im Gesundheitswesen, aber auch in der Bildungspolitik. Also muss die Frage lauten: Welches Modell funktioniert am besten im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung? Und noch etwas zum Privateigentum: Sie behaupten immer, sowohl die Sozialisten wie die Nationalsozialisten hätten das Privateigentum verstaatlicht. Der Faschismus hat das Privateigentum nie beschränken wollen. Er hat der Grossindustrie vielmehr Sklaven zur Verfügung gestellt. Er hat alles getan im Interesse der Privatwirtschaft. Blocher: Der Faschismus hat das Privateigentum nicht respektiert. Cavalli: Ach was! Blocher: Warten Sie. Das Privateigentum ist ein Schutz des Einzelnen vor der Enteignung durch den Staat. Der Faschismus hat ganzen Bevölkerungsgruppen, etwa den Juden oder den Regimegegnern, das Eigentum weggenommen. In keinem Programm der NSDAP wird das Privateigentum in Frage gestellt, im Gegenteil. Und dass die Juden enteignet wurden, hat nichts mit Sozialismus und alles mit Antisemitismus zu tun. Blocher: Tatsache ist, dass die Nationalsozialisten das Privateigentum nicht für alle geschützt und garantiert haben. Und der Sozialismus hat das Eigentum allen weggenommen. Was jetzt schlimmer ist, lassen wir beiseite. Ausserdem haben beide Systeme Meinungsäusserungsfreiheit und Gedankenfreiheit unterdrückt. Und sie haben unvorstellbar gemordet. Auch darüber gibt es nichts zu diskutieren. Die geistigen Wurzeln beider Systeme führen zum Absolutismus; darum geht es mir. Der Nationalsozialismus ist zum Glück diskreditiert bis zum Letzten; aber der Sozialismus bleibt hoch im Kurs. Cavalli: Faschismus und Sozialismus lassen sich ganz einfach auseinander halten: Der Faschismus zeichnet sich dadurch aus, dass eine kleine herrschende Schicht mit Gewalt ihre Macht verteidigt. In allen Ländern, die faschistisch geworden sind, in Deutschland, Italien, Spanien, gelang dies nur, wenn die wirtschaftlich führenden Kreise, kurz: das Grosskapital, das gewollt haben. Darum stellte der Faschismus das Privateigentum eben gerade nicht in Frage.Das hätten diese Kreise nie und nimmer akzeptiert. Wahr ist aber auch, dass die SP sich offiziell sehr zurückhaltend über die kommunistischen Regimes im Osten äusserte. Die Dissidenten dieser Länder wurden konsequent ignoriert. Cavalli: Im Rückblick ist diese Kritik sicher berechtigt. Aber man muss auch verstehen, in welchem Kontext es zu diesen braven Verlautbarungen kam: Es herrschte der Kalte Krieg, man befürchtete die atomare Katastrophe. Daher war uns jedes Mittel recht, etwas zur Entspannung beizutragen. Und ich denke, das war auch völlig richtig, man musste die Verständigung fördern. Blocher: Es geht hier nicht um Verständigung, sondern um die Bewunderung für diese Unrechtsregimes. Sie rechtfertigen alles. Cavalli: Überhaupt nicht. Ich will es bloss erklären. Zum zweiten Punkt: Es gab zweierlei Dissidenten. Die einen waren gute Demokraten, andere aber - das sehen wir jetzt, gerade im Osten - waren schlicht Nationalisten, Reaktionäre, die den Zar zurückholen wollten. Es war damals nicht so einfach, die Lage richtig einzuschätzen. Ähnliches gilt übrigens selbst für die Sowjetunion. Zum Beispiel die Befreiungskriege in der Dritten Welt: Ohne die Unterstützung der UdSSR hätten viele antikoloniale Bewegungen doch keine Chance bekommen, und viele Völker hätten sich nie emanzipiert. Blocher: Die Sowjetunion unterstützte sie aus reinen Machtinteressen. Cavalli: Selbstverständlich. Dennoch kann man das Ergebnis dieser Politik nicht einfach leugnen. Oft geschah dies unter entsetzlichen Umständen. Warum sagt die Linke nicht: Wir haben die kommunistische Unterdrückung nicht sehen wollen, und das war ein grosser Fehler? Cavalli: Ich möchte nur daran erinnern, warum so viele Linke, aber auch fortschrittliche Bürgerliche, Staatsmänner wie Roosevelt und andere, gerade die Sowjetunion zunächst ganz anders betrachtet haben. Selbst unter Stalin: Als dieser Diktator es in den Zwanzigerjahren fertig brachte, sein Land, ein rückständiges armes Land, innert fünfzehn Jahren zu industrialisieren, waren sehr viele Menschen im Westen tief beeindruckt. Von den Massenmorden wussten sie nichts. Das erinnert fatal an die Aussage, Hitler habe immerhin gute Autobahnen gebaut. Cavalli: Nein, es geht nicht um Autobahnen, sondern um die Geschichte. Und die Geschichte hat eben gezeigt, dass jede Industrialisierung Opfer gefordert hat, auch im England des 18. und 19. Jahrhunderts. Blocher: Es ist unerträglich, wie Sie die kommunistischen Gräueltaten verherrlichen. Cavalli: Unsinn. Ich verherrliche überhaupt nichts. Ich versuche bloss zu erklären, warum die Linke auf einem Auge blind war. Und wie gesagt: nicht allein die Linke. Aber wenn ein Bürgerlicher heute die neoliberalen Reformen unter Pinochet in Chile lobt, hielten Sie dies für ebenso unerträglich. Cavalli: Auch hier würde ich Ethik und Geschichte unterscheiden. Ich habe linke Freunde, die bei der Weltbank arbeiten. Die sagen mir: Pinochet war ein Metzger, keine Frage. Aber er hat, verdammt noch mal, wirtschaftlich etwas zu Stande gebracht. Und Chile ist diesbezüglich weiter als manch anderes lateinamerikanische Land. Herr Blocher, wir schreiben das Jahr 2000. Was haben Stalin, Mussolini und Hitler mit der aktuellen politischen Debatte zu tun? Blocher: Sehr viel. Meine Schrift ist eine Auseinandersetzung mit dem Sozialismus. Äusserer Anlass waren die dauernden Vorwürfe der SP, die SVP habe irgendetwas mit faschistischen Strömungen gemein. Der Grund der Schrift ist aber ein anderer: Ich möchte die Grundfrage stellen: ob unser Staat sozialistisch oder freiheitlich sein soll. Ich könnte auch liberal sagen, aber dieser Begriff ist so abgedroschen: Alle sind liberal, die SP, die Berner SVP und so weiter. Wie Franco Cavalli wurde ich politisch in den Sechzigerjahren an der Uni geprägt: Sie waren auf der damals vorherrschenden sozialistischen Seite, ich auf der freiheitlichen. Wir sind alle 68er. Während Sie Marx lasen, stützte ich mich auf die grossen Liberalen wie Ludwig von Mises, Röpke oder Hayek. Kurz, es waren grundsätzliche Haltungen, die wir uns aneigneten. Heute werden solche Grundsatzfragen in allen Parteien kaum mehr diskutiert, und daher übersieht man, wie die Grundfrage nach der persönlichen Freiheit in der Realität grundsatzlos entschieden wird. Zum Beispiel bezeichnet man das, was man dem Bürger als Einkommen belässt, als Steuergeschenk. Offensichtlich sind wir bereits so weit, dass man davon ausgeht, dass alles zuerst dem Staat gehört. Das Gegenteil ist der Fall: Alles, was der Bürger erarbeitet, gehört zunächst ihm. Cavalli: Das ist doch Wortklauberei. So wie Sie behaupten, die Nazis seien Sozialisten, weil sie sich Nationalsozialisten nannten. Wie viele Volksparteien, die sich so bezeichnen, haben mit dem Volk zu tun? Blocher: Es ist doch interessant, wie sich der Sprachgebrauch entwickelt. Das sind schleichende Tendenzen. So hat vor kurzem ein freisinniger Nationalrat, Marc F. Suter, gar vorgeschlagen, der Staat müsse entscheiden, ob ein Argument, das in einer Abstimmungskampagne vorgebracht wird, wahr oder falsch ist. Der Staat bestimmt die Wahrheit einer Meinung. Dabei sind die Menschen nicht böse, die das fordern. Cavalli: Danke. Blocher: Aber es ist verwerflich. Es verrät eine Denkweise, gegen die ich einschreiten muss. Ed zeigt, dass Sie den Menschen nichts zutrauen; Sie pflegen ein pessimistisches Menschenbild. Für einen Liberalen ist es unerträglich, wenn der Staat bestimmen soll, welche Meinung wahr ist und welche nicht. Cavalli: Aber in gewissen Fragen kann für Sie der Staat nicht genug einschreiten und verbieten: In der Abtreibung zum Beispiel, in der aktiven Sterbehilfe, bei den Drogen: Da rufen gerade Sie lauthals nach dem Staat. Im Grunde sind Sie es, auch wenn Sie das Gegenteil behaupten, der ein pessimistisches Menschenbild hat. Sie glauben nicht an das Gute im Menschen. Blocher: Lassen Sie mich das begründen: Nach meinem Staatsverständnis muss der Staat Leben schützen. Wenn er dies nicht tut, schlägt der Stärkere den Schwächeren zu Tode - willkürlich. Als schützenswertes Leben gilt für mich auch das ungeborene. Daraus erkennen Sie auch, dass ich nicht einen unbegrenzten Liberalismus befürworte: Ich bin kein Anarchist. Aber die Sozialisten sind die Pessimisten, weil Sie mit ihrer Ideologie den Menschen von der Wiege bis zur Bahre betreuen, schützen und bevormunden wollen. Cavalli: Kein Sozialdemokrat sagt so etwas. Blocher: Aber sie tun es. Alles, oder fast alles muss nach Ihrer Auffassung geregelt werden, weil die Menschen es sonst nicht selber schaffen. Cavalli: Ich möchte auf diese Vorwürfe gar nicht weiter eingehen. Sondern bloss festhalten: Herrn Blocher geht es in erster Linie darum, eine gewissermassen irrationale Stimmung in der Öffentlichkeit herzustellen. Auch seine Schrift dient diesem Zweck: Die Bürger wissen bald nicht mehr, was wahr oder falsch ist - können nicht mehr rational entscheiden. Alle wissen zum Beispiel, dass die Sozialdemokraten in ihrer überwiegenden Mehrheit antifaschistisch eingestellt waren. Darüber besteht weder in der historischen Forschung noch in der Öffentlichkeit ein Zweifel. Blocher stellt diese Tatsache einfach auf den Kopf und behauptet das Gegenteil. Das verwirrt die Menschen, und darum geht es ihm. Herr Blocher, Sie kritisieren vergangene SP-Kontakte mit kommunistischen Regimes. Gleichzeitig machen Sie heute Geschäfte mit China - und helfen mit, ein kommunistisches Regime zu stabilisieren, ein Regime, das systematisch die Menschenrechte verletzt. Blocher: Ich kritisiere nicht vergangene SP-Kontakte, sondern die Bewunderung der kommunistischen Regimes. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, allein mit guten Menschen oder anständigen Ländern Geschäfte zu machen. Dies bedeutet aber nicht, dass ich die dortigen Verhältnisse bewundere. Ich lehne kommunistische Systeme ab. Aber wegen Kontakten verurteile ich niemanden. Unterstütze ich mit meinen Geschäften das chinesische Regime? Die gleiche Diskussion führten wir früher in Bezug auf den Osthandel. Soll man mit dem Ostblock wirtschaftliche Beziehungen pflegen oder nicht? Ich war auch damals der Meinung, man sollte dies tun. Denn die Erfahrung zeigt, dass der freie Handel absolutistische Regimes meist untergräbt. Handel führt immer zu Beziehungen - und man kann diese nicht in wirtschaftliche oder politische oder kulturelle aufspalten. Beziehungen sind Beziehungen - man macht ein Geschäft, und bald redet man auch über Menschenrechte und über Politik. Dem widerspricht zum Beispiel Amnesty International: Bis heute hat sich die Menschenrechtssituation in China in keiner Weise gebessert - trotz der Tatsache, dass es seit 1983 westlichen Handel und westliche Fabriken zulässt, die dann die Arbeiter zu oft härtesten Bedingungen schuften lassen. Blocher: Ich selbst erlebe in China das genaue Gegenteil. Doch ich halte es ohnehin nicht für meine Aufgabe, in China andere Verhältnisse herzustellen - übrigens auch in Amerika. Mir gefällt die Todesstrafe in den USA auch nicht. Trotzdem mache ich in Amerika Geschäfte. Können Sie diese Position nachvollziehen, Herr Cavalli? Cavalli: In der Tat ist der Fall China gar nicht so einfach. Je rückständiger ein Land ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es autoritär oder undemokratisch regiert wird - das zeigt die historische Erfahrung. So gesehen ist es zu begrüssen, wenn sich China wirtschaftlich - auch mit Hilfe des Westens - entwickelt. Das schafft immerhin die Möglichkeit, dass sich einmal demokratischere Verhältnisse einstellen. Doch dies ist keine zwingende Folge - wohlverstanden. Einen anderen Fall stellte Südafrika dar: Hier war offensichtlich, dass jede wirtschaftliche Entwicklung bloss das Apartheid-Regime stabilisiert. Daher waren wir für den Boykott. Blocher: Das ist nicht wahr. Die multinationalen Unternehmen haben sehr viel dazu beigetragen, dass die Apartheid überwunden wurde. Gute Politiker sind zu Selbstkritik bereit. Was bedauern Sie im Nachhinein? Was haben Sie in der Debatte der vergangenen Monate falsch gemacht? Blocher: Ich sehe nicht ein, warum öffentlicher Streit ein Unglück sein soll. Im Gegenteil, Konflikte werden zu selten ausgetragen, zu oft und zu früh beigelegt. Mir ging es darum, eine meiner Meinung nach verhängnisvolle Entwicklung zum Thema zu machen: Die schleichende Versozialisierung unserer Gesellschaft. Dies ist mir nur teilweise gelungen. Ich müsste das Thema in Zukunft noch viel stärker lancieren, noch breiter streuen. Das als Kritik an meinem Vorgehen. Cavalli: Selbstkritik? Nur zum Teil. Ich glaube, es war völlig richtig, dass sich unsere Partei gewehrt hat. Denn viele Leute schienen bald zu glauben, was Blocher behauptet. Seine Vorwürfe, seine Vergleiche waren für uns schlicht inakzeptabel. Deshalb haben wir von der SVP eine Klarstellung, eine Distanzierung verlangt. Und Parteipräsident Ueli Maurer hat diese zu unserer Befriedigung auch geleistet. Was aber haben wir falsch gemacht? Ich bedaure, dass es uns bisher nicht gelungen ist, eine eigene Gegenschrift zu verfassen. Ich hoffe, dass wir sie noch zu Stande bringen.
24.06.2000